1977-1996: Eine Kindheit und Jugend in Bonn






Das Gedächtnis ist keine 
verlässliche Größe im Leben,
aus dem einfachen Grund, dass 
für das Gedächtnis nicht die
Wahrheit am wichtigsten ist. 
Niemals ist der Wahrheitsanspruch 
entscheidend dafür, ob das 
Gedächtnis ein Ereignis richtig 
oder falsch wiedergibt. Entscheidend
ist der Eigennutz.

Karl Ove Knausgard,











Und am Anfang war das Wort...

Nachts in der Bahn lese ich diese Zeilen Knausgards und denke: Was sind eigentlich deine frühesten Erinnerungen? Wie ich bei José zu Hause war, in der Grundschule. Josés Vater war Spanier und arbeitete bei Haribo. Wohnte sogar glaube ich direkt Wand an Wand mit der eigentlichen Fabrik, einem roten Backsteingebäude aus dem...keine Ahnung, wie lange es Haribo schon gab. Stammte das Werk aus der Nachkriegszeit oder aßen etwa die Nazis oder gar der Führer selbst Gummibärchen, der ja bekanntlich auf Süßes stand und ganze Torten verputzen konnte, im Führungsbunker? Komplett in der "braunen" Variante, mit kleinen schwarzen Hitlerbärtchen, alle gleich, alle uniformiert. Totenköpfe aus Gummi, kleine Soldaten. Eigentlich ein lustiger Gedanke.

Aber wie dem auch sei: Der Vater von José, und natürlich auch seine Mutter und seine Schwester, bewohnten ein altes, aber geräumiges, winkliges Haus neben Haribo. Waren diese Häuser etwa schon vorher da gewesen oder wurden sie erst mit dem Werk gebaut? Was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Oder wurden beide (ungefähr) zur gleichen Zeit gebaut? Oder schlug eine Bombe in Kessenich ein, die groß genug war, um das Areal einer ganzen Gummibären-Fabrik freizulegen... 

Wie dem auch sei: Die beiden Fachwerkhäuser, wo die Türken wohnten, die auch in seiner Klasse waren, waren bestimmt schon vorher da gewesen. Die waren aber auch auf der anderen Seite und standen nicht Wand an Wand mit der Haribo-Fabrik. Hamsa und Murat, so hießen die. Das weiß ich sogar noch. Dass ich mich daran noch erinnern kann, erstaunlich. Das Gedächtnis ist schon ein wahrhaft komisches Organ. Murat war eher dick und klein und Hamsa dünn und lang. Aber mit denen hatte ich nicht so viel zu tun. Das Einzige, an das ich mich noch erinnere, ist, dass die an St. Martin immer in der Metzgerei in der Bergstraße "schnörzen", also singen, gingen und dann Fleischwurst bekamen, die sie ja eigentlich als Moslems gar nicht essen durften. Und Hamsa – oder war es Murat? – (laut deiner Mutter) sagte: "Die esse ich unter dem Tisch, dann sieht Allah das nicht!"

Aber kommen wir zurück zu José – denn der war damals für mich viel interessanter. Denn der hatte Hasen, richtig große, mit langen Schlappohren! Und eine ältere, spanische Schwester, die oben im Haus wohnte und deren Zimmer er nie zu sehen bekam. Die er nie zu sehen bekam, obwohl er das doch so gerne gewollt  hätte - selbst im zarten Grundschulalter schon. (So beginnt eine obsesión...). Ich glaube, ich stellte mir damals schon diese Schwester vor; und die Unterwäsche, die sie im Schrank hatte. Braune, lange Haare, ein hübsches, ebenfalls leicht braunes Gesicht und... "Rassig", eine rassige Schönheit, wie deine Mutter das damals, und vielleicht sogar noch heute, immer nannte. Und außerdem aß er spanische Esel-Salami. Zumindest behauptete das meine Mutter:

Und ich staunte Bauklötze: "Vom Esel?"

"Ja, Esel! Das essen die Spanier so. Esel-Salami."

Bah.

Aber gleichzeitig faszinierte mich das schon irgendwie. So sehr, dass ich glaub ich sogar das angebotene Stück Salami nicht ausschlug. Und wenn es nur nach mir gegangen wäre, hätte ich auch das Kaninchen genommen, das Josés Vater mir verkaufen wollte. Oder schenken? Aber meine Mutter hatte was dagegen. Wie immer.

"Nicht dass die krank sind. Oder alt... Du weißt ja gar nicht, wo der die her hat... Und dann sterben die direkt..."

Nicht dass der dich betuppen will! Wenn es nach meiner Mutter ging, waren alle nur darauf aus, mich zu betuppen. Vielleicht hatte sie ja auch recht, was weiß ich denn, vielleicht wollte der mich ja betuppen...

Auf jeden Fall lernte ich von José auch mein erstes Wort Spanisch. Obwohl es Jahre, ja Jahrzehnte dauern sollte, bis ich vollends verstanden hatte, was er damals eigentlich meinte, mit diesem komischen "bito". Denn auch als ich schon lange mit einer Latina verheiratet war, konnte ich bito noch immer nicht mit "pito" in Verbindung. Erst Jahre später, bei der Lektüre von Carlos Ruiz Zafón, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war nicht "bito", was der meinte, sondern "pito", was so viel heißt wie "Pimmel", "Penis", Schwanz". In Ecuador sagt man mehr "pájarito" oder "verga", deswegen konnte ich das ja nicht wissen. Kein Wunder. Es sind immer diese Wörter, die wir als Erstes lernen, die wir am einfachsten behalten und teilweise, wie in meinem Fall, noch Jahrzehnte mit uns herumschleppen. Und bei "pito" fällt mir auch gleich wieder Josés Schwester ein: Wie sie wohl aussah, seine mysteriöse schon (fast) erwachsene, spanische Schwester? Ich werde es nie erfahren.

Es war glaub ich auch Josés Geburtstag bei McDonald's, dem ich meine erste Erfahrung mit dem anderen Geschlecht verdanke - obwohl ich mich nur noch schwach daran erinnern kann. Sie war Chilenin und gar nicht von meinen Avancen begeistert

Moment mal...

Chilenin??? War da nicht was...??? Vielleicht war ja Sara aus Peru – die ich später noch sehr viel ausgiebiger "betrachten" werde – gar nicht meine erste lateinamerikanische beziehungsweise spanische Femme fatale in meinem Leben. Lange vor Hurricane Nadine und Inma... Wie sie hieß, weiß ich nicht mehr. Und auch nicht, was sie als Chilenin bei uns in Bonn-Kessenich auf der Grundschule machte (obwohl Bonn ja damals noch Hauptstadt war). Manchmal kommt es mir sogar so vor, als hätte ich das Ganze nur geträumt. Die ganze Zeit damals. Wie ein Traum, aus dem ich irgendwann erwacht bin. Verschwommen und doch so viel klarer, so viel einfacher.

Auf jeden Fall waren wir bei McDonald's (dem am Bertha-von-Suttner-Platz, glaub ich). Die hatten da damals so einen Extraraum für Kinder, mit einem langen Tisch in der Mitte und einer kleinen Rutsche, die in ein Bällebad führte. Und ich war eingeladen (das war bestimmt in der Grundschule, denn später, nach der vierten Klasse, ging José auf eine andere Schule). Zusammen mit dieser Chilenin, die er vielleicht kannte, weil seine Eltern aus Spanien waren. Und irgendwann passierte es dann. Keine Ahnung, was mich da geritten hatte. Denn ich war schon immer eher schüchtern, eher ängstlich, wahrscheinlich auch schon als Kind. Nicht so auf dieser Feier, die mir nur sehr schwach in Erinnerung geblieben ist. Doch eine Sache habe ich nicht vergessen: Dass ich irgendwann, vielleicht bei irgendeinem Spiel, mir die Chilenin packte und tatsächlich versuchte...
...sie zu küssen. Und das trotz meines zarten Alters von acht bis zehn Jahren. Natürlich wollte ich sie nicht auf den Mund küssen (zumindest glaube ich das), sondern nur auf die Backe, die Wange, aber ich wollte sie definitiv küssen. Diese schöne, schwarzhaarige Chilenin mit den hohen Wangenknochen (nein, nicht Backen!) und dem rundlichen Gesicht...

Nur sie wollte nicht. Natürlich nicht?! Entzog sich meiner Arme, drehte ihr Gesicht weg. Mit einem leichten Lächeln vielleicht, aber unmissverständlich. War es diese kindliche Ablehnung, die den Grundstein legte für eine lange Reihe anderer Ablehnungen und damit auch für meine Angst vor diesen? Meine Angst, nicht geliebt zu werden, nie geliebt zu werden, nie richtig geliebt zu werden? Weil mich meine Mutter nie geliebt hatte, mir nie das Selbstvertrauen gegeben hatte, das man in dieser grausamen, harten Welt braucht. Eine Mutter, die mir alsbald auch den Kontakt zu José "madig" machte, um ihre Worte zu verwenden. Die mir sagte, dass José kein Freund sei.

"Aber ist doch mein Freund...", protestierte ich.

"Pah! Ein Freund, der jedes Mal, wenn er kommt, mit vollen Taschen nach Hause geht. Was ist das für ein Freund?!" konterte sie.

Sie meinte das Playmobil, mit dem wir immer spielten, wenn José kam. Ich hatte jede Menge Playmobil. Eine Ritterburg, ein Piratenschiff, ein Rallye-Auto und noch jede Menge Kleinkram: Indianer, Cowboys, Ritter, verschiedene Tiere und sogar einen Geist. Aber das Beste waren die Kanonen. Ich liebte die Kanonen! Ich stellte immer die Ritter, Cowboys und anderen Figuren in meinem Zimmer auf und versuchte sie dann mit einer Lanzen oder Hellebarde, die ich in die Kanone steckte, abzuschießen. Das ging besonders gut mit den dünnen schwarzen Kanonen aus den amerikanischen Forts, aber auch mit den dickeren Piratenkanonen und machte richtig Spaß, besonders, wenn die getroffenen Figuren von der Mauer fielen, manchmal sogar gleich zu mehreren. Die Original-Munition hatte ich schon lange verloren; diese kleinen, gelben Geschosse waren ganz schnell in den Weiten meines Kinderzimmers verschwunden, ganz zu schweigen von den grauen, runden Piraten-Kanonenkugeln.

