Dienstag, 30. August 2016

Goya in Deutschland










Er steht in der Bahn und wartet darauf, dass die Türen sich endlich öffnen und er aussteigen kann. Er blickt in die nach oben, nach vorne gereckten Gesichter der Leute, die an der Tür stehen und wissen wollen, warum der Fahrer die Tür noch nicht freigegeben hat. Unfreiwillig erinnert ihn die Szene an Goya.

Keine Ahnung warum.

Oder doch, vielleicht: Es sind die Gesichter. Die kleinen, zusammengekniffenen Augen, die Knollennasen, die gelblich-graue Haut, die die Leute fast schon verzerrt wirken lassen. Braune Gesichter, die schon fast wie gegerbt aussehen. Wie altes Leder.

Wie die Gesichter bei Goya. Auf den Bildern seiner „schwarzen Periode“. Die er gegen Ende seines Lebens gemalt hat. Als er fast schon taub war. Oder blind. Oder was auch immer. Die er für niemanden außer sich selbst an die Wände seines Hauses gemalt hat. An die Wände der „Quinta del sordo“, des „Landhauses des Tauben“, mit dem – was für eine Ironie des Schicksals – noch nicht mal er selbst gemeint war, sondern der vorherige Besitzer. Die letzten Bilder, die für kein Publikum bestimmt waren, die keiner sehen sollte, keiner sehen durfte, außer er selbst, in den dunklen Nächten seiner letzten Jahre. Die erst lange nach seinem Tod in mühevoller Kleinstarbeit von den Wänden des Hauses abgetragen und auf Leinwand übertragen worden. Auch die Quinta del sordo selbst gibt es schon lange nicht mehr. Wollte er nicht, dass irgendjemand sie sieht, weil sie zu ehrlich waren? Nicht nur für seine Zeit, sondern für alle Zeiten? Weil sie das Leben so darstellten wie es ist, wenn man es all seiner Illusionen beraubt?

Einmal hat er sie sogar schon selbst gesehen, in echt, diese düsteren, monumentalen und eigentümlich kraftvollen Bilder. In Madrid, im Prado. Wo er mit seiner Frau und seiner Tochter Urlaub machte. In besseren Zeiten, in denen ihn die Leute, die er in der Bahn, an der Haltestelle, im Supermarkt traf, noch nicht an so Goya erinnerten. Oder zumindest noch nicht so stark wie heute, in diesen dunklen Zeiten. Die hatten sogar das Licht leicht abgedunkelt, in dem Raum, in dem Goyas „schwarze“ Gemälde ausgestellt waren. Damit sie besser zur Geltung kamen, damit sie authentischer wirkten, neben all diesen halbnackten Darstellungen Christus-Figuren und Engeln, die sonst so den Prado bevölkern. Kennt man eine, kennt man sie alle. Aber all diese dunklen Goyas, die dem sonst so sonnigen, so lebenslustigen Spanien diametral zu widersprechen schienen, die waren schon beeindruckend. All diese verzerrten Gesichter, diese offene oder nur oberflächliche verhohlene Grausamkeit, Gehässigkeit, Angst, diese Verzweiflung, diese tiefen, dunklen Gefühle.

Aber irgendwie war er gleichzeitig auch ein bisschen enttäuscht – er hatte sich so lang schon darauf gefreut, Goya endlich einmal in natura zu sehen. Irgendwie gaben die Bilder ihm „in echt“ nicht so viel. Das lag bestimmt nicht an Goya und seinen Gemälden selbst – obwohl er die Hexe, die einen angeblich direkt anstarrt, einem angeblich direkt in die Augen, in die Seele guckt, nicht gefunden hat, auf dem Gemälde mit dem schaurig-schönen Titel „Hexensabbat“. Nein, deswegen war er nicht enttäuscht, sondern vielleicht war er einfach nicht in der Stimmung für Goya, in seinem hart erarbeiteten und wohl verdienten Urlaub, bei 35-40 Grad im sommerlichen Madrid.

In Deutschland, im Alltag seines kleinen, grauen Lebens, wäre das sicherlich etwas ganz anderes gewesen; Goya zu sehen. Der Hexe direkt in die Augen zu gucken… Was, wie gesagt, in echt gar nicht so toll ist.

Die hatten sogar das Lieblingsbild seiner Frau, der er noch immer hinterhertrauert, obwohl er sich das natürlich nicht eingestehen will. Das – passend zum Naturell seiner Frau – nicht ganz so dunkel, nicht ganz so düster ist wie die Bilder, die er immer so anziehend fand. Das Lieblingsbild seiner Frau ist…war…das, wo dieser kleine Hund im Treibsand versinkt. Unter einem Himmel, der auch eher an einen grau-braunen Sandsturm erinnert als an einen typisch spanischen Himmel. Der kleine, quirlige Hund, der nichtsahnend in den Treibsand gekommen ist und jetzt ums Überleben kämpft, obwohl er weiß, dass der Kampf aussichtslos ist.

