Sonntag, 1. März 2015

Stunde Null



1. März 2015






Stunde Null (Tag 0/D-Day/Groundhog Day/Ground Zero)


Die Tür geht zu und sie ist schon auf dem Weg zum Auto. Mit deiner Tochter. Du könntest noch hinterherlaufen - selbst in deinem hochprozentigen, hochexplosiven Zustand. Aber du tust es nicht. Diesmal nicht. Irgendwas hält dich davon ab. Du liegst mit verheulten Augen auf dem Bett, der Laptop vor dir. Du hast es getan. Du hast die Email verschickt. Du willst hinterherlaufen, kannst es aber immer noch nicht. Du hast keine Kraft. Du hast keine Kraft mehr. Du hörst, wie sie das Auto anlässt, dieses typische Geräusch ihres alten Polos. Den du so liebst.

Ich weiß nicht mehr, ob ich noch sehe, wie das Auto aus der Einfahrt fährt, aber ich weiß, als es weg ist. Als sie weg ist. Und du alleine zurück bleibst in eurer Wohnung. Du torkelst zum Fenster. Aber es ist zu spät. Viel zu spät. Es ist vorbei. Diesmal hast du es richtig versaut. Diesmal hast du sie - einmal - nicht aufgehalten. Hast dich nicht - wie sonst, als sie gehen wollte - im Flur vor die Tür gestellt. Hast sie nicht aufgehalten. Nadine, mit der du seit ewigen Zeiten zusammen bist. Seit du 18 Jahre alt bist, um genau zu sein. So lang. Und jetzt ist sie weg. Endgültig weg (zuerst willst du endlich weg schreiben!). Die Frau, mit der du seit 1996 zusammen bist, mit der du so viel erlebt hast, mit der du eine 16-jährige Tochter hast. Die sich nicht in der Mitte teilen lässt, so dass ein Teil bei dir bleibt und ein Teil bei ihr. Und selbst wenn: Im Moment ist der ganze Teil bei ihr. Ist mit ihr gegangen. Warum? Weil sie keinen Bock mehr auf die dauernden Streitigkeiten hat. Auf rationaler Ebene kannst du deine Tochter sogar verstehen. Aber emotional. Emotional is a totally different ballgame wie die Amerikaner sagen würde.

Und dann, irgendwo zwischen Bett, Küche und Fenster, kommt dir dieser Gedanke mit der Kraft eines Vorschlaghammers, einer in deinem Gesicht exploierenden Atombombe, einem Flugzeugabsturz, einem Sprung aus Hundert Metern, ohne Fallschirm auf Betonboden.

Du bist so dumm!

Du bist so dumm!

Du bist so dumm!

So unglaublich dumm!

Du heulst, schlägst die Hände über dem Kopf zusammen, raufst dir die Haare, ziehst dich an.

Du bist so dumm!

So dumm!

Du hast gerade deine Ehefrau verloren!

Und deine Tochter ist auch weg!

Du bist so dumm!

Wie kann man nur...

...so dumm sein.


Du weißt es instinktiv in diesem Moment.

Du hast heute alles verloren. Dein Leben wie es bisher war, ist vorbei.

Mannomann


***


Du gehst zu deinen Eltern. Und in diesem Fall ist „gehen“ wortwörtlich zu nehmen. Du läufst nämlich wortwörtlich die 7 Kilometer zu Fuß - wie magisch angezogen von Bonn-Kessenich. Eigentlich hast du hier nichts zu suchen. Du hast ja schließlich runde sechs Jahre keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt, hast ihn einfach so abgebrochen – fast genau wie Nadine dich jetzt einfach so hat sitzen gelassen. Später wirst du wissen, warum dich Kessenich vielleicht noch unbewusst so angezogen hat. 

Wo sollst du auch sonst hin?! Du hast keine Freund, keine Bekannten, keine Geliebte (Gott bewahre) und auch sonst niemanden. Also müssen die Eltern herhalten. Aber das stellst du erst auf dem Weg fest. Der Weg ist das Ziel! 

Jahrelang hast du alles (Freunde, Bekannte, Haustiere, Geliebte) deiner Ehe untergeordnet. Und auf perverse Weise warst du glücklich. Jetzt rächt sich das. Du läufst wie auf Autopilot. Und das liegt nicht am Alkohol, den du intus hast. Okay, wenig ist das auch nicht, aber du kannst das ab. Was du nicht abkannst ist eine Frau, die dich soeben mitsamt Tochter verlassen hat. Vielleicht für immer. Vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Gedanken schießen dir durch deinen ohnehin schon benebelten Schädel. Und obwohl es kühl ist, kriegst du von deinem Marsch quer durch die Stadt keinen kühleren Kopf. Du hast sie verloren. Du hast alles versaut. Das war’s. 

