Sonntag, 30. Oktober 2016

Wut und Respekt










Er redet mit seiner Kollegin in der Halle. Sie ist ein bisschen krank, hat eine Erkältung. Oder gar eine Grippe?

Sagt: „Am Freitag war das ja ganz schlimm. Da dachte ich, ich steh nicht mehr auf…“

„Schon dich“, sagt er, als sie geht.

„Du auch. Sonst merkst du das auch irgendwann. Wenn der Körper nicht mehr will, dann kippt man irgendwann um.“

Dann will er eben nicht mehr. Der ist eh schon kaputt. Jahrelanges fettiges Essen, Depressionen, Ängste, Süßes, Alkohol (nicht so viel, aber wenn, dann richtig…) und noch einmal fettiges Essen.

„Dann kipp ich eben um…wir müssen alle sterben.“ Er guckt sie an, guckt ihr direkt in die Augen… „Irgendwann ist für jeden Schluss…“, fügt er hinzu. „Irgendwann müssen wir alle sterben. Wir können alle nicht ewig leben…“ Ob ich jetzt sterbe oder in 10, 20 oder gar 30 Jahren…

„Ist aber noch zu früh!“ sagt sie.

Echt, denkt er. Ich dachte, das wär genau der richtige Zeitpunkt. Ein guter Tag zum Sterben. Zwar nicht unbedingt heute, aber… Siehst du, du willst es ja doch nicht.

„So weit war ich auch schon. Ich war auch schon so weit, mich vor den Zug zu schmeißen…

Er registriert das nur, fragt nicht nach, wann oder wie. Will gar keine Details wissen, sagt nur kurz: „Echt?“ Und sagt dann: „Im Moment würde ich eher andere gerne vor den Zug schmeißen, wenn ich könnte. Es gäbe da so ein paar Leute…“

Sie sagt nichts, also redet er weiter: "Eigentlich gehe ich im Moment in die Phase der Wut über. Davor war die Trauer…und jetzt kommt so langsam die Wut.“ Er macht eine Fratze, um ihr seine Wut zu verdeutlichen. Schiebt den Unterkiefer nach vorne und fletscht die Zähne fletscht. Was ihm natürlich nicht ganz gelingt.

„Das ist ja beim Tod genauso….“ Oder hat sie „vor dem Tod“ gesagt?? Echt? Jetzt hat sie ihn geschockt, kalt erwischt.

„Echt?“

„Ja.“

Woher weiß sie das denn jetzt? Von ihrem Vater? Man sollte die Leute nicht unterschätzen. Man weiß nie, was die durchgemacht haben. Wo die „herkommen“, wie Brad Pitt alias Tyler Durden das zu diesem Typen sagt, der dem Fight Club den Keller wegnehmen will. Kurz bevor er ihm das Blut ins Gesicht spritzt, für das der Typ selbst verantwortlich ist. Denn er hat ihn ja vorher mehrmals ins Gesicht geschlagen. Was Tyler alias Brad einfach so über sich hat ergehen lassen. Bis er den Spieß umgedreht hat. Und dann schreit, während er ihm sein Blut ins Gesicht spritzt:

„IHR WISST NICHT, WO ICH HERKOMME.“

Womit er am Ende gewinnt und der Besitzer der Bar ihn in Ruhe lässt. Die Kämpfenden. Die gegen das Leben und später gegen die Gesellschaft kämpfen. Die fast komplett sinnentleerte Konsumgesellschaft.

Krass, denkt er immer noch. Echt? Ist das wirklich vor dem Tod genauso?

Und sagt dann: „Ja, das sind ja die typischen Phasen. Und da komme ich jetzt in die Wutphase. Du müsstest mich manchmal sehen, im Bus…

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„Das kann die doch nicht machen… Ich weiß gar nicht, was die sich denkt. Will die, dass ich die auf den Mond schieße…?“

„Hat sie denn noch mal mit dir geredet?“

„Nein, nur über den Anwalt.“ Das ist ihre Devise…


„Und irgendwann hört man auf, SMS zu schicken. Irgendwann begreife sogar ich es. Nach ein paar Monaten… Wenn man sowieso keine Antwort bekommt… Immer weiter SMS ins Nichts schicken…“

„Ne, das stimmt. Das würd ich dann auch nicht mehr machen.“

„Ich versteh es nicht…“

„Ich auch nicht.“




Ein paar Minuten nachdem sie gegangen ist, kommen die alten Leutchen rein. Das alte Ehepaar. Obwohl: Bei genauerem Hinsehen sind die noch gar nicht so alt. Aber verbraucht.