Vielleicht hatte sie ja sogar recht, meine Mutter. Bestimmt, denn sie war schon immer verschlagener als ich und erkannte ebendiese Verschlagenheit auch in anderen. Vielleicht machte sich ja José tatsächlich die Taschen mit Spielzeug voll, wenn er zu mir kam. Was weiß ich schon?! Genau wie damals, bin ich auch heute noch viel zu naiv, zu gutgläubig, um so etwas zu bemerken. Und ich glaube, ich werde das auch nicht mehr lernen, zumindest nicht in diesem Leben. Vielleicht übertrieb ja meine Mutter – wie so oft auch ein bisschen. Wie mit Iwan, dem jugoslawischen Jungen, der auch in meiner Klasse war, und auf den sie damals nach der Schule aufpasste. Und mit dem sie sich auch anlegte, angeblich, weil er zu ihr gesagt hatte, dass sie ihm nichts sagen könne, weil sie nicht seine Mutter sei. Darüber hat sie sich dann so aufgeregt und es so oft meinem Vater und sogar glaub ich mir erzählt, bis Iwan irgendwann gar nicht mehr zu uns kam. Genau wie José – vielleicht hatte ihn meine Mutter ja irgendwann sogar wegen seiner "vollen Taschen" zur Rede gestellt, zuzutrauen wäre es ihr auf jeden Fall gewesen. Jahre später, als ich ihn beim Basketball auf dem "Roten Platz" in Kessenich wiedersah, als Jugendlicher, weiß ich gar nicht, ob er mich überhaupt wiedererkannt hatte. Das machte sie mit allen meinen Freunden. Keiner passte ihr. José war ein Dieb, Sascha hörte sich am Telefon an wie ein Mädchen und war schwul oder zumindest komisch (genau wie Lars) und Carsten aggressiv – an allen hatte sie irgendetwas auszusetzen, keiner war ihr gut genug für ihren Sohn. Aber ich mochte José, auch wenn sie ihn für einen Spielzeugdieb hielt. Mit ihm machte ich immer so spannende Sachen, wie den Hebel der Notrufsäule, die es damals noch gab, betätigen und bei den Leuten in seiner und meiner Straße Klingelmäuschen spielen und weglaufen (bitte, Kinder, macht das nicht nach!). Die herrliche Angst dabei, Angst davor, erwischt zu werden. Angst, wenn die Stimme aus der Notrufsäule zu hören war oder jemand aus der Gegensprechanlage laut "Ja?" oder "Hallo" sagte (dito). Oder war das mit jemand anderem, mit dem ich mir diese Späße erlaubte? Ich weiß es nicht mehr. Ist ja auch egal.

Und obwohl es mit José natürlich mehr Spaß gemacht hätte, fand ich es damals gar nicht so schlimm, dass ich fortan zu Hause alleine spielen musste. Mit mir selbst spielen musste. Ich dachte mir Kämpfe und Schlachten aus und versetzte mich in die verschiedenen Playmobil-Figuren hinein. Das mochte ich schon immer: mich in fremde Rollen hineinversetzen. So war ich abwechselnd Ritter, Soldat, Pirat oder irgendein anderer Held, wie im Fernsehen, wie in den Filmen, die ich guckte, den Cowboy-Filmen, den Schlachtenschinken, den Bud-Spencer-Filmen (aber die kamen, glaube ich, später). Ein einsamer, rauer Held, der, auf sich allein gestellt, den Kampf entscheidet, die edle Dame befreit (nein, so weit war ich damals noch nicht). Aber das Geilste war das Abschießen der Figuren mit den Kanonen. Denn wo ich mich heute jedes Mal ärgere, wenn mir irgendetwas aus Versehen runterfällt, da versetzte es mich damals in helle Freude, wenn der Ritter in seiner Rüstung und seinem Visierhelm doch noch von den Zinnen viel, nachdem er von einer Lanze getroffen worden war, die ich mit den schmalen Kanonen aus den amerikanischen Forts abgeschossen hatte, weil das mit ihnen viel besser ging als mit den dicken Piratenkanonen. Das war geil, die abzuschießen und manchmal sogar zwei oder mehr zu treffen...

Ja, das war schon in Kessenich. Bonn-Kessenich, für alle die nicht ortskundig sind. Der Heimat von Haribo. In meinem Zimmer unter dem Dach dieser zweigeschossigen Wohnung, die meine Eltern in Bonn gefunden hatten – warum eigentlich in Bonn? Rechts wohnte ich und links hatte meine Schwester ihr Zimmer. Davor befand sich der sogenannte Vorraum, unter dessen Dachschräge sich im Laufe der Jahre alle möglichen Spielsachen und alle möglichen anderen Dinge ansammelten. Dieser hatte sogar eine alte Räucherkammer, deren Luke wir nie öffneten und in der sich angeblich ein Bienen- oder Wespennest befand oder einmal befunden hatte. Vom Vorraum führte eine schmale, alte Holztreppe, die meine Mutter immer "Hühnerleiter" nannte, nach unten, in den ersten Stock, wo das Wohnzimmer, Esszimmer, die Küche und das Schlafzimmer unserer  Eltern war. Außerdem gab es dort noch einen großen Balkon und das einzige Badezimmer. Selbst für die damalige Zeit war das für den Preis mit gut 140 Quadratmetern schon eine ziemlich große Wohnung. Zwar ein Altbau mit richtig alten, gusseisernen Heizkörpern und Holzdecken (dazu später mehr), aber schon ein richtiges Schnäppchen, was meine Eltern da gemacht hatten. Okay, das Ganze hatte auch so seine Nachteile. Das Haus befand sich nämlich in einem Hinterhof, wofür ich später schwer von einem Klassenkameraden stigmatisiert wurde (danke, Christoph, echt! Und das obwohl meine Eltern die seinigen freundlicherweise nach einem Elternabend nach Hause gefahren hatten. Oder seine Eltern meine? Oder wie auch immer. Was für ein Arschloch, auf jeden Fall! Denn so schlimm war der Hinterhof gar nicht. Okay, er war nicht schön, eher grau in grau, mit hohen nackten Hauswänden ohne jegliche Fenster und alten Garagen, aber trotzdem, wen kratzt das schon? Außerdem konnte man da geil Sport machen. Vielleicht nicht gerade Basketball gegen die Hauswand der Nachbarin spielen, aber Tischtennis und Federball (damals nannte ich das noch so...) war schon okay. Da hatten dann auch die Nachbarin, die damals schon in Rente war, und die "Jungfrauen", die trotz dieser wenig schmeichelhaften Bezeichnung, die meine Eltern für sie erwählt hatten auch kurz vor der Rente standen und im Vorderhaus wohnten, nichts dagegen. Nur mit der Filmfirma, ja "Filmfirma" (die drehten so Nachrichtenfilme und Berichte fürs Fernsehen, glaube ich) hatten meine Eltern immer wieder Ärger, weil die angeblich zu laut waren. Die hatten da so eine Art Gitterkäfig (wahrscheinlich für die Kameras und anderen Gerätschaften), den sie nachts immer zuschlugen, woraufhin sich meine Eltern prompt wieder bei ihnen beschwerten. Typisch deutsch eben. Und obwohl meine Eltern (O-Ton mein Vater: "Wofür habe ich denn eine Rechtsschutzversicherung?!") sogar einen Anwalt einschalteten und penibel genau über jede Lärmbelästigung Buch führten ("die haben heute Nacht schon wieder so Lärm gemacht, das ist so schlimm..."), brachte das Ganze nur Aufregung und Ärger auf beiden Seiten. Und wenn die Mitarbeiter der Filmfirma Lust auf Rache hatten, ließen sie einfach das kleine Klofenster auf – denn das endete direkt vor unserer Wohnungstür im Hausflur. Groß war bestimmt die heimliche Freude (Deutsche haben ja die Schadenfreude praktisch erfunden), wenn da einer gerade auf dem Klo saß und sein großes Geschäft verrichtete und im gleichen Moment einer von uns, oder noch besser alle, zur Tür rein oder rauskamen. Aber mich störte das nicht; und die von der Filmfirma störten mich auch nicht. Bestimmt hatten die noch genauso ein Klo wie wir, komplett mit Kette zum Ziehen. Vor uns hatte in der Wohnung eine alte Frau gelebt, die niemanden mehr hatte und da alleine lebte. Die hatte in dem Haus den Krieg verbracht (ich glaube, selbst damals war sie schon alleine) und war, glaube ich, an Krebs gestorben. Und irgendjemand hatte gesagt, ob meinen Eltern oder mir, weiß ich nicht mehr, dass sie da in der Badewanne gestorben war, keine Ahnung. Oder war das nur der Putzfimmel meiner Mutter gewesen. Auf jeden Fall ist das hängengeblieben: Das Bild der alten Dame, wie sie langsam stirbt, in diesem großen Haus, in dieser großen Wohnung, ganz alleine. Vielleicht sogar in der Badewanne. Das machte mir irgendwie Angst. Die arme alte Dame. Im Krieg. Nach dem Krieg. Am kämpfen. Immer am kämpfen. Gegen das Leben, gegen die Liebe, gegen die Einsamkeit. 2000 Jahre Bonner Einsamkeit. Bis sie den Kampf schließlich verlor, den aussichtslosen Kampf gegen das Leben. Und ihrer Riesenwohnung mit Wintergarten und Balkon starb.
 Obwohl, wenn ich so drüber nachdenke, war das gar nicht unsere erste Wohnung in Kessenich. Denn wir zogen gar nicht von Mondorf auf der anderen Rheinseite, der sogenannten "Schäl Sick", in die Straße in, in der meine Eltern bis vor kurzem noch wohnten. Zuerst zogen wir in den Maarweg, auch in Kessenich, aber näher an den Bahngleisen, näher am Regierungsviertel, das es damals dort noch gab, da Bonn noch Hauptstadt war. An diese erinnere ich mich jedoch nur noch schemenhaft. Zum Beispiel daran, dass ich einmal in einen Kaktus fiel/gestoßen wurde, der bei den Nachbarn vor dem Haus stand (obwohl das ja irgendwie gar nicht sein kann, denn wäre besagter Kaktus dann nicht im Winter eingegangen?!). Aber auch das überlebte ich, nachdem meine Mutter die Stacheln einzeln rausgepuhlt hatte. Schlimmer war da schon die Nachbarin von über uns, Frau Schaufel, eine alte und sehr einsame Frau, die, wie so viele "Menschen" in diesem Land, Kinder nicht mochte. Deshalb fühlte sie sich genötigt, jedes Mal, wenn wir uns auch nur einen Zentimeter bewegten, mit einem Besen von unten gegen die Decke zu hauen (zum Glück wurde sie ihrem Namen nicht hundertprozentig gerecht und nahm wenigstens keine Schaufel). Aber man kann Kinder nicht anbinden. Zumindest sagte mein Vater das immer. Ob auch zu ihr direkt weiß ich nicht. Auf jeden Fall ärgerten sich meine Eltern so sehr über Frau Schaufel, dass sie da bald wegzogen. Aber da war ich noch so klein, dass ich mich kaum an irgendetwas Konkretes erinnere und das eher Hörensagen ist. Hier verschwimmt also ganz klar Fakt und Fiktion...
   Genau wie bei der Zeit davor in Mondorf, aus der ich nur eine Narbe auf der Stirn als bleibende Erinnerung zurückbehielt. Denn laut den Erzählungen meiner Mutter soll ich hier, in dieser Wohnung, die direkt an der Hauptstraße lag, einmal mit neuen Schuhe so schnell gerannt sein, dass ich stolperte und so hart gegen die Tür fiel, dass die hieraus resultierende Platzwunde sogar genäht werden musste.