Obwohl: Weiß der Hund das überhaupt?! Spürt er das? Oder denkt er gar rational darüber nach?

Man weiß es nicht, würde Alexander jetzt mit diesem ihm eigenen, geheimnisvollen Gesichtsausdruck sagen. Alexander, sein ehemals bester Freund.

Du selbst hast dich immer mehr mit dem Hexensabbat identifiziert. Wo der Teufel in Pferdegestalt inmitten all dieser sich um ihn herum kauernden, von Dunkelheit und Leben verzerrten Gestalten sitzt, die sich ängstlich nach allen Seiten umschauen; so als erwarteten sie das Jüngste Gericht. Oder nichts mehr vom Leben.

Oder nichts mehr vom Leben?

Oder mit dem Gemälde, auf dem dieser Vater seinem Sohn voller Verzweiflung den Kopf abbeißt. Oder abreißt? Das mochtest du insgeheim immer, obwohl man es kaum angucken kann, ohne nicht irgendeine Art des Ekels, des Horrors, des Horrors, des Grauens, des Grauens zu empfinden. Du mochtest sie schon immer, diese schwarzen Bilder.


Aber im Endeffekt kann man sich natürlich auch fragen, was düsterer ist? Zu wissen, dass man aus dem Treibsand nicht mehr rauskommt oder das Wissen um die dunklen, unbewussten Seiten des Lebens.

„Was hätte Goya wohl in Deutschland gemalt?“ hat er Nadine damals gefragt. Immer wieder. Fast schon penetrant.
„…wenn er in Deutschland gelebt hätte…? Hätte er da auch diese Bilder gemalt? Hätte er da auch gemalt?“ fragte er sie direkt nach der Ausstellung, im Freien, in der Sonne Madrids, während sie langsam über diesen kleinen Touristenmarkt im Park vor dem Museum schlenderten, sich T-Shirts anguckten. Damals hat er das noch im Spaß gefragt. Aber heute hat die Frage schon einen ernsteren Hintergrund, wenn er so darüber nachdenkt.

Selbst nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat er das manchmal noch gefragt: „Was hätte Goya wohl gemalt, wenn er in Deutschland gelebt hätte? Das Gleiche? Oder wär er hier gar nicht zum Malen gekommen? Hätte direkt aufgegeben. Seine brotlose Kunst.“

(Schwarze Perioden will doch eh keiner sehen, mein Sohn. Die Leute wollen fröhliche Geschichten, die gut ausgehen…)

Er hat nie eine Antwort bekommen. Eine nur halbwegs zufriedenstellende Antwort. Nur Schweigen; und später vielleicht sogar verdrehte Augen

Aber das hat in nicht gestört. Er hat einfach weitergeredet: „In Deutschland wäre Goya wahrscheinlich schon vor dem ersten Pinselstrich verzweifelt. Oder verrückt geworden. Oder er hätte die Leinwand komplett schwarz bemalt, komplett in schwarze Farbe getaucht und das war’s dann. Danach wäre er in seinen Bürojob zurückgekehrt und wäre immer frustriert immer älter geworden…“ (und wahrscheinlich hätte sich seine Frau auch noch irgendwann von ihm getrennt…und einen Neuen, nicht ganz so philosophischen, nicht ganz so künstlerischen Sachbearbeiter oder Kaufmann geheiratet)




Aber vielleicht kann man das ja auch gar nicht miteinander vergleichen. Vielleicht ist das ja wie mit den Äpfeln und den Birnen. Vielleicht kann man ja Spanien im angehenden 19 Jahrhundert und Deutschland im schon angebrochenen 21. Jahrhundert gar nicht miteinander vergleichen.

Oder vielleicht doch?

Vielleicht hätte er seine Bilder ja auch haargenau so gemalt wie in Spanien, wäre genauso taub geworden und fast sogar blind (die Höchststrafe für einen Maler – oder ein Segen?), wäre am Ende genauso gestorben, in die Dunkelheit gegangen, die ihn schon sein ganzes Leben nicht loslassen wollte, ihn umgeben hat wie ein treuer Freund, eine Frau, eine Geliebte. Genau wie Beethoven – der größte Sohn dieser, seiner schrecklichen Heimatstadt –, der am Ende seine Lebens in die akustische Dunkelheit eintrat.

