Samstag, 30. Juli 2016

Weltmeister im Leiden










Er guckt diese spanische Serie, El ministerio del tiempo, oder auf Deutsch das „Ministerium der Zeit“. Da wo die in der Zeit rumreisen, um berühmte Persönlichkeiten der spanischen Geschichte zu retten. Don Quijote, Picasso, Dalí, Lorca, den Cid. Und in einer Folge sagt der Leiter des Ministeriums zu einem seiner Mitarbeiter, der noch immer schwer am Tod seiner Frau in einem Verkehrsunfall zu knabbern hat: „Du glaubst von dir selbst, du bist der campeón del sufrimiento, der Weltmeister des Leidens, der Weltmeister des Leides...im Leiden.

Und irgendwie ist dieser Satz hängengeblieben. Irgendwie. Kommt immer wieder hoch. Und wenn ein Satz hängen bleibt, dann ist er wichtig. Nicht nur, weil du immer noch das Ministerium der Zeit guckst. Und wenn etwas immer wieder hochkommt…dann will es raus.

Das ist so wie das, was Stephen King über das Schreiben und die Ideen für neue Geschichten gesagt hat. Er schreibt sich nie etwas auf. Selbst wenn er eine grandiose Idee hat… Erst, wenn eine Geschichte sich ihm aufdrängt, wenn er immer wieder daran denken muss, wenn sie eben „hängen bleibt", dann ist sie wichtig genug, von ihm niedergeschrieben zu werden.

Und bei dir ist das dieses Gespräch aus der Serie. Dieser Satz: „Miguel…du denkst, du bist der Weltmeister im Leiden."

Du bist auch so ein kleiner Weltmeister im Leiden. Denkst, du wärst der Einzige, der Probleme hat. Der Einzige auf dieser Welt. Der Einzige, der ein Opfer ist. Der Einzige, der Post after Post darüber schreibt, wie sehr ihn das Verlassenwerden, der Verrat seiner Ex verletzt hat. Der Einzige, der allein ist, der einsam ist, der niemanden hat, dessen Leben Scheiße ist…

Aber das bist du nicht, genau wie der Typ aus der Serie das nicht ist – obwohl er es glaubt. Du bist eigentlich gar nicht allein. So toll bist du auch nicht. Dass du der Einzige wärst. So besonders. Denn es gibt ganz viele Weltmeister im Leiden. Alle auf Platz eins. Alle ganz oben auf dem Treppchen. Alle haben eine Goldmedaille, einen Pokal, eine Urkunde…

Und alle sitzen alleine im stillen Kämmerlein.

Und genau da liegt das Problem: Wir leiden alle allein. Wir sitzen alle im stillen Kämmerlein und leiden alleine vor uns hin. Schreiben uns unsere Sorgen vielleicht sogar auf. Führen ein Leidens-Tagebuch, ein Sorgenbuch, ein Angstbuch. Oder machen uns die ganze Zeit Gedanken. Tagein, tagaus. Denken immer wieder über alles nach. Über alles und jeden. Jede Kleinigkeit. Jedes Detail löst in uns wahre Gedankenströme aus, Gedankenfluten, die wir nicht lösen können – alleine. Und genau deswegen, weil wir es doch versuchen (obwohl wir wissen, dass wir es nicht können), kommen die Gedanken immer wieder hoch. Wir sind sozusagen psychische Wiederkäuer, jeder für sich alleine. Weil wir uns schämen, für das, was wir sind, was wir geworden sind, was wir falsch gemacht haben, einfach für alles. So sind wir. Wir campeones… campeones…! Wir trauen uns nicht, uns zu verbinden, zu anderen Leidenden, anderen Weltmeistern in Kontakt zu treten, Networking zu betreiben, wie man das Auf Neudeutsch so schön nennt.

Wir sitzen lieber alleine im stillen Kämmerlein und leiden vor uns hin. Weil man uns schon von klein auf darauf abgerichtet hat, genau das zu tun. Wir erzählen unsere Probleme niemandem. Weil wir niemanden haben (und sagen Sie nicht, man hat  immer jemanden, denn das stimmt nicht…immer). Er zum Beispiel hat niemanden und er ist bestimmt nicht der Einzige auf dieser Welt. Er ist bestimmt nicht der (einzige) Weltmeister im Leiden. Bestimmt ist er nur Durchschnitt. Kreisklasse. Regionalliga.