   "Mit vier Stichen!", sagte meine Mutter später immer.

Oder waren es mehr? Oder weniger? Mit wie viel Stichen wird man eigentlich in der Regel genäht? In Mondorf soll ich auch zum ersten Mal "auffällig" geworden sein, indem ich mich – laut meiner Mutter – auf der Straße mit einem Motorradfahrer anlegte. Was sagte sie immer? Dass ich ihn so provoziert hatte, dass er von seinem Motorrad abgestiegen war und auf mich zugekommen war? Was konnte ich denn gesagt haben, das ihn so in Rage gebracht hatte? Arschloch? Keine Ahnung. Wichser? Auf keinen Fall. Aber auch "Arschloch" kommt mir reichlich frühreif vor, für mein Alter von damals. Denn wie alt mochte ich da gewesen sein? Noch keine sechs, soviel ist sicher, denn ich war in Kessenich auf der Grundschule und nicht in Mondorf. Was sagte ich also zu dem Typen, was ihn veranlasste, so wütend auf mich zu sein? Und überhaupt: Was bringt schon einen erwachsenen Mann dazu, so was zu machen? Was muss das für ein Verrückter gewesen sein? Wenn das überhaupt stimmt, überhaupt so war, wie meine Mutter es immer behauptete. Warum stellte sie sich damals (wie heute) eigentlich nicht vor ihr Kind, wenn es so angegangen wird? Wir wissen es nicht. Denn aus dieser Zeit in Mondorf und in der Maarstraße ist nicht viel geblieben. Aber eins ist sicher: Meine Mutter hatte schon immer ein (fast schon) unnatürliches Interesse daran, meine aggressiven, männlichen Impulse zu unterdrücken, kleinzuhalten. Es gab da immer wieder Gerüchte, Andeutungen, Unausgesprochenes, dass sie in ihrer Kindheit oder Jugend selbst Gewalterfahrungen (welcher Art auch immer) gemacht hatte. Gerüchte, die von meinem Vater noch weiter befeuert wurden, als er kürzlich sagte: "Du warst doch damals mit dem...zusammen, der Probleme mit dem Gesetz hatte..." (Den genauen Namen habe ich leider vergessen, irgendwas typisch Deutsches). Oder sagte er etwa...

...nein, lassen wir das.

Aber gerade dann hätte sie anders reagieren sollen, statt ihrem Sohn jahrelang seine angebliche Neigung zur Gewalt, seine Aggression vorzuhalten.

Genau wie bei dem einen Mal, wo er, wo ich angeblich von diesen Brüdern in Kessenich (die sich nicht nur, weil sie aus einer Großfamilie stammten, bereits einen Ruf erarbeitet hatten) verprügelt worden war. Die hatten mich damals laut meiner Mutter sogar in die Eier getreten. Woran ich mich allerdings beim besten Willen nicht mehr erinnere, obwohl es bestimmt eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung gewesen sein muss. Aber warum hat sie nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit die dafür bestraft würden, damit sie zur Rechenschaft gezogen würden? Weil ich sie etwa vorher so provoziert hatte, dass ich das verdiente, diese kleine Abreibung? Ich persönlich, wenn jemand meinem Kind etwas tun würde...ich würde durchdrehen. Der oder die würde mich nie wieder loswerden, bis ich nicht Genugtuung, Sühne, Rache erfahren hätte. Ich würde alle Hebel in Bewegung setzen. Der oder die würde den Tag verfluchen, an dem er oder sie sich mit meiner kleinen Familie angelegt hätte. Ich hab da schon so meine Fantasie und da kommt ganz viel Gewalt drinnen vor, das können Sie mir glauben. Ganz viel sinnlose oder vielleicht gar nicht so sinnfreie Gewalt. Aber sie, meine "Mutter", tat das nicht, weder bei dem komischen Motorradfahrer aus Mondorf noch bei diesen großen, kräftigen, fast schon fetten Brüdern aus dieser Großfamilie in Kessenich, an deren Namen ich mich nicht erinnere und die ich später, Jahre später wiedertraf. Oder zumindest einen von ihnen. Auf der Kirchenfahrt. Da trieben die sich rum, auf der Kirchenfahrt, diese gewaltbereiten Arschlöcher. Womöglich noch als Gruppenleiter. Aber egal... So war das halt bei mir zu Hause... Aber es ist mir trotzdem bis heute unverständlich, warum meine Mutter bereits damals schon Angst vor mir gehabt haben soll...vor ihrem Sohn, der irgendwann zu einem Mann werden würde, einem ausgewachsenen Mann. Der irgendwann in die Pubertät kommen würde. Damit konnte sie nicht umgehen, dass ich erwachsen wurde. Aber war das wirklich mein Problem? Nope. Ich glaube nicht. Darüber habe ich letztens – als ich noch Kontakt zu meinen ihnen hatte, meine ich – mit meinen Eltern diskutiert. Das heißt, ein richtiges Diskutieren war das eigentlich gar nicht. Das hätten meine Eltern gar nicht zugelassen. Und so brachte ich munter Argumente vor, nur damit meine Eltern sie vom Tisch wischen konnten, sie für nichtig erklären konnten. Wie früher eben... Was noch lange nicht heißen soll, dass ich nicht (auch) recht hatte. Oder lag das ganze Theater von damals wirklich nur an meinem schwierigen, impulsiven, "aufbrausenden" männlichen Naturell? Wohl kaum. Aber das werden die nie begreifen, da habe ich die Hoffnung schon lange aufgegeben – deswegen auch der Kontaktabbruch.

Meine Eltern wohnten also in Bonn-Kessenich, kloppten sich mit Frau Schaufel rum, die Kinder und wahrscheinlich auch die Welt selbst hasste, ich fiel in den Kaktus, sie zogen um, ich wurde von diesen Brüdern aus der Großfamilie verprügelt, die mir in die Eier traten oder schlugen oder was auch immer, und irgendwann kam ich dann auf die Grundschule, die Erich-Kästner-Grundschule, direkt gegenüber von Haribo, und traf dort José, den Sohn dieser Familie aus Andalusien, dessen Vater mir ein Kaninchen verkaufen wollte, das meine Mutter aber nicht wollte und der mir das Playmobil unter der Nase wegstahl (wenn man meiner Mutter Glauben schenken will).

Es ist nicht viel, was einem die Zeit lässt. Die frühe Kindheit ist für immer weg, war wahrscheinlich nie da, denn als Kind schafft man keine bleibenden Erinnerungen, zumindest in diesem Alter noch nicht. Da lebt man einfach. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ist einfach nur da, lebt einfach nur, einfach so vor sich hin, vielleicht zum letzten Mal in diesem Leben.

Viel mehr weiß ich nicht mehr. Es ist alles weg, so wie ich auch irgendwann einmal komplett weg sein werde. Sogar die Erinnerung an mich wird irgendwann komplett ausgelöscht sein. Was ist das bloß für eine Scheiße, in die wir da reingeraten sind, in die wir durch die Geburt hineinrutschen, ob wir nun wollen oder nicht?!

Aber egal: Ich ging also auf die Erich-Kästner-Grundschule in Bonn-Kessenich, gegenüber von dem Haribo-Werk, in die Klasse von Frau Rau. Die war da Lehrerin und die erste Frau (außer meiner Mutter vielleicht), der ich in den Ausschnitt guckte. Frau Rau hatte braune, strähnige Haare, die hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, und wohnte, glaube ich, auch in Kessenich. In der Tat war der Ausschnitt das Einzige, an das ich mich bei Frau Rau erinnere.

