Dienstag, 29. November 2016

Warum bist du noch hier?









Nach dem Aldi-Besuch, dem – wie er zu ihr sagt – Höhepunkt seiner Woche, stehen sie an der Haltestelle und er sagt: „Guck mal da…“ Er deutet auf den halb zerfledderten Aushang mit der vermissten Katze, die einem auf dem Foto direkt in die Seele zu gucken scheint…

…was sie da wohl sieht...

„Ich vermisse auch eine Katze. Meine Katze. Ich vermisse meine Katze auch.“

Jetzt ist es raus.

Aber du weißt noch nicht mal, ob sie dich überhaupt gehört hat oder ob sie selbst gerade in ihrer eigenen Welt ist, abgelenkt von ihrer afrikanischen Musik, die sie in letzter Zeit immer hört

die sie daran erinnert, dass es noch mehr gibt als dieses Deutschland



Im Bus, plötzlich, willst du sie fragen. Während sich der Bus seinen Weg durch die eisige Nacht bahnt wie ein Eisbrecher, ein russischer Eisbrecher, einsam und allein. Immer weiter rein ins „Katzenloch“. (So heißt das wirklich, das gibt es wirklich in Bonn – genauso, wie es mich nicht gibt. Nicht mehr gibt, schon lange nicht mehr) Was wohl hier vor hunderten von Jahren passiert ist, dass die das so genannt haben?

Du hast sogar schon fast deine Ohrstöpsel aus den Ohren genommen, um diese Frage wirklich zu stellen. Bist du bekloppt?! Hast du sie noch alle?! Diese Frage, die dir durch den Kopf geistert. Schon seit langem. Nicht erst seit gestern.

„Warum bist du eigentlich noch hier?“

„Warum?“

„Ich versteh es nicht…“

„Warum bist du eigentlich noch hier…?“

Das ist nicht die richtige Frage für deine siebzehnjährige, bald schon erwachsene Tochter. Trotzdem nicht

Das hat damit nichts zu tun

„…wenn ich doch so Kacke bin, dass mich niemand mehr lieben kann…

…lieben will…

…dass mich deine Mutter nicht mehr liebt, nicht mehr lieben kann…

…warum bist du dann noch hier…??“

weil du noch was für deinen Vater empfindest…

…was weiß ich warum…

Warum sind wir alle überhaupt noch hier…auf diesem kalten Planeten in diesem kalten Universum?“

Er steckt den Ohrstöpsel wieder rein. Die kannst du dir doch wirklich selbst beantworten…wenn du ein bisschen darüber nachdenkst…

…aber es darf nicht sein…

…es darf niemanden auf dieser Erde, auf diesem kalten, traurigen Planeten geben, der dich noch liebt. Niemanden

Du hast

Bist du bekloppt. Du guckst sie an, wie sie da sitzt, mit ihrer schwarzen Mütze, mit deiner schwarzen Mütze. So jung. So unverbraucht. So unkaputt. Unkaputtbar. Ihr brauner Teint, ihre kleine Nase, ihre großen Augen

Ich will sie fragen, aber was sollte sie darauf schon antworten.

Einen Vater, der mehr hier als da ist. Der mit mindestens einem Bein schon im Jenseits steht. Vielleicht schon immer stand. Sein ganzes Leben lang.

Obwohl er sich niemals trauen würde…

Obwohl er immer noch denkt, dass dieses Leben, dieses Scheiß-Leben, das einzige ist, das wir haben.





Dienstag, 22. November 2016

Dartscheibe zu Weihnachten








Im Aldi sehe ich sie, bei den Weihnachtssachen. Bei den Weihnachtsgeschenken.

Und direkt wirft es mich zurück. Nach damals, wo ich die Dartscheibe, die sie mir zu irgendeiner Gelegenheit – ich glaube zu Weihnachten, war es unser letztes Weihnachten? – geschenkt hat und die ich aus Wut zerschmettert habe. Obwohl ich die Pfeile bis heute habe. bis heute aufbewahre wie einen Schatz. 

Wo ich die Dartscheibe im Keller gegen die Steinwand gehauen habe, bis sie ganz verbogen war. Bis sie kaputt war.



Früher als Kind hatte ich bei sowas immer Mitleid. Das hat mich immer traurig gemacht. Ich hatte immer Mitleid mit den Leuten, die sich Mühe gegeben haben, um die Sachen herzustellen, die andere einfach kaputtgemacht, einfach so weggeworfen haben. Ich hatte sogar Mitleid mit den Leuten, wenn jemand nur sagte, dass dies oder das Scheiße sei. Dann dachte ich immer an die armen Leute, die das hergestellt hatten und die bestimmt nicht wollten, dass man ihre Sachen als Scheiße bezeichnete. Einfach so

Das tat mir immer Leid.