Nur Leute, die leiden, die reden nicht einfach so über ihr Leid, die binden das nicht jedem gleich auf die Nase, die tun so als ob, die halten die Fassade aufrecht, die schweigen lieber. Oder sie blitzen immer wieder ab, weil ihnen eh nicht zugehört wird. Weil sie unangenehm sind, aufdringlich, nicht „normal“, penetrant, nervig, zu intensiv, anstrengend, zu sensibel und weil sie einen wütend machen. Weil die Leute das nicht hören wollen. Fick die Leute! Die Leute wollen nicht hören, was sie zu sehr an ihren eigenen Leidensweg erinnert, an ihr eigenes Scheitern. Sie wollen „schöne“ Geschichten hören. „Nette“ Geschichten, am besten mit Happy End! Sie wollen den Scheiß nicht hören, das Leiden anderer Weltmeister im Leiden. Das ist so, wie das, was dein Vater dir im Krankenhaus gesagt hat, damals. Der doppelte Bypass hält ihn doch nicht davon ab, dich noch runterzumachen. Oder?! Ihn doch nicht! Auf dem Sterbebett würde er wahrscheinlich noch sagen: „Sohn, du bist nichts. Du hast niemanden. Deine Frau ist weggelaufen…und um ehrlich zu sein: Ich kann sie verstehen! Selbst deine Tochter besucht dich fast nicht mehr.“ Auf jeden Fall, damals im Krankenhaus, da sagte er wortwörtlich, mit diesem abfälligen Tonfall, den du nur allzu gut aus deiner Kindheit und Jugend kanntest: „Das will doch keiner lesen, was du schreibst. Die Leute wollen „schöne“ Geschichten. Und nicht das.“ Ein Mann, der in seinem Leben keine fünf Bücher gelesen hatte, sagte dir was gute Literatur ist. Der du tausende von Seiten auf Englisch und Spanisch gelesen hast! Sagte dir, was die Leute wollen. Als ob du ein kleines Kind wärst. Als ob du nicht Literatur studiert hättest. Und das Beste ist: Du hast es dir zu Herzen genommen. Wie so viel, was du dir nicht hättest zu Herzen nehmen sollen. Es aber getan hast. Es runtergeschluckt hast, wie eine Prostituierte Sperma, obwohl du nicht wolltest, obwohl du es hättest eigentlich besser wissen sollen…müssen.

Aber so sind wir. Wir Leider. Wir sind Masochisten. Nicht im sexuellen Sinne, wie sein Kollege, Herr Baden, das einmal hervorgehoben hat, nachdem er seine Leidensgeschichte genüsslich zu Ende gehört hatte.

Und die anderen? Die, die nicht oder nur wenig leiden, die sind keine Masochisten. Wenn schon, dann Sadisten. Die sind eine Masse, ein Block. Die halten zusammen. Die haben Freunde. Die haben Familie. Die haben Bekannte. Die haben Geliebte. Die finden schnell Anschluss. Oder zumindest kommt es uns in unserem unendlichen Leid so vor. Die lachen gemeinsam, die feiern, die gehen raus, die geben sich ihre Telefonnummern, rufen sich an, die genießen das Leben. Weil sie „locker“ bleiben. Weil sie „cool“ sind. Weil sie nichts an sich heranlassen. Weil sie sich für nichts einen Scheiß interessieren. Das kratzt die einfach nicht. Egal, wie sehr wir denken, dass es sie genauso berührt wie uns, das tut es nicht! Egal, wie sehr wir denken, dass sie genauso über die Dinge nachdenken wie wir, das tun sie nicht. Oder wahrscheinlich nicht.

Und wir sind weiter alleine, ganz alleine, unverstandene Weltmeister im Leiden. Jeder für sich. Keiner weiß vom anderen, obwohl er ihm vielleicht helfen könnte. Ihn vielleicht anders als Eltern, Kinder, Freunde, Bekannte, Verwandte verstehen könnte. Und so sitzen wir da, jeder für sich, jeder in seinem Gefängnis, jeder am Leiden wie ein Weltmeister. Weil wir arm sind. In der Spaßgesellschaft. Weil wir nicht wissen, wie wir über die Runden kommen sollen…weil wir Schulden haben…keine „schöne“ Wohnung…kein Haus…keine Yacht…kein Auto…weil wir einsam sind…weil wir niemanden haben, der uns zuhört, uns tröstet, uns berührt, uns fickt…weil wir schüchtern, gehemmt, verklemmt sind… weil wir hässlich sind…oder das denken…weil wir überhaupt immer zuerst daran denken, was die anderen über uns denken könnten (ohne das natürlich genau zu wissen)…weil wir gemobbt worden…werden…ignoriert werden…nicht für „voll“ genommen werden (obwohl wir doch voller Alkohol oder Drogen sind)…weil wir Außenseiter sind…Opfer von Missbrauch…weil wir verlassen worden…viel zu früh verlassen worden…von allen guten und schlechten Geistern verlassen worden…nicht geliebt worden…weil wir ein Kindheitstrauma haben…weil wir anders sind…trauriger…depressiver…bipolarer …schizophrener…mutistischer…ach, einfach anders (und jetzt lass mich in Ruhe)…weil wir nicht dazugehören (das noch nie getan haben)…weil wir keine Freunde haben…keine netten Nachbarn…weil wir arbeitslos sind…weil wir die falsche Arbeit haben…weil wir ständig unglücklich sind (wer will schon mit „so jemandem“ zusammen sein, geschweige denn reden?!)…weil wir Arschlöcher sind…weil wir gemein sind…richtig fies…weil wir alt sind…oder werden…gebrechlich…weil wir Angst vor allen haben…weil wir Angst vor dem Tod haben.


weil wir…

…kreativer sind…

…schlauer

…schöner…

…sensibler

…intelligenter…

…feingeistiger…

…weiser…

…ehrlicher…

...nachdenklicher…


Boah, wenn wir aufhören würden zu leiden…

Wir alle…

Oder zumindest mit all unserem Leid, unseren Sorgen, unseren Ängsten nach oben kommen würden, wenn wir alle hochkommen würden aus dem stillen Kämmerlein…

…an die Oberfläche…

…an die Öffentlichkeit…

Wenn wir alle unsere Geschichte erzählen würden…

…boah…

…dann…