Männer...

Oder der deutsche Grundschulunterricht...

Oder einfach nur ich...

Dabei passte Frau Rau eigentlich gar nicht in mein (späteres) Beuteschema. Sie war zwar nicht groß, aber auch nicht so klein wie meine späteren petit femmes fatales. Und obwohl sie nicht wirklich typisch deutsch aussah, war sie auch nicht so südländisch oder gar exotisch wie Sara, Conchita oder Nadine. Aber ich hatte es mir ja auch nicht bewusst ausgesucht, ihr in den Auschnitt zu gucken, wurde quasi von diesem Anblick kalt erwischt. Sie beugte sich über den Tisch, an dem ich nichts ahnend und natürlich komplett unschuldig einen Aufsatz über deutsche Heilige am Schreiben war und zack! - ich musste ja hochgucken, sie war ja schließlich meine Lehrerin, das wäre ja unhöflich gewesen - war da ihr Ausschnitt. Und ihr BH darunter. Oder hatte sie gar keinen an. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, nach all diesen Jahren, kommen mir echt Zweifel an dem BH. Denn wie alle Frauen in meinem Beuteschema war sie obenrum nicht so gut bestückt, das weiß ich noch ganz genau, hatte nicht so viel Holz vor der Hütte - Sie wissen schon, was ich meine -, und da hätte es ja durchaus sein können, dass sie gar keinen BH anhatte. Sah ich etwa in meinem zarten Grundschulalter schon ihre...Brüste? Ihre...Brust? Ich weiß es nicht mehr, es ist für immer in den endlosen Weiten der Vergangenheit verschwunden; nur an die braune Farbe ihrer Haut erinnere ich mich, der Haut über ihren Brüsten, die sehr braun - für eine Deutsche - und ein bisschen schrumpelig, faltig war, wie soll ich das sagen? Das weiß ich noch. Mehr nicht. Im Endeffekt sah ich also gar nicht ihre Brust beziehungsweise ihre Brustwarze. Die Brust meiner Mutter war also weiterhin der einzige weibliche Busen, den ich zu Gesicht bekam, wenn diese mal wieder nach dem Duschen nackig durch die Wohnung spazierte.
 
Jahre später, als ich schon aus dem Haus war, berichtete meine Mutter mir, sie habe Frau Rau bei Stüssgen gesehen, meine alte Grundschullehrerin, sie sei alt geworden. Und ich dachte nur an diesen Ausschnitt.

Ansonsten war die Grundschulzeit eigentlich gar nicht so schlimm. Da meine Mutter nachmittags noch auf Davor aufpasste, einen jugoslawischen Jungen, dessen Vater bei Haribo arbeitete, war ich nie allein zu Hause, hatte immer jemand zum Spielen (aber vielleicht verkläre ich das auch). Bis er irgendwann zu meiner Mutter sagte, dass sie ihm gar nichts zu sagen habe, sie sei ja schließlich nicht seine Mutter. Und danach irgendwann nicht mehr kam, wobei ich natürlich nicht weiß, ob sie keine Lust mehr auf ihn hatte oder er nicht mehr auf sie oder einfach beide sich nicht mehr riechen konnten.

Aber das konnte er ja auch nicht zu meiner Mutter sagen. Zu jedem, aber doch nicht zu ihr, die auch noch nach Jahren ohne Kontakt anonym bei meinem Onkel anrief, um zu sehen, zu hören, ob er noch lebte. Oder was auch immer sie sonst damit bezweckte. Vielleicht stand sie ja auf ihn, was weiß ich, keine Ahnung, aber davon später mehr.

Im Allgemeinen jedoch war die Grundschulzeit, anders als vielleicht später meine Zeit auf dem Gymnasium, eigentlich noch ganz okay. Zwar kam Davor nicht mehr zu uns nach Hause, und José irgendwann, nach der Episode mit dem angeblich geklauten Playmobil, auch nicht mehr, aber dafür sah ich die beiden ja noch in der Schule. Sie waren ja schließlich in meiner Klasse. Und in den Pausen spielten wir Fußball, denn auf dem Schulhof waren die Linien eines kleinen Fußballfeldes eingezeichnet und Tore gab es auch. Zwar ohne Netz, aber egal. Es gab sogar eine richtige Torwand, wie im Fernsehen, aber mit der hatte ich mit meinen zwei linken Beinen nicht viel zu tun. Und obwohl ich natürlich nicht so gut Fußball spielen konnte wie Davor (der immer und gerne im Tor stand), José oder die anderen - eigentlich konnte ich gar kein Fußball spielen -, war ich in der Pause trotzdem immer beschäftigt. Dann spielte ich eben "Eierlappen" mit Frank, der genauso schlecht im Fußball war wie ich (meine Liebe zum Basketball sollte ich erst später entdecken), immer den Ball gegen diese kleine Mauer aus Holzblöcken am Rande des Schulhofes tretend. Was damals überhaupt nicht monoton war, sondern richtig Spaß machte, den Ball immer wieder zurückzuschießen, egal aus welcher Lage, auch von ganz hinten versuchte ich es, selbst wenn es aussichtslos erschien, dass er wieder zurück an die kleine Mauer prallte.

Auch später noch, im Urlaub in Jugoslawien, konnte ich mich stundenlang alleine mit einem Ball beschäftigen, so dass meine Eltern immer leicht genervt sagten: "Jetzt mach doch mal ne Pause!" "Du musst lernen, deine Kräfte richtig einzuschätzen!" "Du holst dir noch einen Sonnenstich!" Was wussten die schon von meinen Kräften, den Kräften eines 13-Jährigen?! Und welcher 13-Jährige weiß schon seine Kräfte richtig einzuschätzen?! Aber irgendwann hatte ich dann auch Angst vor einem Sonnenstich (ohne, dass es dafür irgendwelche konkreten Anzeichen gegeben hätte) und hörte mit dem Spiel auf. Aber ich war doch jung, verstanden sie das etwa nicht?! Anscheinend nicht, zumindest nicht wirklich.

Es ist nicht viel, was aus dieser Zeit bleibt. Es bleibt ohnehin nie viel von der Vergangenheit. Nur Fetzen, Bruchstücke, Fragmente. Tschernobyl vielleicht. Daran erinnere ich mich, an den Sandkasten und Tschernobyl. Damals durften wir nicht raus, zumindest bei Regen nicht. so hieß es zumindest immer, im Fernsehen. Und wenn wir doch mal in den Regen gekommen waren (wir waren ja schließlich

Neben dem Sandkasten und dem Fußballfeld war da auch noch so ein komisches Klettergerüst. Das stand auf vier Holzstützen, so dick wie Stämme, die etwa zwei Meter hoch waren. Oder vielleicht sogar höher. Diese wiederum standen in einem Rechteck auf diesem Gummiboden, diesen Gummiplatten, die man häufig auf Spielplätzen findet. Damit sich keins der armen Kinder verletzen würde, sollte es doch einmal von da oben runterfallen. Wenn es dann hoch käme, oben auf diese Balken, die wie ein überdimensioniertes Lattenrost auf den vier Holzstützen lagen. So runde Balken, mit Abständen zwischen ihnen, die groß genug waren, dass man zwischen ihnen hochklettern konnte, wenn man sich nur geschickt genug anstellte. Wenn man sich irgendwie - da musste irgendein Trick sein, oder wie machten das sonst die anderen - da hochschwang. Was ich aber nicht schaffte, denn ich war zu ungelenk, vielleicht auch zu langsam, hatte zu wenig Schwung oder das falsche Timing, was weiß ich. Und dann saßen die da oben, auf den Holzbalken, und guckten auf mich herab, der ich nicht hochkam, egal, wie sehr ich es versuchte. Was für ein Scheiß-Gerüst! Die hätten mir ja auch mal helfen können, tolle Freunde. Denn egal, wie sehr ich es auch versuchte, ich kam da nicht hoch. Es war nicht so weit, dass ich gesagt hätte, ich komme da jetzt nachmittags hin und übe das, aber frustrierend war es schon. Da unten zu stehen, während die anderen da oben, in luftiger Höhe, lachten und redeten und man selbst wie ein begossener Pudel dastand und sehnsüchtig nach oben guckte. Wie bestellt und nicht abgeholt. Aber einmal, einmal schaffte ich es, keine Ahnung wie. Einmal schaffte ich es, da hochzukommen, ich glaube sogar mit der Hilfe von denen. Denen, die mich sonst unten stehen ließen. Sie drückten, schoben und hoben mich an, und plötzlich saß ich da oben, auf den Balken, mit ihnen. Das war vielleicht ein Hängen und Würgen, aber am Ende war ich oben. Einmal, nur einmal hatte ich es geschafft, genoss den Ausblick, obwohl mir ein bisschen schwindelig war (ich hatte schon immer Höhenangst), war da oben, gehörte dazu, zu den Coolen, wenn auch nur einmal. Einmal und nie wieder. Denn besonders gelenkig war ich noch nie. Ich war sogar bei Frau Rau bei der Motorik-Förderung oder wie das auch immer hieß. Im Motorik-Sonderkurs, für die motorisch nicht ganz so Begabten. Gebracht hat das natürlich alles nichts. Null Komma nichts. Denn die Extraeinheiten für die Ungelenkigen bewirkten eher das Gegenteil. Das ist wie so oft, wenn man es gut meint, ne, Frau?! Dann erreicht man genau das Gegenteil: Nämlich, dass man sich ausgegrenzt fühlte, noch ausgegrenzter als man vielleicht ohnehin schon war. So als wäre irgendetwas mit einem nicht in Ordnung. So als wäre man ein Spasti, ein Spastiker, wie wir das damals nannten (obwohl wir natürlich gar nicht wussten, was das eigentlich war, ein Spastiker). Etwa so: "Halt die Klappe, du Spasti!"Oder: "Der ist voll der Spasti!"