(irgendwo habe ich einmal gelesen, dass der letzte Sinn, den man verliert, bevor man stirbt, der Hörsinn ist)

So kriegt jeder am Ende das, was er verdient und wahrscheinlich fällt mir irgendwann die Hand ab, bei dem ganzen Scheiß, den ich hier schreibe. Genau wie deine Mutter das damals schon prophezeit hat: „Wenn du die Hand gegen deine Eltern erhebst, fällt sie dir irgendwann ab!“ Und du dachtest tatsächlich das wär war. Oder die Zunge fällt dir aus, wenn du zu viel redest. Oder was auch immer.


wahrscheinlich kommt Nadine in eine Hölle, wo sie nicht mehr aufhören kann zu quasseln, so viel wie sie schweigt, wo sie gezwungen ist, sich den ganzen Tag das Leid ihres verflossenen von vielen kleinen und  großen Teufelchen einflüstern zu lassen














Donnerstag, 25. August 2016

Wiedersehen











Ich weiß nicht, ob sie glücklich ist.
Vielleicht ist sie es ja und ich rede mir das nur ein.
Dass sie unglücklich aussieht.
Das ist nur so ein Gefühl
Und Gefühle zählen eh nichts
Und erst recht nicht in Deutschland
Wen interessieren schon Gefühle
Sie nicht
Obwohl sie unglücklich aussieht
Die Haare sind kürzer
Wie sie da sitzt und den Boden anstarrt. Oder ihr Handy.
Sieht sie nicht unglücklich aus
Wie sie nicht hochguckt. Mich nicht sieht.
Nicht sieht, wie ich sie sehe.
Und alle Wunden wieder aufbrechen.
Ich hatte den ganzen Tag schon so ein Gefühl
(du weißt doch, Gefühle interessieren keine Sau)
Was sind schon Gefühle.
Wie ich heute Mittag diese Latina gesehen habe.
Und dann ihre Schwester.
Und jetzt sie.
Wie sie da sitzt
Kommt alles wieder hoch.
Nichts ist weg
Es war nur verschüttet
In der Müllkippe deiner Seele
Alle Dämme brechen
Alles reißt wieder auf
Die ganze Scheiße
Aber du gehst nicht zu ihr, als der Bus hält, keine 10 Meter von ihr entfernt
es hätte keinen Sinn
keinen Sinn mehr
Von da wo sie sitzt, auf diesem Stein, diesem runden Sitzstein am Bahnhof
Wo du früher auch gesessen hast
Als du noch den Nachtbus nach Duisdorf genommen hast
Wo sie auf dich wartete, in eurem Bett
In dem du jetzt alleine schläfst
Nicht einschlafen kannst
Dich hin und her wälzt
Ihre Beine erinnern dich daran, wie du mit ihr geschlafen hast
wie du in sie eingedrungen bist
sie gespürt hast
sie geliebt hast
ein halbes Leben lang
Früher
Früher ist vorbei
Und du gehst vorbei
Gehst extra vor dem Bus entlang
Obwohl der Weg hinter dem Bus der Kürzere ist
Guckst zu ihr zurück
Sie hebt den Kopf nicht
Wirkt unglücklich
Mit ihren kürzeren Haaren
Obwohl du sie gar nicht richtig sehen kannst
Mit deinen Augen
Du gehst zu deiner Haltestelle und fragst dich,
ob sie dich sieht
dir nachguckt, so wie du ihr.
Du weißt, dass das sie ist
Da hinten
Auf jemanden wartend.
Der nicht mehr du bist.
Der nie mehr du sein wirst
Und genau in diesem Moment weißt du,
dass du sie immer lieben wirst
Und immer vorbeigehen wirst,
wenn du sie siehst
so als hättest du sie nicht gesehen
wenn du sie durch Zufall siehst
in der Stadt
im Bus
wo auch immer
es gibt keine Zufälle
du liebst sie immer noch
alles ist immer noch da
wie am ersten Tag
trotz Anwalt, trotz Unterhaltsforderungen, trotz allem
weißt du, dass du nie aufhören wirst, sie zu lieben
Obwohl du nicht mehr zu ihr gehen wirst
Nie mehr
Wenn du sie siehst
Die Mutter deiner Tochter
Die Liebe deines Lebens
Wie ein Doof stehst du an deiner Haltestelle und blickst zu ihr rüber
Mit ihrem lilafarbenen Garfield-T-Shirt
Jetzt weißt du es wieder
Das sie in eurem gemeinsamen Urlaub gekauft hat
In eurem letzten gemeinsamen Urlaub
Jetzt fällt es dir auf
Ihre Haare sind kürzer
Sie ist noch immer total braun
Von Griechenland
Wo sie alleine war
Mit ihrer Tochter
Deiner Tochter
Die euch nicht mehr verbindet
Du stehst leicht versteckt hinter der Schulter dieses Typen
und guckst da rüber als hättest du einen Geist gesehen
Hast du ja auch
Den Geist vergangener Urlaube
Vergangener Umarmungen
Vergangener Küsse
Vergangener Berührungen
vergangen, alles
Vergangener Liebe
Der Bus kommt
Der Bus zu deiner neuen Wohnung
Heute ist María bei dir
Morgen bei ihr
Am Montag wieder bei dir
María, die euch beide in sich hat
Aber die ihr nicht mehr beide habt
Du steigst in den Bus ein
Setzt dich hinten hin
Weil es da kühler ist
Es ist der heißeste Tag des Jahres
36 Grad
Und du guckst zu ihr rüber
Als hättest du einen Geist gesehen
Den du berühren könntest
Den du nicht mehr erreichen kannst
Obwohl du weißt,
dass du sie immer lieben wirst
deine kleine Latina
die du vergrault hast
mit deinem Pessimismus
mit deinem fehlenden Vertrauen
mit deiner Eifersucht
deinen Ultimaten
Eine Familie sitzt dir im Weg
Du siehst sie nicht mehr richtig
Und trotzdem hat diese Begegnung deine Welt erschüttert
In ihren Grundfesten
Deine kleine kaputte Welt
Die nicht heilen will
Einfach nicht heilen will
Wie eine rote Wunde
Du siehst sie nicht richtig
Guckst als hättest du einen Geist gesehen
Das Kind guckt zu dir rüber
Der Alte auch
Wie du guckst
Als könntest du nicht vergessen
nicht vergessen
was mal war
was nie wieder sein wird
Und dann ist der Bus weg
Im Tunnel verschwunden
Und du siehst sie nicht mehr
Vielleicht nie wieder
in deinem Leben
Deine kleine Latina
Die du so liebst
Wie am ersten Tag.












