Heute hast du frei – obwohl:
von deinem Kopf hast du ja nie frei. Also stehst du um 9 Uhr auf und gehst auf
Klo. Et drückt. Wenn et drückt, dann musst du…kacken (und das ist nicht
witzig). Das heißt: Erst mal musst du pissen, denn Pissen kommt immer vor dem
Kacken. In letzter Zeit bleibt dazwischen auch irgendwie immer weniger Zeit,
denn…et drückt. Also streifst du dir die Unterhose runter, kneifst die
Arschbacken zusammen, holst schnell in kleinen Trippelschritten den Laptop, und
dann den Hocker, den du auf den Küchenstuhl vor der Kloschüssel stellen musst,
damit der Laptop ungefähr auf Augenhöhe steht. Ich weiß, das klingt nicht so,
aber das hat System! Schaffst es gerade so noch, bevor es losgeht. Ach ja, Pipi
hast du übrigens schon gemacht – trotz Morgenlatte. Und noch bevor du den
Computer angeschaltet hast, geht’s los (die Details erspare ich Ihnen jetzt…).
Danach wischst du dir den Arsch ab und willst dich eigentlich anziehen, um
Laufen zu gehen. Aber als du wieder in deine Unterhose und die dazugehörige
Blümchenshorts schlüpfst, hörst du schon das Plätschern draußen. Scheiße, es
pisst. Scheiße! Und das tut es wirklich…und wie… In Strömen. Das ist echt voll
der Dschungel hier, in Deutschland. Also wartest du und gehst dann Laufen. Mit
Regenschirm. Durch den Wald. Durch den deutschen Psychoregen (nicht genug, um
den Schirm aufzumachen und zu viel um den Schirm zuzumachen). Das ist echt, als
würde da oben jemand sitzen, der exklusiv dich ärgern wollte…
Nach dem Laufen jib et Frühstück.
Kalte Hühnerbrühe von gestern (die kühlt ab und du schwitzt nicht so viel in
die Pfanne mit den Rösti-Ecken und den restlichen Knusper Gockelchen rein.
Obwohl das voll geil ist: Denn jedes Mal, wenn ein Schweißtropfen von deiner
Stirn in die Pfanne fällt, zischt das Hammer…
Nach dem Essen schläfst du ein
bisschen (so ungefähr zwei Stunden), wachst dann langsam auf und liest die
Bild. Stößt auf diesen Artikel über Marina Joyce, diese Mode- und Schmink-YouTuberin,
die in letzter Zeit so seltsam sein soll. In ihren Videos. Das musst du
natürlich gleich recherchieren. Also auf zu YouTube. Und das stimmt irgendwie.
Die ist schon komisch, obwohl die eigentlich voll geil aussieht. Für eine
Engländerin zumindest. Wie hat das dein Kumpel Miro damals in Schottland so
gewählt ausgedrückt: „Die Frauen sehen hier alle aus wie Schnitzel.“ Also, wie
ein Schnitzel auf Beinen sieht die nicht so richtig aus, mit ihren riesigen,
blauen Augen. Aber glücklich auch nicht, wie sie dieses Kleid im Garten dieses
typisch englischen Backsteinhauses in der Vorstadt von London präsentiert.