Gab es damals noch mehr solcher Situationen, wo ich nicht oben auf dem Gerüst saß, sondern nur von unten sehnsüchtig hochschaute, während die anderen oben Spaß hatten? Wenn ich mich das frage, fällt mir spontan der Schwimmunterricht ein. Denn da ich erst sehr spät zu schwimmen anfing, fand mein Schwimmunterricht nicht wie der der anderen im großen Becken statt, sondern bei den "Sonderschwimmern" im kleinen Becken, das düster und versteckt hinter dem großen lag. Fing das also damals schon an? Das mit den Gedanken, mit den Sorgen, das Gefühl nicht richtig, nicht wirklich dazuzugehören? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Aber auch nicht ausschließen. Denn ich war schon in der Grundschule ein eher ängstliches, zurückhaltendes Kind. Das kaum etwas sagte, von alleine zumindest nicht. Das war auch später auf dem Gymnasium noch so, vielleicht sogar noch ausgeprägter. War ich einfach so oder wurde meine Schüchternheit durch irgendetwas hervorgerufen? Durch irgendein einschneidendes Ereignis. Ich kann mich an keins erinnern...was nicht unbedingt heißen muss, dass es keins gab... Das war so schlimm mit mir, mit meiner Schüchternheit, die von den anderen  gern als "Stille" entschärft wurde, dass ich mich noch genau an das eine Mal erinnere, wo ich mich getraut habe, die Lehrerin direkt anzusprechen. Da gab es irgendeinen Konflikt, einen Krieg, eine Krise, was weiß ich. Auf jeden Fall ging es um Lybien, ja, Lybien war definitiv involviert. In was für einer Weise auch immer. Das war eine ziemlich heikle Situation damals. Die Amerikaner waren - wie immer - auch beteiligt und es ging um das Mittelmeer, glaube ich. Und mein Vater, der immer schon Angst vor dieser Art von Konflikten gehabt hatte (neben seiner Angst vor Gewittern), vielleicht auch wegen seinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg bei der U-Boot-Waffe gewesen war, saß abends gebannt vor dem Fernseher und kommentierte etwas, was wiederum ich aufschnappte und meiner Lehrerin erzählte. Irgendwas mit Schnellbooten, dass die mit denen ganz schnell da wären - wie gesagt, ich hatte wirklich keine Ahnung, wovon ich sprach, ich wusste noch nicht mal, wo "da" überhaupt war. Und Frau Rau war überrascht. Guckte mich verdutzt an und sagte irgendwas, weil sie nicht wusste, was ich meinte. Weil sie das nicht von mir erwartet hatte und weil es wahrscheinlich komplett aus dem Zusammenhang gerissen war. Fragte aber auch nicht genau nach, was ich meinte. Oder doch? Doch, ich glaube doch...aber wie gesagt, so richtig erklären konnte ich das dann doch nicht. Stattdessen faselte ich nervös irgendetwas von Schnellboot, dass die schnell da sein könnten, wenn die wollten. Und sie guckte mich einen Moment erstaunt an und ging dann wieder zum Business as usual über. Was mich enttäuschte und verunsicherte. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich das hier erzähle. Aus irgendeinem Grund ist es hängengeblieben. aus irgendeinem Grund hat es den "Test of Time" überstanden. Sagen Sie es mir. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht, weil ich zeigte, dass ich anders war. Vielleicht, weil ich in diesem Moment aus mir herausging, weil es einer der wenigen Momente gewesen war, wo ich im Unterricht aus mir herausgegangen war.

Ich glaube, das fing damals schon an, das mit den Sorgen. Aber daran erinnere ich mich nur noch sehr verschwommen. Da war irgendein Schulfest. Im Sommer. Soviel ist sicher, denn ein Portugiese, der Vater von irgendeinem Schüler, machte Fisch, so Stockfisch, glaube ich, Makrelen, keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal mehr, worüber ich mir damals genau Sorgen machte. Nur dass ich mir Sorgen machte, das weiß ich. Wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben sogar fast einen ganzen Tag lang. Und das als Kind. Ich meine später, okay, aber fing das damals schon an, in der Grundschule? Wahrscheinlich. Vor irgendetwas hatte ich Angst...weil meine Eltern da auch hingingen. Dass die irgendetwas über mich herausfanden oder hörten. Ich weiß noch nicht mal mehr, was das war. Das war vollkommen irrational. Und am Ende passierte wie immer nichts. Das war schon immer so in meinem Leben. Ich mache mich bekloppt und bekloppt, stunden- und manchmal sogar tagelang, denke immer wieder über irgendetwas nach, und dann passiert am Ende nichts. Und damals fing es an...aber warum? War da die Unschuld schon verloren? Die Unschuld, nach der ich hier suche.

Ja, Frau Rau ... war auch die erste Frau, der ich in den Ausschnitt guckte. Sie war natürlich schon etwas älter und die Haut über ihren Brüsten war auch schon leicht schrumpelig. Und ihre Brüste waren auch nicht gerade Mördertitten, Atombusen ... aber trotzdem war das leider so geil, dass ich mich bis heute daran erinnere. Vielleicht hatte sie auch gar keinen BH an, wer weiß, die 60er waren ja noch gar nicht so lange vorbei ...

Das war wie bei dem anderen Mal, an das ich mich noch erinnere. Das war wieder auf einem Sommerfest, ich glaube dem letzten im 4. Schuljahr. Diesmal machte zwar keiner portugiesische Sardinen auf dem Grill, aber dafür fand ein Fußballspiel statt. Ich weiß nicht, gegen wen wir spielten. Gegen eine andere Schule oder gegen die Parallelklasse, keine Ahnung. Wahrscheinlich war es nur meine Parallelklasse. Aber war Jan wirklich in meiner Klasse? Auf jeden Fall spielte er im Tor. Und der war gut, der Jan, verdammt gut. Der hielt einfach alles. Und ich glaube sogar ohne Handschuhe. Der war einfach nur geil im Tor. Und er hielt, glaube ich, sogar den Kasten sauber, zumindest in der ersten Halbzeit. Und dann kam Ivan. Und der hatte Handschuhe. Zog sich demonstrativ diese Riesendinger über, die eigentlich viel zu groß für ihn waren. Trat mit breiter Brust auf das Spielfeld und löste Jan im Tor ab. Zupfte sich noch einmal die viel zu großen Handschuhe zurecht. Woher hatte der in dem Alter eigentlich schon das Selbstbewusstsein? Ganz anders als du. Aber Selbstbewusstsein ist eben nicht alles. Denn Ivan war im Tor deutlich schwächer als Jan zuvor. Trotz der Handschuhe. Und anders als Jan zuvor muss er auch Tore reingelassen haben. Denn am Ende verloren wir. Und irgendwie muss das schon an Ivan gelegen haben. Und warum erzähle ich das alles? Obwohl ich noch nicht mal mitspielte. Zumindest nicht richtig, glaube ich. Vielleicht hatte ich ja sogar einen Kurzeinsatz. Vielleicht habe ich dabei ja sogar den Ball berührt. Wenn es hoch kommt. Im Vorbeilaufen. Durch Zufall. Weil ich angeschossen wurde. Aber das war nicht das Problem. Das Problem war, gaube ich, dass mein Vater den Pokal gestellt hatte. Das war zwar nur ein kleiner Pokal. Er hatte auch keine besondere Form, keine besonderen Ornamente, nichts. Einfach einer dieser ganz normalen zylinderförmigen Pokale. Aber für mich, mit meine neun oder zehn Jahren, muss er etwas ganz Besonderes gewesen sein. Denn direkt nach der Niederlage, fing ich an zu heulen. Ich weiß auch nicht genau warum. Eigentlich interessierte mich Fußball gar nicht. Aber auf einmal brach alles aus mir heraus. Auf einmal, fast aus heiterem Himmel, brachen alle Dämme. Und ich begann zu weinen, zu heulen. Vor allen Leuten. Wie ein Schlosshund. Und wie immer konnte ich nicht so schnell wieder aufhören. Das war schon immer so. Das hat mein Vater auch immer gesagt, später. Das hat den schon immer gestört. Tierisch gestört. Okay, vielleicht versuchte er ja sogar, mich zu trösten. Aber bestimmt mehr, weil ihm das peinlich war. Dass ausgerechnet sein Sohn da plötzlich anfing zu heulen. Weil die Leute anfingen zu gucken. Weil die Leute guckten. Was sollen die Leute denn denken?!

Oder hatte er vielleicht doch echte Gefühle? Und wollte dich trösten? Du willst ja daran glauben. Besonders heute, am Karfreitag. Vielleicht war es ja auch andersrum. Und das lag alles irgendwie an dir. Äh, an mir. An deinem Naturell, deiner Persönlichkeit. Vielleicht nicht unbedingt damals, als Kind, aber jetzt bestimmt. Weil du schon immer zu aufbrausend warst, zu impulsiv, zu emotional, zu...du selbst! Aber schon als Kind? Ja, siehst du ja! Oder heulte außer dir noch jemand wegen dem verlorenen Spiel?! Das war ein Fehler, da zu heulen. Es gibt bestimmt Kinder, die das auch wissen; auch schon in dem Alter. Und die dann dementsprechend nicht heulen. Ist es vielleicht besser sich zu kontrollieren, sich immer zu kontrollieren, auch schon als Kind, als Junge? Besonders als Junge? Als Mann? "Indianer fühlen keinen Schmerz", hat mein Vater immer gesagt. Das war einer seiner Glanzsprüche. "Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl", sagte er auch gerne. Und heute weiß ich auch, wo dieser Spruch herkommt - und bin schockiert! Aber das müsst ihr schon selber herausfinden.