Sonntag, 21. August 2016

Alles Verarschung: Zwischen Schein und Sein












Heute musste er tatsächlich fast wieder heulen. Bei Cuéntame como pasó, einer seiner spanischen Serien – komischerweise sind es immer die spanischen, bei denen er heulen muss, bei denen die Emotionen ihn förmlich übermannen). Ich weiß, er ist auch von Natur aus schon ziemlich nah am Wasser gebaut, aber das heute war  wirklich etwas Besonderes.

Cuéntame como pasó erzählt die Geschichte der Familie Alcántara, die während der Franco-Zeit vom Land in die Großstadt Madrid zieht und zeigt beispielhaft am Alltag der Alcántaras, wie sich das Land von der Franco-Diktatur langsam zu einer modernen Gesellschaft wandelte. In der vierten Folge, die im Jahr 1968 spielt, bekommt Antonio Alcántara, Vater und Oberhaupt der Familie Alcántara, Besuch von seinem Bruder Miguel, der auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben nach Frankreich ausgewandert ist. Zu Beginn sieht es so aus, als hätte Miguel in Frankreich das große Los gezogen: Er hat einen guten Job bei Citroën, ein Chalet, eine französische Frau und eine bildhübsche Tochter. Aber im Laufe der Folge stellt sich heraus, dass die Realität ein bisschen anders aussieht. Miguel gesteht seinem Bruder Antonio, der selber von einem Leben in Frankreich träumt, dass er allen nur etwas vorgemacht hat, damit sein Bruder stolz auf ihn ist. Um seinen Bruder nicht zu enttäuschen.

Dass er gar kein Chefmechaniker bei Citroën ist, sondern nur ein Baggerfahrer. Der für andere die Drecksarbeit erledigt. Ein weiterer kleiner, unbedeutender, spanischer Gastarbeiter, der zwar über die Runden kommt, aber sein Glück in der Fremde nie gefunden hat. Der seine wahre Familie vermisst, seine „Leute“.

Dass sein Chalet in Frankreich in Wahrheit nur eine Mietwohnung ist…

Dass sein Auto, sein Citroën eine alte Schrotkarre ist, die dauernd zusammenbricht…

Dass er keine Hoffnung darauf hat, jemals befördert zu werden, als Spanier in Frankreich…

Dass seine Frau ihn wie Dreck behandelt. Dass er manchmal das Gefühl, seine Frau denke, er sei geistig ein bisschen unterbemittelt…

Warum ich Ihnen das alles erzähle, wenn es diese Serie noch nicht mal im deutschen Fernsehen gibt? Weil dieser Moment, in dem Miguel seinem Bruder die Wahrheit über sein Leben in Frankreich erzählt, ihn zutiefst berührt hat.

