Abends, auf der Arbeit,
öffnet er sein Google-Konto. Um zu gucken, ob seine Tochter ihm geschrieben
hat. Keine Ahnung warum. Er hat nichts von einem Flugzeugabsturz gehört, also
wird sie wohl gut angekommen sein. Keine Ahnung, warum er sich das antut. Er
ist halt im Grunde seines Herzens ein Masochist. Manchmal auch ein
Sado-Masochist, aber meistens eben nur Masochist. Was erwartet er eigentlich?
Er ist natürlich nicht mitgefahren, nach Griechenland, weil er ja
mittlerweile…lassen Sie mich nicht lügen…gute 16 Monate getrennt ist und heute
endlich den Scheiß-Versorgungsausgleich in Angriff genommen hat. Also, was
erwartet er. Details. Kann er haben:
Hallo
Ich
bin gut angekommen hier. Hier ist es voll schön und sehr warm haha melde mich
später nochmal.
Sie sagt ja nicht viel, aber
das, was sie sagt, erfüllt seine Erwartungen voll und ganz. Ich meine, was
hatte er auch erwartet?! Dass sie schreibt es
ist hier voll Scheiße ohne dich und Trennungen/Scheidungen zerstören die
Gesellschaft? Dann würde er sich erst recht Sorgen machen. so weiß er
wenigstens, dass sie gut angekommen ist. Das ist doch schon mal was… Das wollte
er ja auch nur wissen. Mehr nicht. Bitte keine Details. Aber gerade wenn man
keine Details erwartet, kriegt man sie. Auf dem Butterbrot serviert. Immer
mitten in die Fresse rein. Ich weiß auch, dass es da warm ist…, denkt er. Das
ist ja kein Wunder, das ist ja auch Griechenland. Aber lustig finde ich das
deswegen trotzdem noch lange nicht. Das Lachen ist ihm ohnehin schon lange im
Hals steckengeblieben. Sein Vater würde jetzt mit der ihm eigenen Nonchalance
sagen: „Ist doch schön! Soll sie doch einen schönen Urlaub haben…“ Genau: sein
Vater! Soll er doch noch ein schönes Leben haben. Ist doch schön!
Er hat schon jetzt
entscheiden, dass er nicht zurückschreiben wird. Kein Wort. Dann ist das eben
passiv-aggressiv. Und auch keine Lösung. Aber was soll ich auch ernsthaft
darauf antworten?! Toll, das freut mich, dass du gut angekommen bist und dass
es so schön warm ist und überhaupt so schön…ist das Leben nicht wunderbar?! Ich
glaube nicht, dass sie das jetzt braucht. Im Grunde genommen tut er ja genau
das, was sein Vater sagt. Er lässt sie in Ruhe. Die Kinder trifft so eine
Scheidung ja auch am härtesten. Die kommen direkt nach den von heute auf morgen
verlassenen Vätern und Ehemännern. Aber die sind ja schließlich schon
erwachsen. Bin ich das? denkt er. Irgendwie schon. Auf meinem Perso.
Toll,
dass es dir so gut gefällt, im Urlaub. Das freut mich für dich. Dann fühle ich
mich gleich…noch ein bisschen beschissener.
Aber hätte nicht eine kurze Notiz gereicht. Meine Anwältin schreibt mir ja auch
nicht direkt einen ganzen Roman, oder?!
Andererseits: Was regt er
sich überhaupt auf?! Was regt er sich wieder mal künstlich auf. Er regt sich
überhaupt viel zu viel auf. Immerhin sieht er sie ja bald wieder. An genau vier
Tagen in der Woche. Ups, 3 ½ meine ich natürlich, wir wollen ja nicht, dass das
zu einem unechten Wechselmodell wird.
Tage später denkt er immer
noch über ihre Mail nach, die er immer noch nicht beantwortet hat.
…aber das „haha“ stört dich.
Das stört dich. Echt.
Wäre es nicht genug gewesen,
einfach nur zu schreiben, dass sie gut angekommen ist?! Denkt sie einfach nicht
darüber nach, was ihre Worte in dir auslösen oder hat sie das extra eingefügt.
Um dich zu ärgern, dich zu quälen. Das kommt schließlich in den besten Familien
vor. Hat sie das etwa unbewusst-bewusst geschrieben? Oder ist das etwa sogar
der Ausdruck eines tiefer liegenden Grolls dir gegenüber. Haha, ich zeig’s dir!