Die sind nicht so beliebt. Letztens hat ihm der Kurde gefragt, warum er Rassisten rein ließe, als die unten spielte, die Frau. Er wusste nicht, was er antworten sollte.

Ich lass dich ja auch rein, wäre gut gewesen…

Und außerdem gibt es nur eine Kategorie für einen „guten“, „netten“ Kunden. Nämlich wie viel Trinkgeld der gibt (ich weiß, aber das Leben ist hart…).

Obwohl er ein bisschen Respekt, wenn nicht sogar Angst vor der hat. Weil die manchmal nach Alkohol riecht. Und Frauen, die trinken, davon hat er bei seiner Mutter schon genug von mitbekommen. Um bedient zu sein. Für den Rest seines Lebens. –bis in alle –Ewigkeit. Until the cows come home…

Aber so schlimm, wie der Kurde sagt, ist die auch nicht. Also… Zwar ein bisschen pingelig, aber du wirst die nicht mehr ändern. Nicht in diesem Leben. Und auch der Kurde nicht. Vielleicht wird den ja auch niemand mehr ändern. Außer vielleicht das Leben selbst…das verändert uns alle… Er glaubt ja, die will nur ein bisschen mehr Respekt von den Leuten. Jetzt ist sie schon so alt geworden und keiner hat mehr Respekt…

Letztens hat er die nicht gegrüßt, als die da waren. Weil die ihn einen Tag davor nicht gegrüßt haben. Weil er keinen Bock hatte, die immer nur zu grüßen, ohne dass die zurückgrüßen. Bei manchen Leuten ist das so. Bei ihm noch mehr.

Und so nimmt das Leben seinen Lauf. Die grüßen nicht und er grüßt nicht…und nur, weil beide eigentlich nur mit ein bisschen mehr Respekt behandelt werden wollen…

Die Alte kommt um die Ecke.

Er sagt: „Hallo.“

Sie antwortet: „Hallo.“

Geht doch. Wenn sie mich beim nächsten Mal wieder nicht grüßt, grüße uch eben auch nicht mehr zurück…

Geht doch. Wenn der mich beim nächsten Mal wieder nicht grüßt, dann grüße ich eben auch nicht mehr…

Und so nimmt das Leben seinen Lauf.


Im Radio singt ein Mann, einer dieser jungen deutschen Sänger, die zwar gut sind, aber sich auch irgendwie alle gleich anhören, über Liebe. Von allen Themen. Die Männer singen über die Liebe und die Frauen schaffen Tatsachen.

Und ich schreib eine SMS
und ich schick sie nicht weg…












Freitag, 28. Oktober 2016

Schuld












Ich weiß noch, wie wir damals in der Disko waren. Das eine Mal. Das letzte Mal?

Wie ich getrunken hab. Wie ein Tier.

Wodka, Weizen und alles, was ich an Alkohol bekam. Alles.

Du nichts. Du musstest ja fahren. Und trinken war auch nicht so deins. Dein Ding.

Mich ödete das alles so an. Alles. Wirklich alles. Die Disko, die Musik, die Ehe, die Leute in Bonn, das Leben. Ich wollte mehr. Mehr vom Leben. Es muss doch noch mehr geben als das. Als diesen Alltag. Immer die gleichen Leute. Immer die gleiche Musik. Immer die gleiche Arbeit. Alles langweilig. Ich wollte mehr…

…und heute habe ich weniger. Das hat man davon…

Du wolltest mehr, wolltest Spaß haben, wolltest die Welt ficken, wolltest deine russische Nachbarin ficken. In den Arsch. Auf der Waschmaschine im Keller. Wolltest ihre Freundinnen ficken. Wolltest alles ficken, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Wolltest leben.

Wie einfach und doch wie schwer. Damals wusstest du noch nicht, dass man in Deutschland nicht leben kann, nicht leben darf – es könnte ja die Nachbarn stören.