Währenddessen heulte ich weiter wie ein Schlosshund, weil wir im Fußball verloren hatten. Weil ich so frustriert war. Aber kann man bei einem 10-Jährigen wirklich schon von Frustration sprechen? Selbst bei deinem Elternhaus. Vielleicht ja schon. Ich weiß es nicht, wie so vieles in diesem Leben. Ich meine, so schlimm war es ja auch gar nicht. Ich hatte ja alles, was ich wollte. Immer das neuste Spielzeug, ein eigenes Zimmer, eine Tischtennisplatte. Playmobil ohne Ende, Brettspiele, gute Klamotten, eine Raiders- und später eine Lakers-Jacke. Aber irgendwas fehlte. Selbst heute weiß ich nicht, was es genau war. Zuneigung, Liebe, Verständnis.

Ich war ein stilles Kind, immer schon...unsichtbar, fast unsichtbar..."schüchtern". Wie bei meiner Tochter später, weiß ich bei mir selbst auch nicht, warum ich so war. Aber es musste schon viel zusammenpassen, damit ich mich in der Schule freiwillig meldete oder überhaupt was sagte. Das war wirklich schrecklich, aber so war ich halt. Nature or nurture, that's the question. Oder anders ausgedrückt: War das etwas in mir, in meiner Natur. Oder lang es an meinem Umfeld, an meiner Erziehung? Wahrscheinlich werde ich darauf nie eine befriedigende Antwort bekommen. Vielleicht war es ja eine Mischung aus beidem, wie so oft im Leben. Warum hatte meine Mutter eigentlich immer so viel Angst, dass mir was passieren könnte? Vielleicht war ihr ja irgendwann auch was passiert. Es gab da schon Hinweise, komische, zweideutige Anspielungen. Die las ja auch immer diese Magazine, die es damals noch gab. Mit diesen seltsamen Berichten auf der letzten Seite. Die ich dann später auch heimlich lesen sollte. Wahrscheinlich mit einem leicht anderen Fokus als meine Mutter. Oder doch nicht so anders? Vielleicht verschafften diese Berichte auf der letzten Seite ihr ja eine ähnliche Befriedigung wie mir. Sorgten für dieses eigentümliche Kribbeln im Unterleib, das sie bei mir hervorriefen. Aber das war erst später, also lassen wir das...

Dann ging Iwan weg, und José auch, und ich kam aufs Gymnasium. Das heißt, eigentlich sollte ich ja gar nicht aufs Gymnasium, weil ich nicht die Empfehlung hatte, oder nur eine eingeschränkte Empfehlung, aber mein Vater ging dann da hin und sprach mit denen. Und da diese Empfehlungen damals noch nicht bindend waren, kam ich aufs Gymnasium. Oder wie er es sagte: "Dann bin ich da hingegangen und hab mit denen geredet..." Ja, so war er, mein Vater. So ist er. Ich habe mich oft gefragt, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich damals nicht aufs Gymnasium, sondern auf eine Realschule gekommen wäre. Wäre ich dann glücklicher geworden, als Handwerker. Hätte ich dann weniger über meine Kindheit und Jugend nachgedacht? Ich weiß es nicht, aber das kann man eh nicht ändern. Und mein Vater wollte, dass es sein Sohn, sein Junge einmal besser haben sollte als er. Wo verlor er dieses Ziel aus den Augen? Irgendwo zwischen meiner Kindheit und Jugend, glaube ich.

Es ist nicht viel geblieben aus dieser Zeit. Mein Vater rauchte und schickte mich Zigaretten holen. Zu diesem Büdchen in K. Das auf der Ecke, neben der Apotheke. Unter der Zeder, von der ich nicht weiß, ob es sie überhaupt noch gibt. Da saß dann immer so eine alte Frau mit so einem dicken Rock. An die erinnere ich mich noch. Oder glaube mich zu erinnern. Die sah irgendwie so aus wie so eine Russin. Oder zumindest wie man sich eine Russin gemeinhin so vorstellt. Und gab und nahm die Scheine und Münzen mit ihren dicken, schwieligen, vom Geld ganz braunen Händen. Hatte ich etwa damals schon dieses unglaubliche Mitleid mit den Menschen, mit dieser armen, alten Frau, die noch Süßigkeiten, Zeitungen und Zigaretten in einem Büdchen in Kessenich verkaufte? Süßigkeiten, Zeitungen und Zigaretten, die vielleicht später jemand einfach so wegschmiss, die lieblos irgendwo landeten, in irgendeiner Ecke. Ohne zu wissen, ohne sich nur im Geringsten dafür zu interessieren, was sie den Menschen bedeuteten, die sie herstellten, um die Ecke bei Haribo. Oder bedeuteten sie ihr auch nichts, machte sie das nur, um zu überleben? Oder weil ihr langweilig war, alleine zu Hause? Ich weiß nicht, aber bestimmt hatte sie den Krieg erlebt; das waren damals die 80er, und sie war alt, auf jeden Fall schon über sechzig und vielleicht auch schon über siebzig - damals konnte ich das noch nicht so richtig einschätzen, das kann man als Kind nicht. Das lernt man erst später, wenn das Alter für einen selbst einen Wert bekommt.

Immer ein bisschen nervös und ganz formal sagte ich:

"Ich hätte gerne eine Packung..." (Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, welche Marke mein Vater damals rauchte. Camel dürfte es bei seiner Einstellung eigentlich nicht gewesen sein, aber ich glaube, es war Camel...)

Den Satz hatte ich mir vorher schon im Kopf zurechtgelegt und ein paarmal mental durchgespielt. So ging das damals. Ich war da irgendwie gehemmt. Im Umgang mit Erwachsenen. Mit Gleichaltrigen nicht so sehr, aber auch ein bisschen. Und später mit Mädchen. Das war am schlimmsten, aber dazu später.

Mein Vater rauchte also, wogegen ich mich durch Luftanhalten im Auto zu schützen versuchte. Und meine Mutter trank. Wogegen ich...

Damals hatte sie auch geraucht, vor meiner Geburt, aber dann hatte sie damit aufgehört, wie sie immer sagte. Auch mit den harten Sachen hatte sie irgendwann aufgehört. Keine Ahnung, wie alt ich da war und was das für harte Sachen gewesen waren. Keine Ahnung, ob das überhaupt stimmte. Auf jeden Fall trank sie nur noch Bier und Wein ab dem Punkt, wo mir ihr Alkoholkonsum bewusst wurde. Aber das war erst später.

Gerne wäre ich als stiller Beobachter dabei gewesen und hätte gesehen, wie sie sich verhielten, wie sie sich mir gegenüber verhielten, wie sie mich behandelten,


                                      wie sie miteinander schliefen


aber das geht natürlich nicht...


Ich erinnere mich an nichts mehr. Wie nennt man noch mal diese Zeit, diese Entwicklungsstufe der menschlichen Psyche? Selbst das weiß ich nicht. Aber dafür war ich damals eh noch zu klein. Ich interessierte mich mehr für das Fernsehprogramm: Tom und Jerry, immer weiter...

Vielen Dank für die Blumen
Vielen Dank, wie lieb von dir
Manchmal spielt das Leben mit dir gern Katz und Maus
Immer wird's das geben einer der trickst dich aus
Vielen Dank für die Blumen
Vielen Dank, wie lieb von dir

Wie oft ich wohl dieses Lied damals gehört habe? Immer und immer wieder. Und immer hatte ich ein bisschen Mitleid mit Tom, der armen, bösen schwarzen Katze, die immer nur verliert. Dabei war der doch gar nicht schwarz, der Kater. Eher grau. Noch schlimmer: Eine arme, graue (noch nicht mal schwarze) Katze, die ständig von dieser kleinen fiesen Maus gefickt wird. Genau wie mit diesem Jäger, der mit dem großen Hut, keine Ahnung, wie der hieß. Aber nicht so sehr wie mit Tom. Denn das war ein Giftzwerg. Und Tom hatte etwas Menschliches, Fehlbares. Aber das war geil: Denen passierte alles Mögliche und die standen einfach wieder auf; die wurden geplättet, in Stücke gerissen, zerflossen, explodierten. Schon damals ahnte ich, dass das nur in Comics so war, dass das mit der Realität nicht viel zu tun hatte, aber trotzdem fand ich das total geil. Die Übergänge waren fließend. Erst Zeichentrick und Comics und dann amerikanische Serien. Und am Ende nur noch A-Team, Colt Sievers, Sledge Hammer und Knight Rider. MacGyver auch, aber nicht so sehr. Ich mochte mehr diese harten, zupackenden, aber gleichzeitig ehrlichen Typen. Kernig, grundehrlich. War ich etwa auch so wie die und identifizierte mich deshalb mit denen oder wollte ich so sein, war das also nur ein Wunschbild? Wie immer im Leben glaube ich, dass es irgendetwas in der Mitte war.

Das konnte ich schon immer gut: Mir vorstellen, dass ich ein anderer wäre, dass mein Leben ein anderes sei. Dass ich so hart wie Colt Seavers wäre, so psycho wie Sledge Hammer. Dass ich nicht in Bonn-Kessenich lebte, in einem Hinterhof, dass ich nicht ein "ruhiger", "schüchterner" Junge mit großen Augen wäre, der oft einsam war und die Welt um ihn herum nicht verstand. Die Welt der Großen, der anderen. Aber die ließen mich natürlich nicht in Ruhe, ließen mich einfach nicht in Ruhe, ließen mich nicht so sein, wie ich war, wie ich sein wollte.
   Warum sollten sie auch? Das ist halt die Natur dieser Welt... 

Aber wo waren wir? Erst das lustige Taschenbuch, Mickey Maus (von denen ich einen ganzen Stapel Hefte hatte), Asterix und Obelix aus der Kirchenbibliothek (wo die ganz viele Hefte davon hatten) und irgendwann dann amerikanische Serien wie Ein Colt für alle Fälle, Knight Rider, MacGyver und das A-Team. Das waren meine Helden...

