Donnerstag, 26. Februar 2015

Spüren Sie was?




26.02.15 (Vier Tage vor Tag Null.)





Spüren Sie was?


„Der Zahn ist tot!“ sagt der Typ und wackelt an dem Zahn.


„Aha“, sag ich so gut man das beim Zahnarzt eben so kann. Mit diesen ganzen Apparatschaften in der Fresse ist das nicht so leicht.

„Der ist tot," sagt er nüchtern. So als würde er das jeden Tag tausend Mal. So als wär das Routine, dass die Zähne irgendwann sterben. Genau wie wir Menschen. Die Menschen zu denen sie (jetzt nicht mehr) gehören.

Fast hätte ich spontan gesagt: Ich auch, wissen Sie… Aber das lasse ich dann doch besser. Bin ja schließlich hier beim Zahnarzt und nicht beim Seelenklempner. Den ich, weiß Gott, genauso so sehr oder vielleicht noch mehr bräuchte als den Zahnklempner.

Toll, denke ich. Toll. Wunderbar. Ich bald auch. Genau wie der beschissene Zahn. Nein, Quatsch: Ich lebe noch. Nur der Zahn ist tot.

Er nickt.

Bis heute dachte ich eigentlich, Zahnärzte hätten mit dem Tod nicht so viel zu tun.

Trotzdem schockt mich das nicht. Im Gegenteil: Ich fühle mich dadurch komischerweise sogar ein Stückchen lebendiger.

Komisch

Er beugt sich trotz des toten Zahns (was macht das jetzt noch für einen Sinn, jetzt, wo er tot ist) wieder über mich mit seinem runden Gesicht und sagt genauso nüchtern:

„Ich nehme jetzt die Füllung raus und dann sehen wir…“

Wozu, wenn er tot ist?

Wozu noch eine Füllung, wenn er tot ist.

Toten gibt man ja schließlich auch nichts zu essen.

Das letzte Hemd hat keine Taschen.

„Diamant…“, sagt er zu der Assistentin, die eben noch leicht gehustet hat. Auch ich habe ein bisschen Schnupfen und Husten. Das bleibt ja nicht aus, bei diesem Wetter. Diesem Sauwetter. Diesem typisch deutschen Winterwetter.

Wenn ich ehrlich bin: Irgendsowas hatte ich mir schon gedacht. Obwohl ich nicht damit gerechnet hatte…

…wer rechnet schon damit, dass der Zahn gleich tot ist. Ok, von Karies zerfressen, ok. Aber doch nicht gleich abgekackt. Gott im Himmel.

Er fängt an mir im Mund rumzubohren. Einen Moment lang tut es weh, doch dann fühle ich gar nichts mehr

Komisch

Er sagt nichts. Wie immer. Der sagt nie viel. Wie Nadine. Ist aber immer freundlich zu mir. Anders als Nadine! Vielleicht reden die in Polen nicht so viel. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung, der Knechtschaft. Keine Ahnung. Vielleicht redet auch er nur nicht so viel. Der Scheiß, ey. Er sagt nicht, ob die Füllung jetzt raus ist, oder nicht. Ist ja auch egal. Interessiert mich nicht. Warum auch?!

Kurz schließe ich sogar die Augen, meine Hände fast zu Fäusten geballt. Weil es weh tut.

Dann legt er den Bohrer weg – Zahnärzte sind Sadisten, eindeutig (vielleicht sogar noch mehr als andere Ärzte: Bestimmt lässt der sich von dem ganzen Geld, was der scheffelt – Zahnärzte sind die reichsten Ärzte! – abends von irgendeiner polnischen Prostituierten auspeitschen. Oder noch besser: anbohren!). Er legt den Bohrer weg und nimmt sich…

…eine Nadel.

Die er mir postwendend in den Mund steckt. Den ich dummerweise auch noch gebannt offen halte. Ich versuche sogar, ihn noch weiter zu öffnen. Damit er mit mir zufrieden ist. Damit er mich mag, dieser kleine polnische Sadist. Dieser große polnische Sadist – immerhin ist er mindestens einen halben Kopf größer als ich.

Er steckt mir also diese kleine Nadel in den Mund – die ich leider zu spät als solche erkenne – und sagt:

„Spüren Sie was?“

Was? So allgemein, oder was? Oder meinen sie so konkret. Das hat mich so lange keiner mehr gefragt.

Aber ich spüre nichts. Und muss das leider auch zugeben.

„Nein“, nicke ich, da ich nicht weiß, ob er das, was ich sage, auch versteht.

„Und hier? Tut das hier weh?“ Wieder steckt er mir die kleine Nadel mit dem roten Köpfchen in den Mund.