Wolltest das Leben genießen, wenigstens ein bisschen, bevor du das Zeitliche segnen musstest. Den das wusstest du schon immer – seit du damals als 15-Jähriger in deinem Zimmer unter dem im Bett lagst und dich fragtest, wie viele Jahre dir noch bleiben sollten…wie das wäre mit 30, 35, wie viele Jahre dir dann noch bleiben würden…

…und Angst hattest

and in short, I was afraid

Jetzt weißt du, wie das ist…

…wie sich das anfühlt…

Hättest du das doch mal damals gewusst…

(hättest du auch nichts machen können)


Nichts außer in der Disko auf der Tanzfläche zu stehen, zu bis oben hin, voll von Alkohol, Sehnsucht und Lust, und dieses Lied in ihre Ohren zu singen, zu schreien. Damit sie es auch bloß versteht

Que yo no tengo la culpa…

Que yo no tengo la culpa…

Immer wieder. Immer wieder hattest du nicht die Schuld. Denn das heißt die Zeile auf Deutsch: „Ich bin nicht schuld…“

Heute weiß ich, dass das Lied politisch ist. Damals wusste ich das nicht. Politisch passt auch mehr zu heute als zu damals. Damals war das persönlich, das Lied. Persönlich. Ich nahm das persönlich.

Du wolltest mehr und sie wollte nicht mehr. Sie hatte keinen Bock mehr. Hatte darauf natürlich keinen Bock. Sie wollte sich innerhalb der Gesellschaft austoben. Austanzen. Normal tanzen. Spaß haben. Lächeln.

Ich wollte auch nicht mehr. Ich wollte dieser Gesellschaft den Arsch aufreißen. Die Brust, um zu sehen, ob da irgendwo, irgendwo in diesem tristen Deutschland, noch ein kleines Herz schlägt. Schwach, aber noch nicht tot. Das man vielleicht noch wiederbeleben konnte. Dem man wieder Leidenschaft einflößen könnte. Ich hatte keinen Bock mehr auf die ganze Scheiße. Immer das Gleiche. Zu tanzen wie die anderen tanzen. Zu Musik, die ich nicht mag. Mit Leuten, die ich nicht mag. Und erst ihre Freunde, ihre Familie. Der Horror. Zum Glück wollten die mich nicht sehen…

Ich hatte keinen Bock mehr auf all diese ritualisierten, synchronisierten Bewegungen auf der Tanzfläche, all dieses Arme und Hüften schwingen im Gleichklang der Musik. Nur nicht auffallen, selbst beim Tanzen nicht, alles geregelt. Und das trotz des Alkohols, der natürlich in Strömen floss.

Heute weiß ich, dass es das, was ich wollte, nicht gibt. Nicht in dieser Gesellschaft, nicht in diesem Leben.

Wir müssen alle sterben…

…und ich war schon seit so vielen Jahren tot.

Saß nur noch da und trank. Bestellte gleich zwei Bier auf einmal. Trank ihrs mit. Aber dann kam da dieses Lied. Das ich immer geliebt hatte. Dieses spanische Lied. Das so anders war als diese typischen sinnentleerten Latino-Lieder, die von einer Liebe singen, von einer Leidenschaft, die es in Lateinamerika bestimmt nicht gibt. Und wenn, dann nicht in Ecuador. In den Anden. Ich liebte dieses Lied. Das war für mich der duende, der spanische Urgeist. Den schon Lorca versucht hatte, in Worte zu bannen. Und daran gescheitert war…

Was für ein arrogantes Arschloch ich doch war. Kaum hatte das Lied angefangen und sie wollte von der Tanzfläche runter wieder an ihren Platz, an unseren Platz – das konnte sie nämlich nicht tanzen, nicht einfach so wegtanzen – da hievte ich meinen schweren, vom Alkohol auch nicht wendiger werdenden Körper vom Sofa, auf dem wir saßen, runter und stolperte/torkelte Richtung Tanzfläche.

Das wollte ich jetzt tanzen! Der betrunkene Tanzbär persönlich.

Beziehungsweise singen. Ihr ins Ohr singen. Aber das kam später. Zuerst packte ich sie zur Begrüßung erst mal an den Hintern, richtig hart und gar nicht zart, so dass sie auch was davon hatte… Ich packte ihr voll an den Arsch und versuchte sie zu küssen. Sie wollte nicht. Das wollte sie nicht. Das war ihr peinlich, vor den Leuten. Die vorher bestaunt hatten, wie gut sie tanzen konnte. Immer die gleichen Bewegungen. Wie ein festes Ritual. Sie musste mir den Kuss dann am Ende doch geben – ob sie wollte oder nicht – drückte mich danach aber gleich wieder weg von sich. Ich versuchte sogar mich ein bisschen anzupassen, versuchte für ein paar Augenblicke sogar zu diesem Lied zu tanzen – was überhaupt nicht geht, selbst wenn man ein guter Tänzer ist. Und kein voller Tanzbär mit 90 Kilo Lebendgewicht. Aber sobald der Refrain kam, waren diese plumpen Versuche dazuzugehören eh vorbei und ich ging voll in den Kampf-Modus. Fing an wie bekloppt, den Refrain mitzusingen.