Sie hat das arrangiert. Sie wollte schon am Freitag gehen. Sie wollte schon lange gehen. Du wolltest es nicht sehen. Wolltest es nicht wahrhaben. Nicht jetzt, wo deine Tochter kurz vor ihrer Abschlussprüfung steht. Selbst als ihre Papiere am Freitag verschwunden waren, wolltest du die Wahrheit einfach nicht sehen. Wolltest dir nicht eingestehen, dass das kein schlechter Scherz war, als sie dir vor ungefähr zwei Wochen gesagt hat, dass sie auszieht, dass du dir eine Wohnung suchen sollst, denn sie wolle nicht mehr, sie könne nicht mehr. Du wolltest selbst die Tatsache nicht wahrhaben, dass sie dir am Freitag gesagt hatte, sie ginge zu ihren Schwestern – nachdem du ihre Lüge entlarvt hattest, dass sie zu einer Frau wo sie Arbeit geht. 

Du hast deine Beziehung als selbstverständlich angesehen. Du hast sie – und deine Tochter – als selbstverständlich angesehen. Selbst als sie dir das mitten ins Gesicht gesagt hat.
Doch als sie dir dann heute sagte, dass sie nicht mehr neben dir schlafen könne, da ging es nicht mehr. 

Und noch ein anderer Gedanke kreist dir durch den Kopf. Der Streit war geplant. Siewollte, dass du ausflippst. Sie wollte dich provozieren, um einen Vorwand zu haben, um gehen zu können. Du spürst instinktiv, dass das die Wahrheit ist. Die bittere Wahrheit. Die Wahrheit ist immer bitter. Du bist doch jahrelang derjenige gewesen, der die Wahrheit gepredigt hat. Und jetzt verträgst du sie nicht?!  Sie ist weg und hat den Streit so hingebogen, dass sie gehen konnte. Und du hast ihr mit deinem Wodka und deinem Theater noch in die Hände gespielt. Sie hat dich voll ins Messer laufen lassen.

Du bist so dumm!

„Ich will nicht mehr neben dir schlafen.“


„Ich kann nicht mehr neben dir schlafen.“


Ihr steht in der Küche. Sie steht vor dem Herd, kocht eine Nudelsuppe. Warum sie noch kocht, wenn sie nicht mehr neben, mit dir schlafen kann, ist mir schleierhaft. Du nimmst die halbvolle Wodkaflasche aus dem Schränkchen beim Fenster, nimmst dir eine Tasse und schüttest dir einen kräftigen Schluck ein. Dann gehst du zur Tür und schließt sie, so dass María nichts von dem hören kann, was jetzt kommt. Nadine guckt dich mit einer Mischung aus Trauer und Verbissenheit an, die du nur allzugut kennst.

„Ich kann nicht mehr neben dir schlafen.“

Du hast diese Nacht keine vier Stunden geschlafen, bist um zwei nach Hause gekommen und bist um sechs wieder aufgestanden. Wie konntest du nur denken, dass alles ausgestanden war?! Wie konntest du nur so dumm sein.

„Ich hab nächste Woche einen Termin bei einer Psychologin. Dann erklär ich der das.“

Mach doch, du blöde Kuh.

„Du kannst ja mitkommen.“

„Als ob ich mit dir zu irgend so einer Psycho-Tante gehen würde…bin ich denn bescheuert.“

„Dann nicht.“

Oder war es andersrum und ich hab gesagt: „Ich kann ja mitkommen. Dann gehen wir da gemeinsam hin und reden über die Probleme.“

„Nein, da geh ich alleine hin. Dafür ist es zu spät. Ich nimm dich doch nicht mit.“

„Dann leck mich doch. Mann!“

Ja, ich glaube das ist näher an der Wahrheit. 

Was ist schon die Wahrheit.

Etwas, das zwischen einer halben Tasse Wodka, meiner Wut und ihren rohen Emotionen verloren geht.

Sobald die Tür zu ist, fang ich an, sie anzuschreien. Das Übliche. Es geht nicht mehr. Sie hat ja Recht. Aber so geht es auch nicht. Ich bin doch nicht ihr Fußabtreter.

Das Ende vom Lied ist, dass die Tür aufgeht und María alles mitbekommt.

Irgendwann kurz darauf ist Nadine im Schlafzimmer und sitzt mit María am Kopfende des Bettes. Ich schreie heulend, wie ein Besessener:

„Ich liebe meine Tochter. Ich liebe sie. Gott weiß, dass ich sie liebe.“

Keine Ahnung warum. Wer fragt schon nach dem Warum, wenn es um Gefühle geht. Um Liebe, Hass, Wut. Vielleicht hab ich ja da schon geahnt, dass ich sie kurz darauf verlieren würde. Wen? Meine Tochter? Nein: meine Frau. Beide.