In dem Video Date Outfit Ideas. Manchmal bekommt ihr Blick so etwas Abwesendes, etwas Ängstliches, was
irgendwie voll krass wirkt. So als wär sie nur halb da. Die Diskussionen um
diese Videos schossen tatsächlich so ins Kraut, dass die sogar die Polizei gerufen
haben. Die war dann wirklich bei der (mehrmals!), um sich zu vergewissern, dass
es der wirklich gut geht. Die Polizei hat auch nichts Besseres zu tun, denkt
er! Vielleicht sollte er die mal seiner Tochter empfehlen, die ist wirklich
nicht schlecht. Aber schon krass, wie die guckt. Augen riesig und diesen vagen
Ausdruck von Angst, Unsicherheit im Blick. Spannend! Er liest: Manche
spekulieren, dass sie Drogen nimmt, weil sie auf verschiedenen Raves gesehen
wurde. Andere sagen, sie sei schizophren (Hammer, auf was die Leute kommen,
ohne jemanden wirklich zu kennen oder irgendwelche gesicherten Diagnosen zu
haben. Krass, ne!? Dass sie misshandelt wird…von ihrem Freund, ihrer Familie,
ihrer toten Großmutter, suchen Sie sich was aus. Da ham sogar welche behauptet,
die sei von dem IS entführt worden und solle möglichst viele Follower an einen
Anschlagsort locken. Geil, ne?! Und das Geilste ist: Wenn du das so liest,
denkst du: Boah, da bin ich ja sogar noch relativ normal… Relativ. Alles ist relativ.
Oder um deinen Vater zu zitieren: „Pervers ist eine Abweichung von der Norm,
aber wer kann die Norm schon bestimmen…?!“ Da war er immer ganz stolz drauf, auf
diesen Spruch, obwohl der heute, jetzt im Nachhinein schon ziemlich gruselig
daherkommt (nur so am Rande…). Du guckst dir einen fetten Typen mit
undefinierbarem Akzent (ist der jetzt Engländer oder nicht?) an, der über alles
Mögliche spekuliert (dass er nicht noch den Geist der toten Großmutter aus der
Truhe holt, ist schon fast ein Wunder!). Aber irgendwie überzeugt dich das
alles noch nicht – ist aber spannend genug, um nicht wieder einzuschlafen.
Boah, früher hatte ich ein Leben! (Nein, hattest du nicht, da hast du genau das
Gleiche gemacht, an deinem freien Tag! Okay…). Also guckst du dir noch ein Video
von ihr selbst an (nicht von irgendwelchen fetten, undefinierbaren
Kommentatoren, die sowieso nur Scheiß labern). Und dieses Video hat es in der
Tat in sich. Du weißt nicht, was du davon halten würdest, wenn sich deine
Tochter diese YouTuberin angucken würde – obwohl der britische Akzent so geil
ist und die Alte auch nicht schlecht (Anfang 20, kleine Tittchen, tiefblaue
Psychoaugen, ein hübsches Gesicht…). In dem Video, das den für Schmink- und
Modetipps eher untypischen Namen Near Death Experience trägt, sitzt Marina Joyce in ihrem (?) Schlafzimmer, auf
ihrem Bett (nein, das ist kein Porno-Video, eher genaue Gegenteil davon!),
neben sich den Laptop. Auf dem Bett liegt eine violette Decke, die perfekt zu
dem etwas helleren, aber ebenfalls violetten Wollpulli, den Marina trägt,
passt. Im Hintergrund ist ein Katzenkissen, das einen mit großen Augen
anzustarren scheint (ich mag Katzenmenschen, auf jeden Fall besser als Hunde!).
Marina trägt eine rote Rosa hinter dem Ohr, ihre Haare sind wie immer perfekt
frisiert und ihre blauen Augen werden durch die schwarze Umrandung noch blauer.
Aber das ist kein Schminkvideo. Das wird dir schnell klar! Sie scheint echt
aufgewühlt zu sein, redet von seltsamen, verrückten Erfahrungen, die sie vor
kurzem gemacht hat, ihrem „geheimen Leben“, der Absurdität…ja, von was
eigentlich! Und das ist der Trick: Das sagt sie nämlich in 9:23 nicht!