Ich weiß noch, wie ich einmal bei Luise war und da das Lustige Taschenbuch gelesen habe. Mit dieser Titelgeschichte über Donald als Formel-1-Fahrer. Die war gut, die Geschichte. Deswegen weiß ich das noch. Eigentlich hatten alle Donald als Rennfahrer abgeschrieben, eigentlich hatte er keine Chance, aber am Ende gewann er dann doch das Rennen. Ich liebte diese Geschichte, las sie sogar mehrmals, was ich sonst nie machte. Am Tisch unserer Verwandten aus Lüdenscheid. Ich saß da wie ein Fremdkörper am Tisch der Erwachsenen und las meinen Comic. Ungefähr 70 Seiten war der lang, fragt mich nicht, woher ich das noch weiß. Vielleicht sogar genau 77, ich weiß es nicht mehr. Und ich war glücklich, für eine kurze Zeit, abgetaucht in meiner eigenen Welt. Einer Welt, in der man als Underdog doch noch am Ende das große Rennen gewann, es allen zeigte. Nicht die Welt der Erwachsenen, die ich nicht verstand, nicht verstehen wollte. Wie zum Beispiel die Welt der Luise, die eine Cousine meiner Mutter aus Lüdenscheid-Nord, nein, aus Lüdenscheid meine ich natürlich, war und die wir regelmäßig (einmal im Jahr) besuchten. Luise hatte eine flotte, moderne Kurzhaarfrisur und war gut erhalten, vital, jung geblieben (für ihr Alter), wie meine Eltern immer wieder kommentierten. Ich persönlich sah das ein bisschen anders, aber was wusste ich schon?! Und sagen tat ich das, was ich nicht wusste, sowieso nicht. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke: Ob mein Vater auch auf die einen Crush hatte? Obwohl, dafür war sie wahrscheinlich (nicht mehr) blond genug, oder vielleicht sogar jung genug, wer weiß. Mein Vater wird bis in alle Ewigkeit ein Mysterium für mich bleiben. Was jetzt auch nicht mehr lösbar ist, jetzt, wo er von uns gegangen ist. Aber so ist das nun mal im Leben. Nicht alle Geheimnisse, nicht alle Mysterien im Leben werden von zwei nahezu perfekten Kommissaren, die auch kleinste Details nie, niemals, nie übersehen, pünktlich zum heute journal, pünktlich zu den Tagesthemen gelöst. Eigentlich die wenigsten. Und was die Wahrheit angeht, da stehen die Dinge noch schlechter.

Auf jeden Fall saßen wir da alle am Tisch, ich las meinen Comic und bis auf diese ewigen, elenden Tischgespräche war das eigentlich gar nicht so schlecht bei Luise. Okay, dass ich ihr nicht ganz traute, als Frau, als Mutter, das war klar, aber wem traute ich schon?! Damals schon niemandem, so wirklich. Meiner eigenen Mutter sei Dank. Und heute bin ich der Vater. Und auch nicht besser...

Auf jeden Fall hatte Luise zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Keine Ahnung, wer von den beiden älter war, ich glaube, die Tochter, also die Sylvia, aber den Sohn, der übrigens genauso hieß wie ich, bekam man eh fast nie zu Gesicht. Der wusste halt, wem man aus dem Weg gehen muss, um Ruhe zu haben - anders als ich, der ich brav am Tisch saß und mit allen Verwandten Braten aß. Deswegen stellte ihn meine liebe Mutter gleich als undankbaren, unfreundlichen Kerl dar. Und wenn mein Vater sie dann ignorierte, weil er nicht ihrer Meinung oder einfach nur genervt war von ihren ständigen Tiraden, dann ärgerte sie das noch mehr. Und erst das braune Spülwasser von Adelheid, schlimm, schlimm, schlimm! Okay, Adelheid war alt, fast schon uralt, in ihrer 60er-Jahre-Schürze, hatte eine Perücke und konnte trotz - oder wegen? - der Dritten nicht mehr richtig reden. Aber hieß das, dass sie ihren Spül vernachlässigte? Da wollte man eigentlich gar nichts mehr essen, machte es dann aber notgedrungen doch. Und zwar reichlich, den ganzen Nachmittag lang ... damit die Adelheid das mit dem Spül auch noch mal so richtig üben konnte. Während man da saß und redete. Über was eigentlich. Alles und nichts. Die alten Storys und neue Verwerfungen, neuen Klatsch, neues Belangloses ... und manchmal sogar Pikantes ...

OOO

Ich weiß nicht mehr genau, wann das Thema aufkam. Das Thema mit der Ozonschicht. Dem Ozonloch. FCKW wurde plötzlich verteufelt. Heute spricht kein Mensch mehr darüber und über das Ozonloch auch kaum noch Leute, aber damals ... Das war in Kühlschränken drin. Und Deos. In Sprays, allen möglichen Arten von Sprays. Auf jeden Fall hieß es, dass FCKW die Ozonschicht vernichten würde und dass wir dadurch der gefährlichen Sonnenstrahlung hilflos ausgesetzt wären. Das sähe man schon bei Schafen in Australien, wo das Problem und das Loch am größten waren. Die würden jetzt schon blind von der Sonne, das hätte es vorher nicht gegeben. Außerdem würden die Fälle von Hautkrebs rapide zunehmen.
Und auch ich machte mir Sorgen. Sagte nichts, mit wem hätte ich auch darüber reden sollen, mit meinen Eltern?! Aber irgendwie kriegte ich das Problem nicht richtig auf die Reihe, denn ich machte mir Sorgen, dass wir irgendwann nicht mehr genug Sauerstoff haben würden. Dass uns der Sauerstoff auf der Erde allmählich ausgehen würde und wir dann alle qualvoll ersticken würden. Ich glaube, da spielte auch noch die Abholzung des Regenwaldes hinein, das muss es gewesen sein, denn die wurde damals auch zum Thema. Und ich dachte daran, was passieren würde, wenn alle Regenwälder eines Tages abgeholzt wären und wir keinen Sauerstoff mehr hätten. Davor hatte ich Angst. Davor hatte ich richtig Angst. dachte daran, wie ich immer weniger Sauerstoff bekommen würde, träumte sogar davon ...
Und auch der Police-Academy-Witz mit der Ozelot-Schicht beruhigte mich nicht ... Oder war es die Nackte Kanone. Keine Ahnung. 
Die Filme damals. 
Ich weiß noch, wie mein Vater sich irgendwann einen Videotheksausweis machte und mit mir nach Dottendorf fuhr - in Kessenich gab es keine Videothek -, um einen Film auszuleihen. Hat er sich damals auch einen Porno ausgeliehen? Um ihn mit meiner Mutter zu gucken? Nein, das glaube ich nicht. Aber da gab es auch Pornos. Die waren aber abgetrennt. 
Jahre später, als ich mir zusammen mit Ahmed einen Ausweis für diese Videothek in Bonn-Nord machte - wir waren beide gerade erst 18 geworden, gab es da auch Pornos, wieder in einem abgetrennten Bereich, aber ich traute mich immer noch nicht rein. Einmal zeigte mir Ahmed einen Film namens Gesichter des Todes. Da hatten Leute echte Hinrichtungen etc. gefilmt und das Material zu einem Film gemacht. Oder wie Leute von einem Krokodil gefressen wurden. das war da auch drauf. Aber auch den lieh ich mir nicht von einem Taschengeld und den Einnahmen aus meinem Lagerjob bei Deichmann in der Bonner City aus. Ahmed glaube ich schon. Ob er sich auch Pornos auslieh? Wenn ich nicht dabei war.
Ah, Deichmann. Und Isabelle. Oh, Isabelle. Sie war blond, ein blondes Gift, würde mein Vater sagen (er musste es ja wissen!), war auch Schülerin und arbeitete ebenfalls bei Deichmann. Aber nicht als Lagerratte wie ich, sondern im Verkauf. Also begegneten wir uns nicht ständig, aber doch oft genug, um mich Hals über Kopf in sie zu verlieben.
Ach, Isabelle, ihre Augen. Ich versank förmlich in ihren Augen. Verlor mich darin, schmolz in ihnen. Jeden Tag. Jeden Tag aufs Neue guckte ich ihr in die Augen, bei der Arbeit, ständig, immer wenn ich in den Verkaufsraum kam und sie zufällig da war.
Ach, Isabelle, denkst du auch heute noch manchmal an mich? Oder bin nur ich das? Blondes mittellanges Haar, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, hohe Wangenknochen, die fast osteuropäisch anmuteten. Aber sie war keine Osteuropäerin. Ich weiß gar nicht mehr, wie sie genau mit Nachnamen hieß, aber sie war Deutsche. Kartoffel. Schlank, relativ groß, repräsentativ und ganz Isabelle. Und sie guckte mich schließlich auch an, guckte nicht etwa weg ... die hätte ja auch weggucken können! Wenn ich sie pausenlos anstarrte ...? wie alle Mädchen, die mir gefielen. Ich war halt schüchtern, gehemmt, hatte von meiner Mutter eine natürlich Angst vor Frauen eingeimpft bekommen. Vielleicht auch das. Eine Angst, die ich erst heute langsam ablege. Wie bei Sara davor. Und bei Inés. Und bei Christiane. Und bei allen anderen Mädchen, die ich im Laufe meiner Schulzeit anstarrte, und die - immerhin - auch zurückstarrten ... 



Ich schenkte ihm keine Freude mehr ...

"Anderen eine Freude schenken ..." Hatte mein Vater immer zu meiner Mutter gesagt, damals, in seiner Lambada-Zeit. Wo er meine Mutter die ganze Zeit aufzog, weil sie keine Tangas tragen wollte. Aber ich glaube, er zog sie nicht nur auf. Er meinte das tatsächlich ernst, wollte seinen Willen durchsetzen ...