So ungefähr muss sich seine baldige Ex-Frau Nadine gefühlt haben, als sie gegangen ist (auch Miguel verlässt seine französische Frau nach langem Hin und Her ein paar Staffeln später endgültig). Nicht gut behandelt, in einem fremden Land, wie ein Bürger zweiter Klasse, immer eine Ausländerin, von ihrem deutschen Ehemann und ihrer eigenen Tochter nicht (immer) für voll genommen, fünf Jahre älter und mit Falten, eine Putzfrau, die vorgibt, einen anderen Beruf zu haben. Auch sie muss zurück gewollt haben. Nicht nach Ecuador, sondern zu ihrer Familie aus Ecuador in Deutschland. Die sie immer so akzeptiert hat wie sie ist. Die sie besser verstanden haben muss als er, ihr deutscher Ehemann, obwohl er fließend Spanisch spricht. Wie Miguel in der Serie war sie nicht glücklich, war frustriert, hatte keine Lust mehr, sich ihr ganzes Leben etwas vorzumachen, und ist am Ende zu ihrer Familie zurück. Zu ihrer Herkunftsfamilie, ihren Wurzeln.

Trotz Rosenkrieg und knallhartem Anwalt könnte er fast mit ihr Mitleid bekommen.

Aber das ist noch lange nicht alles. Das ist nicht der einzige Grund, warum ihn das so berührt hat. Letzten Endes ist Mitleid mit anderen nämlich immer und vor allem eins: Selbstmitleid! Und so trifft das Geständnis Miguels in Cuéntame como pasó genauso auf sein eigenes Leben zu. Auch er hat sein ganzes Leben lang allen etwas vorgemacht, hat so getan als ob. Hat sich besser gemacht als er in Wirklichkeit war. Hat so getan als hätte er ein besseres Leben als das, was er tatsächlich hatte. Als verdiene er mehr Geld mit seinem popligen Job in der Musikschule. In der Spielhalle. Wo er seine Aufstiegschancen genau wie die Miguels in Frankreich gen Null tendieren. Auch er hat sich und allen anderen etwas vorgemacht. Damit seine Eltern, seine Tochter und letztendlich seine Frau auf ihn stolz sind.

Dass er einen guten Job hat, der ihn erfüllt.

Dass er mit seiner Wohnung zufrieden ist.

Dass er auch ohne Führerscheint zurechtkommt.

Dass er glücklich sei, wenn er mit ihr und ihren Freunden rausgeht und genau weiß, dass die ihn nie so akzeptiert haben wie er ist, dass die eine ganz andere Agenda als er hatten.


Auch er hat immer so getan, als ob er über all dem stehe, als ob er etwas Besseres sei…nur weil er genau wusste, dass das Gegenteil der Fall war. Wie hat das damals diese Bolivianerin in Schottland gesagt. Dein Mann ist arrogant. Aber wo kam denn die vermeintliche Arroganz her?! Aus einem Gefühl der Unterlegenheit, des nicht gelebten Lebens.

Auch er hat seinen Eltern, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Kollegen all die Jahre etwas vorgemacht, hat sie und sich selbst belogen. Wie Miguel in der Serie.

Auch er hat nie das Leben gehabt, was er wirklich wollte, in einer großen Stadt im Ausland, mit Leuten wie ihm, die an Literatur interessiert sind, an Kunst, an Kultur, was weiß ich, für die das was bedeutet und die nicht, wie Nadines Freundin sagen: „Komm mir nicht mit Freud. Freud zahlt nicht deine Rechnungen…“

Dass er in Bonn, in Deutschland nie glücklich geworden ist. In diesem Leben, in dem es scheinbar nur darum ging, einen schönen Job, ein schönes Haus, ein schönes Auto, eine schön eingerichtete, saubere Wohnung und am Ende eine schönen Ruhestand und eine schöne Beerdigung zu haben.

Einen schönen Aufstieg ins Himmelreich…

Dass das Einzige, was er im Leben erreicht hat, eine schöne, intelligente Tochter ist


Deswegen hat er heute fast geheult, als er das gesehen hat. Obwohl er dachte, dass schon lange keinen Tränen mehr kommen würden.

Wir machen alle allen etwas vor. The grass is always greener on the other side. Bis uns die Realität irgendwann einholt. Und dann stehen wir da

und heulen fast (wenn die Tränen noch kommen würden)

Aber dann ist es zu spät…