Ich bin im Urlaub mit der Mama und du nicht! Du schmorst weiter depressiv in
Bonn im eigenen Saft, während hier alles doch so „schön“ ist. Wie er dieses
Wort hasst, „schön“. Genau wie dieser Typ aus The Beach das Wort „nice“ verabscheut. So hasst er „schön“ (das ist
auch im Endeffekt ungefähr das Gleiche, „nice“
und „schön“, wenn man so drüber nachdenkt).
„That’s nice!“ sagt er ironisch, in seinem fetten, schottischen
Akzent, einen Abend, bevor er sich umbringt, in diesem Billig-Hotel in
Thailand.
Haha, hörst du Tyler Durden
dreckig lachen, im Keller des Gebäudes, das er in Kürze in die Luft sprengen
wird. Es ist „schön“ hier, hahaha.
Oder zeigt sich in diesem
„haha“ noch etwas ganz anderes?! Sowas wie: Siehst du Papa, ich kann auch ohne
dich einen glücklichen Urlaub verbringen. Obwohl ich es nicht wirklich bin,
glücklich nämlich. Sonst müsste ich dir ja schließlich nicht auf die Nase
binden, ach wie toll es hier doch ist, in Griechenland. Sonst müsste sie dir ja
nicht auf Teufel komm raus beweisen, dass es auch ohne dich das Gleiche ist, im
Urlaub, weil es das ganz sicher nicht ist. Ist nicht gerade dieser Groll, diese
offen zur Schau getragene Trotzigkeit ein Ausdruck ihrer Unfähigkeit mit der
Situation umzugehen?! Klarzukommen. Einer Situation, die sie ganz sicher immer
noch überfordert. Zu viel für sie, viel zu viel auf einmal. Sollte ich am Ende
sogar Mitleid mit ihr haben, sie gar verstehen. Unbedingt! Sie ist ja auch erst
17. Noch nicht mal erwachsen. Das ist ja einer der Gründe, warum du das
Wechselmodell willst. Weil sie auch deine
Tochter ist und du das Beste für sie willst, ihr helfen willst, dass sei
trotz allem ein gutes Abitur macht, glücklich wird
Vielleicht ist sie aber auch
einfach noch jung, zu jung. Du warst doch auch mal jung, oder etwa nicht?! Jung
und schön, haha. Da hast du auch nicht so über jedes Wort nachgedacht, was du
sagst (denn geschrieben hast du ja damals noch nicht). Jedes Wort auf die
Goldwaage gelegt – wie deine Mutter sagen würde. Nicht so wie heute. Da hast du
bestimmt auch Leute verletzt, bist Leuten auf die Füße getreten, mit deinen
Worten. Ohne es zu merken. Ohne darüber nachzudenken. Bestimmt auch Erwachsene.
Und Leute haben dich verletzt, mit ihren Worten, haben dir wehgetan. Ohne
darüber nachzudenken. Ist ja schon schön, dass sie dir überhaupt schreibt.
Darüber solltest du froh sein. Du musst das nehmen, was du kriegst. Nach der
Trennung und vor der Scheidung. Und das ist mehr als die meisten getrennten
Väter kriegen. Genau halb halb. Sie von der Hüfte abwärts, ich aufwärts. Das
ist sogar „fair“, obwohl du es natürlich nicht so empfindest (aber wer
interessiert sich schon für deine Empfindungen, wer hat sich jemals für deine
Empfindungen interessiert?!). Denn wie die meisten Männer willst du mehr…
Aber wahrscheinlich stimmt
das auch nicht. Denn dich hätte das in dem Alter auch wenig interessiert, im
Endeffekt. Da hattest du andere (zum Beispiel, wie und wann du endlich eine
Freundin findest). Du hättest am Ende auch einfach deinen Urlaub genossen und
fertig. Oder hättest du…? Immerhin sind ja deine Eltern nie getrennt gewesen.
Aber ist sie wirklich wie du
damals? So ein bisschen schon…
Und überhaupt: Wie in alles
interpretierst du da viel zu viel rein, denkst viel zu viel darüber nach. Wie
über alles in deinem Leben. Wär ja schlimm, wenn sie so wär wie du…eine Grumpy
Cat 24/7…das wär dir dann auch wieder
nicht recht. Oder?! Du willst eine Unmöglichkeit. Eine 17-Jährige, die dich
versteht (und das, wo du das doch selbst nicht mal tust), sich aber
gleichzeitig ihre jugendliche Vitalität, ihren Lebensmut, ihre joie de vivre bewahrt. Die eierlegende
Wollmilchsau. Das kann sie ja gar nicht erfüllen! Selbst wenn sie wollte…