Mittwoch, 27. Juli 2016

E-Mail von dir










Inmitten all des Terrors, all der falschen und echten Alarmmeldungen, all der Gewalttaten in Deutschland und Frankreich hat er fast übersehen, dass seine Tochter ihm geschrieben hat. Seine Tochter hat ihm geschrieben!

Seine Tochter!

Aus dem Urlaub.

Juhu!

Aber ernsthaft: Als verlassenen Vater freut ihn das natürlich immer. Mal sehen, was sie heute geschrieben hat. Wieder wie schön es doch ist in Griechenland. Wieder kein Betreff – Scheiße! – also wird er die Mail wohl öffnen müssen, ob er will oder nicht. Also, kurz und schmerzlos! Kurz und scherzlos! 1 Klick zum Glück!

Hi
Ich lebe noch haha das Internet ist voll schlecht hier das ist nicht mehr normal. Nächste Woche bin ich wieder zurück gebräunt und muss mir einen Job suchen.

Geil. Der erste Eindruck ist schon wesentlich besser als bei der ersten Mail. Wenigstens kein hier ist es voll schön die Sonne scheint die ganze Zeit und ich will nie wieder nach Deutschland zurück und zu dir sowieso nicht…(siehe auch: Gut angekommen I oder Gut angekommen II) Wenigstens ist das Internet voll schlecht. Das freut mich doch!

…obwohl: Das geht ja zu deinen Lasten, du Doof. Wenn man so drüber nachdenkt…(das sollst du doch nicht…das solltest du doch nicht mehr machen…nachdenken…zu deinem eigenen Schutz)…das ein bisschen psychoanalysiert…nur ein bisschen natürlich…

…dann könnte das ja auch eine clevere Ausrede sein, um dir in der verbleibenden Woche nicht mehr schreiben zu müssen. Wenn das Internet schon so schlecht ist…

…dann brauch man ja auch nicht schreiben…

…und kann sich besser den ganzen Tag am Strand bräunen…

…mit einer ganzen Horde von Verehrern…

(…das muss man dem Papa ja dann auch gar nicht erzählen, das Internet geht ja nicht!)

…und einer ganzen Horde perverser Griechen, die hinter ihrer Mutter, deiner zukünftigen EX-Frau hinterher sind (wofür die bekannt sind, die Griechen, das muss er Ihnen ja nicht noch auf die Nase binden, oder?!)…

Aber lassen wir das! Das bringt eh nichts, da, in diese wenigen, kargen Worte, so viel hineinzuinterpretieren. Das führt doch zu nichts! Also lassen wir das…

…grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr…

you got to let go…

grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr…

…fucking let go!

Grrrr

Okay, ist ja gut (grrr)…

Lassen wir das…und kommen zum Anfang der Mail. Der nicht weniger ambiguous, nicht weniger zwei- oder gar mehrdeutig ist.

Ich lebe noch…haha

Was soll er nun davon halten? Sich freuen, dass sie noch lebt?! Obwohl sie schon mehr als eine Woche allein mit ihrer Mutter in Urlaub ist…?! Soll er sich jetzt freuen oder laut losheulen…oder beides…oder voller Freude aus dem Fenster springen…die ganzen 80 Zentimeter bis zum Boden…

Oder ist das (scheiße, bitte nicht!) ein Anflug seines üblichen Existentialismus oder gar Fatalismus bei seiner 17-jährigen Tochter. Das zeigt schließlich, dass sie deine Tochter ist (wenn du das nicht auch so schon wusstest…). Dass sie auf dich kommt… Darauf solltest du stolz sein! Schließlich ist der Existentialismus im Kern radikal lebensbejahend…ja, ja…der alte Heidegger, das war ein Fuchs!

Oder denkst du – schon wieder – zu viel nach und das ist nur der Versuch eines Witzes. Tochter, du weißt doch, dass ich bei solchen Dingen überhaupt keinen Spaß verstehe…

Oder, er wagt es kaum in Betracht zu ziehen…ein schlechtes Gewissen?

Nein, das ist nun wirklich zu viel des Guten!

Dass sie gebräunt ist, wenn sie wiederkommt, hätte sie sich aber ehrlich sparen können. Sie ist in Griechenland! Welche andere Farbe soll man da schon annehmen?! Grün? Gelb? Rot ginge ja auch noch, aber nicht bei dem von Natur aus schon leicht gebräunten Teint seiner Tochter. Er hat sie noch nie rot werden gesehen, auch nicht beim Lügen…nein, Quatsch, sie hatte echt noch nie einen Sonnenbrand, soweit er weiß…

Und dann das Ende (du bist aber auch mit nichts zufrieden, echt, was hast du denn jetzt schon wieder auszusetzen?!): …und muss mir einen Job suchen.

Musst du doch nicht, dein Vater arbeitet doch auch nicht, der schreibt doch auch nur den ganzen Tag dumme Blog-Beiträge. Muss sie ihn dran erinnern, dass er sich auch einen Job suchen muss, einen neuen, einen besseren. Mannomann. das Leben

Aber wenigstens nicht diese ganzen Lobeshymnen auf Griechenland, das tolle Wetter, das schöne Meer…nicht dass ich ihr das nicht gönnen würde…soll sie doch…sie ist ja nur einmal 17…das ist es nicht.

Ihr gönne ich das…

…ihrer Mutter aber ganz sicher nicht!