Wieder muss ich, so leid mir das tut – verneinen. Denn ich spüre wirklich nichts. So langsam komme ich mir vor, wie einer dieser Typen aus den Telenovelas, die angeschossen wurden oder einen Unfall hatten, und die dann vom Arzt immer die gleiche Frage gestellt bekommen, während er an ihren Zehen rumfummelt. „Spüren Sie was?“

Fühlen Sie noch was?

Echt, ey. Wie einer dieser Querschnittsgelähmten. Scheiße, Mann. Aber was soll ich sagen?! Komischerweise spüre ich echt nichts. Wie gerne würde ich sagen: „Ja, das tut weh! Das tut sauweh! Wenn Sie jetzt nicht gleich aufhören, Nadeln in meinen Mund zu stecken, dann haue ich Ihnen eine rein!

Aber das wär ja gelogen, weil es nicht weh tut. Das ist das erste Mal, dass ich traurig bin über die Abwesenheit von Schmerz. Jetzt weiß ich auch, wie die sich in den Telenovelas fühlen.

Wie Schauspieler, haha.

Was wäre denn, wenn ich ihn jetzt belügen würde? Wenn ich meinen Zahnarzt belügen würde? Würde ich dann in die Hölle kommen? Oder würde ich das nur beichten müssen und das wäre mit drei Avemarias getan? Wenn ich ihm dummdreist ins Gesicht lügen würde. „Ja, das tut weh! Und wie!“ Wenn ich schauspielern würde. Kann ich das überhaupt? Vielleicht schon…drastische Situationen erfordern drastische Maßnahmen. By any means necessary. Würde er  das dann merken? Oder würde er mir glauben? Immerhin ist er Pole. Die glauben ja sogar noch an Gott! Oder die tun nur so. Vielleicht würde er auch nur so tun. Und sagen: „Ok…“ Und denken: „Willst du mich verarschen, du Deutscher, du?!“ Quasi gute Miene zum bösen Spiel machen. Würde mein Zahn so weniger tot sein? Keine Ahnung

Aber das ist mir in meiner gegenwärtigen Lage eh viel zu kompliziert. Also sage ich weiterhin brav nein auf seine Frage, ob das wehtut. Und sehe seine Enttäuschung…oder doch seine Freude…oder seine Bestätigung…seine nüchterne, polnisch-trockene Bestätigung.

Leider nicht.

Scheiße.

Doch dann passiert das Wunder! (Er ist ja schließlich auch Pole, die glauben ja – offiziell – an Wunder und nicht an FKK-Strände.) Beim dritten oder vierten Stich spüre ich etwas! Und er spürt es auch: Denn ich zucke sichtlich zusammen und mein Gesicht verzieht sich. Doch: Das tat weh.

„Tat das weh?“, fragt er auch postwendend. Oder ich bilde mir das ein und sage stattdessen selbst: 

Das tat weh!“

Autsch.

Charlie bit me. Charlie bit me and that really hurt. Charlie!

Jetzt hat er auch meinen Schmerz registriert. Ob mit Wohlwollen oder Enttäuschung, das weiß ich nicht. Er verzeiht immer noch keine Miene. Obwohl: Ich glaube, er ist auch froh über meinen Schmerz. Meinen unerwarteten Schmerz.

„Ah“, sagt er.

Ja: Er ist froh! Definitiv! Denn er darf noch Mal zustechen, der Wichser. Das darf er jetzt so oft er will. Denn das heißt: Der Zahn lebt! Der Scheiß-Zahn lebt! Der verfickte Scheiß-Zahn lebt! 

Fast will ich es rausschreien, es ihm ins Gesicht schreien. Der Zahn lebt. Er ist nicht tot, so wie sie sagen! Er ist quicklebendig! Ok: Er hängt am seidenen Faden, aber das kratzt mich jetzt nicht.

Fast will ich vor Freude singen:


Ja: Er lebt noch. Ja lebt denn der alte Backenzahn noch? Lebt denn der alte Backenzahn noch?

Ja! Er lebt noch! Er lebt noch!

Ja! Er lebt noch! Er lebt noch!

Totgesagte (Zähne) leben eben länger! Nein, das heißt anders: Totgeglaubte (Zähne) leben länger! Geil, ne?! Ach, ist doch egal! Scheißegal! Hauptsache…er lebt noch!

Geil!

Auf dem Heimweg denke ich: Das darf man einen Depressiven nie fragen. Ob er etwas fühlt. Denn darauf kann es nur eine Antwort geben. Ja! Viel zu viel! Das können Sie sich gar nicht vorstellen, was ich alles fühle! Wo es mir überall weh tut! Und dabei sagen die immer, dass Depressive nichts fühlen. Was für ein Bildzeitungs-Quatsch!

Ich fühle nichts mehr.

Ich spüre nichts mehr.

Oder zu viel.