Stattdessen sagt sie, dass sie im Februar geboren ist. Wassermann, wie du! Dat
sinn die schlimmsten. Aber irgendwie kannst du dich auch mit dem
identifizieren, was sie sagt. Marina Joyce, die Schminktante aus London! Aber
wenn sie davon redet, dass sie stärker dadurch geworden ist, was sie durchgemacht
hat, aber was sie nicht genau sagen will. Und zu heulen anfängt. Also: Entweder
sie ist eine gute Schauspielerin oder… Das willst du dir gar nicht ausmalen,
daran willst du gar nicht denken. Sie fühlt sich so alleine (genau!), da nur
sie alleine weiß, wie hart diese Erfahrungen waren (I’m feeling you, Marina, I really do!). Mich versteht auch keine Sau,
wie sehr ich unter der Trennung von meiner Frau gelitten habe, keine Sau, echt,
so als hätten die alle keine Gefühle oder ich zu viele oder keine Ahnung. Wie hart ich kämpfe, um eine stärkere Person
zu werden…wem sagst du das, Schnucki?! Ne, aber echt, ernsthaft… Du warst
zwar nie, wie Marina Joyce sagt, the happiest
person in the world, auch früher nicht, wo du noch halbwegs ganz warst,
halbwegs whole. Wild mit den Armen
gestikulierend, sagt sie mit dramatischer, tränenreicher, ja fast schon
hysterischer Stimme: …das Gefühl, dass
ich nicht mehr am Leben wäre... Und dich beschleicht auch so ein Gefühl:
Nämlich, dass sie über den Tod redet. Und darüber, wie man sich fühlt, wenn man
weiß, wenn man sich bewusst wird, dass man sterben muss, dass das Leben endlich
ist. Dass man einfach irgendwann nicht mehr da ist. Das kannst du schon
verstehen, selbst, wenn das nicht echt ist, wie manche Kommentatoren behaupten.
Selbst dann, dann ist das schon eins der echtesten Gefühle, die es gibt, Im
Leben. Also, warum sollte das nicht echt sein, warum sollte die das nicht
fühlen dürfen?! Nur, weil sie Schmink-, Dating- und Modetipps gibt?! The meaning of life, sagt sie, die Bedeutung des Lebens…es ist die Kunst,
die dich möglicherweise retten kann…Leute können über Depressionen, über PTSD, über Angststörungen oder Panikattacken hinwegkommen…wenn
sie sehen, wie schön das Leben ist… Die Kunst kann Leute retten… Weiß nicht…aber...
Du guckst dir die Kommentare
an und findest einen, der sagt, dass sie weiß, worüber Marina redet. Nämlich,
dass sie ANGST VOR DEM TOD hat (und die Großbuchstaben sind nicht von mir,
sondern von der Autorin des Kommentars!). Und du denkst: Hey, stimmt! Das hast
du auch gedacht, als du das gehört hast! Hey, du bist nicht der Einzige, obwohl
du das immer denkst. Du bist nicht der campeón
del sufrimiento, wie das letztens dieser Typ, der Leiter des „Zeitministeriums“
in der gleichnamigen spanischen Serie gesagt hat. Du bist nicht der Weltmeister
im Leiden. Alle leiden. Wir alle leiden. Ihr
alle leidet! Unter dem Tod, unter der Liebe, unter den Gefühlen oder dem
Ausbleiben derselben. Darunter, dass wir sterblich sind, dass wir irgendwann
gar nicht mehr da sind, überhaupt nicht mehr, nie wieder
Ach ja, irgendwo dazwischen,
irgendwo zwischen schlafen, auf den Klo gehen, essen, laufen hast du auch noch
die Mail deiner Tochter gelesen: Komme
erst am Samstag, spät. Auf Deutsch: Sonntag ist auch nicht drin. Also erst
Montag, wie das Wechselmodell das vorsieht. Bin begeistert. Ne, aber echt: Ich
liebe es von meiner Frau und Tochter getrennt zu sein…!
Aber wenigstens hat das
einen Vorteil. Du musst keine Antwort mehr schreiben…
Wenn das jetzt deine Tochter
wär, Marina Joyce meine ich, dann würdest du dir echt Sorgen machen…warum
machen sich die ihren Eltern eigentlich nicht?! Oder machst du dir zu viele...
Obwohl: Fürsorge ist ein klares Zeichen, das man kein Narzisst ist. Zumindest kein hoffnungsloser, haha...