QUE YO NO TENGO LA CULPA…

SI YO NO TENGO LA CULPA:…

Wie in Bekloppter. Und selbst wenn ihr das Grapschen und küssen vorher nicht schon peinlich genug gewesen wäre…das Mitgesinge gefiel ihr definitiv nicht.

Wen wolltest du eigentlich damit beeindrucken?! Sie, die Leute, dich…oder gar niemanden? War das etwa ein authentischer Ausdruck deiner Seele, deiner Identität? Vielleicht

In England ist das auch beliebter als hier in Deutschland. Das gibt es ja auch noch Karaoke-Abende in den Pubs. Und die Fußballfans singen auch volle 90 Minuten lang mit, wenn ihr Team spielt (ob gut oder schlecht ist dabei oft sogar egal). Aber in Deutschland, da darf man nur geordnet gut tanzen (am besten noch in einem Tanzkurs gelernt). Selbst das Trinken verläuft, bis auf bei ein paar Jugendlichen, in geregelten Bahnen.

Aber was man nicht darf, was man auf keinem Fall darf, ist seiner Frau in volltrunkenem Zustand mitten auf der Tanzfläche den Refrain eines Liedes in die Ohren zu grölen

QUE YO NO TENGO LA CULPA…

SI YO NO TENGO LA CULPA…

Selbst wenn dieses Lied, wie bei „Entre dos tierras“ definitiv der Fall, durchaus eine persönliche Note für dich hatte. Denn – wie gesagt – heißt Yo no tengo la culpa auf Deutsch: Ich bin es nicht schuld. Ich hab keine Schuld. Und Si yo no tengo la culpa heißt soviel wie: Wenn ich dir doch sage, dass ich nicht daran schuld bin. Dass mich keine Schuld trifft.

Am Ende, selbst nachdem der Refrain schon lange vorbei war, schrie ich nur noch das:

SI YO NO TENGO LA CULPA

So als wollte ich ihr etwas sagen damit. So als hätte das eine tiefere Bedeutung. Hatte es ja auch. Denn ich fühlte mich zutiefst schuldig. An den Streiten, dem ganzen Ärger, den wir hatten. Das konnte Nadine schon immer gut: Mir Schuldgefühle einreden. Denn am Ende unserer Beziehung war ich quasi alleine an allem schuld. Daran, dass ihre Schwester sie nicht besuchte, dass keine ihrer Freunde bei uns vorbeikamen, dass ich immer das Falsche sagte, immer zu ehrlich war und natürlich, dass ich nicht tanzen und nur singen konnte (und selbst das nur im betrunkenen Zustand). Sie war komplett, saß – wie du damals immer sagtest auf ihrem hohen Ross – verteilte die Schuld, schleuderte die Schuld förmlich auf dich herab. So wie du ihr ins Ohr schriest, als gäbe es kein Morgen.

Immer wieder. Bis ihr das Grapschen und Geschreie schließlich zu viel wurde und sie sie die Tanzfläche verließ und wieder an unseren Platz auf dem Sofa zurückging. Aber was solltest du auch machen. Du hast es wenigstens versucht…

…du hast nicht die Schuld…

Zumindest nicht die alleinige Schuld. Das ist wie in diesem Buch, das du gerade liest. Toxic Parents von Susan Forward. Wo die schreibt, dass du nicht schuld bist, weil du noch ein Kind warst, dass du nichts für das Verhalten deiner Eltern kannst. Dass das ihre Schuld war…

…und nicht deine…

Ok, du bist jetzt selber erwachsen, du bist jetzt selber Vater. Du bist jetzt selber schuld. Aber trotzdem: Das, was Susan Forward schreibt, hat dir irgendwie die Augen geöffnet.

Du bist nicht an allem schuld.

Du bist auch nicht an allem schuld!

Du bist auch nicht alleine an allem schuld!

Die anderen haben auch eine Verantwortung!

¡Tú no tienes la culpa!

¡No tienes la culpa de todo!

¡YO NO TENGO LA CULPA!

No de todo

No del todo





Jetzt, wo du so drüber nachdenkst: Vielleicht wusste sie da sogar schon, dass es keine Zukunft gibt. Dass es aus ist.

Vielleicht ist es besser so…

…aber warum tut es dann so weh.