Wir haben immer nur Mitleid mit uns selbst

Es ist wichtig, dass man sich selbst bemitleidet



Da sind sie, haben sie sie. Die Dartscheiben, die Nadine mir damals geschenkt hat. Die ich vor María gegen die Wand gehauen hab. Immer wieder, bis sie kaputt war. In blinder, ohnmächtiger, kalkulierter Wut. Genau wie die Weihnachtskugeln. Die Weihnachtsbaumkugeln. Die ich eine nach der anderen kaputtgehauen hab. Als ich ausgezogen bin. Im Keller. Vor María, für den Effekt

(ich hätte sie auch so kaputtgehauen oder einfach weggeschmissen)

Da sind die Dartscheiben aus Plastik. Die sie mir geschenkt hat, damals. Aus Liebe

Oder einfach so. Lieblos

Nur um etwas zu schenken

Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Und ich werde es nie erfahren. Vielleicht war es ja eine Mischung aus beidem. Lieblose Liebe. Liebevolle Lieblosigkeit.

War es Liebe

Oder nur irgendeinen Scheiß. Ein Geschenk, nur um ein Geschenk zu haben. Ein Pflichtgeschenk zu Weihnachten. Ich habe nie auf der Scheibe gespielt

Haben wir die ganze Zeit nur aneinander vorbei gelebt


Auf jeden Fall flasht mich das voll. Die Dartscheiben. Die ganzen Dartscheiben. Die darauf warten, gekauft zu werden, verschenkt zu werden       zu Weihnachten                 an zukünftige Ex-Ehemänner, die nicht auf ihnen spielen und sie dann irgendwann gegen die Kellerwand hauen, bis sie kaputt sind

(wer? Die Ehemänner oder die Scheiben?)

Kaum habe ich sie gesehen, fühle ich mich so

so

kaputt


kaputt



ich sage gar nichts mehr. Lege wie benommen die Sachen in den Einkaufswagen. Will eigentlich heulen, nur losheulen, mitten im Supermarkt, wenn die Tränen doch kommen würden                      wie diese spanische Ehefrau und Mutter in Amor, curiosidad, prozac y dudas (Liebe, Neugier, Prozac und Zweifel). Die einfach so in der Schlange im Supermarkt anfängt zu heulen

Weil sie eine depresión de caballo, eine „Depression wie ein Pferd“ hat


Ich bin wie vor den Kopf gestoßen


Draußen, an der Haltestelle hat jemand ein Bild von einer Katze aufgehängt. In Plastikfolie. VERMISST. Aber irgendjemand hat versucht, die Folie abzureißen, wegzureißen, so dass man die Katze kaum noch sieht, so dass die Folie unten ganz zerfleddert ist, die Telefonnummer kaum noch zu sehen ist

wenn jetzt jemand die Katze findet

VERMISST


VERMISST


Ich vermisse auch etwas, hänge mich aber nicht an der Haltestelle auf




im kalten Novemberregen


in the cold November rain…

…nothing lasts forever…

Eine goldbraun getigerte Katze. Mit Katzenaugen, die mich durch den Regen und die kaputte Plastikfolie angucken                    als könnte sie die Wahrheit sehen



ihr lilafarbenes Garfield-T-Shirt, das wir damals in Spanien gekauft haben




VERMISST




Die kommt bestimmt nicht mehr zurück




die Katze











Dienstag, 1. November 2016

Halloween, Horror-Clowns und Zombies









Und, hast du einen Horror-Clown gesehen?

Nein. Der hätte mir gestern Abend mal begegnen sollen…


…den hätte ich gefressen. Mit Haut und Haaren. Und Maske. Gestern Abend hätte mich mal jemand erschrecken sollen…



...ich hätte den wahrscheinlich bewegungsunfähig gemacht, in die Büsche geschleift und...

...ihm das Herz bei lebendigem Leib rausgerissen...

...ihn...

...und ihn dann in Stücke geschnitten und in den Kühlschrank gepackt...

...ins Gefrierfach...

...und dann gegessen...

...statt dem Aldi-Hack und Aldi-Putengeschnetzeltem dir ins Essen getan...


Aber Zombies habe ich gesehen. Jede Menge. In Deutschland gibt es jede Menge Zombies. Viel mehr als Horror-Clowns…

Sie steht vor dem Spiegel und schminkt sich. Sagt nichts.

Nämlich genau…lassen Sie mich nicht lügen… 82.175.683 (Stand: 01.11.16, 20:10, wir wollen ja „korrekt“ sein).


Und Aliens auch. Jede Menge.

Sie steht weiter vor dem Spiegel und schminkt sich. Lässt sich nichts anmerken. Keine Reaktion. Was soll sie auch darauf sagen, jetzt mal ehrlich?!