Genau, wie wenn er in der Kirch an Weihnachten "Ihr Kinderlein kommet ...sang. Das war auch so eine Marotte von ihm. Da - irgendwann in seinen mittleren Jahren - hatte er sich in den Kopf gesetzt, dass er es, obwohl er mit seinem Sohn gescheitert war, ja noch mal probieren konnte. Vielleicht würde es ja wieder eine Tochter, wie sein Sonnenschein, meine Schwester. Und nicht so ein ... aber lassen wir das.
Auf jeden Fall hatte er sich fest in den Kopf gesetzt, noch ein Kind zu bekommen. Ein drittes. Aller guten Dinge sind schließlich drei, nicht wahr. Und wenn der Erste schon nicht funktioniert hat, so ist doch zumindest die zweite mein kleines Sonnenscheinchen.
Aber meine Mutter wollte - wie immer - von all dem überhaupt nichts wissen. Sie wollte keine Kinder mehr, war doch der Erste ...
Und so ging es - genau wie mit den Tangas, oder Lambadas, wie er sie nannte - hin und her. Gipfelte darin, dass er an Heiligabend (der einzige Tag im Jahr, wo wir in die Kirche gingen) mit seinem verschmitzten Lächeln auf den Lippen "Ihr Kinderlein kommet ..." sang und dabei meine Mutter anguckte.
Die seinen Kinderwunsch mit dem Arm beiseite wischte - als hätte sie nicht schon genug Ärger. Und wenn es ihr wirklich zu bunt wurde mit seinen Anspielungen, sagte: Ich geh gleich! Mir ist das jetzt echt zu bunt!" Was ihn bis zum nächsten Mal wieder zur Fasson brachte.  

Er sagte immer "Hanutte", wie in: "Willst du eine Hanutte?" Und erzählte überall die Geschichte mit der Handgranate. Wo die, in jungen Jahren, mit Freunden in den Urlaub gefahren sind und einer an der Grenze aus Spaß sagte: "Da haben wir ja noch mal Glück gehabt! Die Handgranate haben die nicht gefunden!" 
"Und dann haben sie dem das Auto komplett auseinandergenommen!" Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr war, ich habe da meine Zweifel, aber auf jeden Fall erzählte er sie immer.

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Im Radio läuft Snap. Das habe ich damals auch immer gehört. Direkt nach meiner Richard-Marx und A-ha-Zeit, von denen ich jeweils nur eine Kassette hatte. Danach ging es mit Rap weiter. Oder zuerst mit diesem amerikanischen Radiosender, den es damals noch in Bonn gab. CFBS oder so. Keine Ahnung. Da spielten die amerikanische Musik und ich hörte den immer nachts. Heimlich. Heimlich? Nein, ich glaube nicht. Obwohl meinem Vater diese Neger-Musik natürlich nicht wirklich zusagte. Bis auf das Two-Live-Crew-Album, wo die Bandmitglieder zwischen den Beinen von vier über ihnen stehenden Frauen zu sehen waren, die alle Tangas trugen. Das gefiel ihm dann doch wieder. Das war meine erste CD, gekauft in diesem Laden in der Oxfordstraße. Der war damals immer brechend voll und ich sollte ein Stammkunde werden. Davor hatte ich tatsächlich noch Platten. Und da ich zu dem Zeitpunkt, wo ich das Two-Live-Crew-Album kaufte noch gar keine CD-Player hatte, mussten wir zu meinem Onkel nach Tannenbusch fahren, um das Ding auf Kassette zu überspielen. Ganz schön kompliziert. 
Das war schon nach MC Hammer, nach Snap ... ich weiß noch, wie ich eines Nachts nachdem oder während ich Radio hörte auf der Seite im Bett lag und auf einmal dieses Geräusch im Ohr hatte. Wie ein Ticken, so als hätte ich eine innere Uhr, die auf die Sekunde genau ging. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass ich eine innere Uhr hatte, die in mir schlug und mich fast nie zu spät kommen ließ. Ich wachte noch nicht mal zu spät auf, wenn ich zur Schule musste. 
Was war das für ein Geräusch? Ich hatte doch keine Uhr in mir? Aber sobald ich den Kopf gegen denn Arm presste, war es da, schlug auf die Sekunde genau. Ich weiß nicht, wann ich mit einem leichten Schrecken feststellte, dass das Geräusch mein Herz war, dass das von meinem Herz kam, dass im Sekundentakt in mir schlug. Das war unheimlich. Von dem Moment, wo ich merkte, dass das mein Herz war, wurde mir ganz mulmig (ums Herz). Das war mein Herz, was ich da hörte. Mein Herz, das mich am Leben hielt, nein ich wollte das nicht mehr hören, das machte mir Angst. Und wenn es aufhören würde. Dann wäre ich tot, nicht mehr da ... 

Das war irgendwie wie diese Momente, in denen ich auch nachts so dalag, aber mich irgendwie fühlte, als hätte ich meinen Körper verlassen, als wäre ein Teil von mir aus meinem Körper gewichen und würde da oben, in der Ecke des Zimmers, unter der Decke hängen, schwerelos, während mein Körper schwer im Bett verblieb. Das ging mit einem Gefühl der Taubheit einher, das mir noch mehr Angst machte. Und wenn ich nicht mehr in meinen Körper zurück konnte, wenn ich nicht mehr zurück finden würde? Wenn der Teil, der meinen Körper verlassen hatte, nicht mehr den Weg zurückfinden würde? Würde ich dann sterben. 
Das machte mir Angst. Richtig Angst. Todesangst. 
Ich hatte überhaupt Angst vor so vielem. Den Geräuschen von Flugzeugen am Himmel, einem Atomkrieg, davor, nicht mehr Atmen, vor dem Tod und vor Mädchen und Frauen ...

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Aber damals war das noch nicht so schlimm. Nicht so, wie später. Und obwohl ich ein einsamer Wolf war, hatte ich jede Menge Ablenkung. Das war die Zeit, wo gerade MTV rauskam. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Dass es vor MTV keine Videos gab. Oder nicht, dass ich es wüsste. Bestimmt gab es die auch. Aber meine Liebe zur Musik wurde zufällig zum gleichen Zeitpunkt geweckt, als auch MTV das Licht der deutschen Fernsehwelt entdeckte.
Das war schon krass. Das war ein richtiger Einschnitt. And I was hooked. Das erste Video, an das ich mich erinnere war ... wie hieß das noch mal? ... under my skin ... I got you under my skin ... keine Ahnung, von wem ... da gging es um AIDS, das war damals die Zeit, wo AIDS groß rauskam, haha ... kurz nachdem Freddie Mercury gestorben war ...

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Ich weiß noch, wie im Urlaub in Ungarn so ein junges Mädchen mit Tanga auf dem Fahrrad (auf dem Fahrrad!!) vor uns her fuhr. Meinem Vater wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen ...
... wie er immer am Strand zu mir sagte: "Wär die nichts für dich?" "Oder die?" Damals war ich 15-17 und die Frauen, die er mir offerierte, waren durchweg Mitte 20 und blond. Ich stand aber nicht auf Blondinen, sondern auf dunklerer Frauen, die meinem Vater leider nicht so gefielen ...

Mein Vater machte solche Dinge öfters - genau wie ich, Jahre später. Wie sich die Geschichte doch wiederholt. Er machte das, genau wie ich, um meine Mutter zu ärgern. Vielleicht war er sich, wie ich, ihrer Liebe nicht 100% sicher. Oder er machte es einfach so, um ein bisschen Salz in die Suppe zu bringen. vielleicht macht das ja auch jeder Mann so, aus irgendeinem männlichen Impuls heraus, den Feministinnen jetzt bestimmt als hohlen Steinzeitmachismo bezeichnen würden, was weiß ich. Auf jeden Fall guckte er immer anderen Frauen hinterher. Und bei der Hitze im Urlaub natürlich noch ein bisschen mehr. Schließlich hatte er frei und arbeitete den Rest des Jahres hart, warum sollte er dann nicht ein bisschen Spaß haben, den er prompt immer mit den Worten "Draußen wird sich Appetit geholt und zu Hause wird gegessen" quittierte. Oder so ähnlich. Ach, mein Vater. Man musste ihn einfach lieben. 
Und meine Mutter sprang, wie Nadine Jahre später, darauf an. Vielleicht sogar ein bisschen mehr als Nadine. Schlug ihn, war eingeschnappt, redete nicht mit ihm, kurzum, nutzte ihr gesamtes passiv und manchmal sogar aktiv aggressives Potential, um ihn in seine Schranken zu weisen. Ich kann mich eigentlich nicht daran erinnern, dass sie jemals irgendwelchen Männern hintergeguckt hat ... aus Rache oder um den Spieß mal umzudrehen. 
Besonders Blondinen hatten es meinem Vater angetan. Warum er dann gerade sie geheiratet hatte, wer weiß, denn blond war sie nicht? Oder nur mit viel Fantasie ...
Ein Unfall? Ein Verkehrsunfall ...?




Und dann, wenn wir nach einem erholsamen, aufregenden Urlaub wieder nach Hause mussten - und damals, vor dem Jugoslawienkrieg, fuhren wir noch mit dem Auto in Urlaub - sagte mein Vater immer: "Heim ins Reich!"
Und kurz vor der deutschen Grenze: "Ich steige gleich aus und küsse deutschen Boden!"
Oder: "Dann musst du aussteigen und deutschen Boden küssen!"
Er sprach auch viel von Ahnenpässen und so weiter ... 
"Der hat keinen Ahnenpass!"
"Dein Opa hatte einen ..."
Dabei gab ihm dieses Land, sein Deutschland, gar nicht so viel, besonders nicht in den letzten Jahren seines Lebens. Obwohl, Arbeit hatte er immer. Und oft genug machte er auch was on the side. so schlecht verdiente er nicht, als KFZ-Mechaniker. Natürlich waren wir nicht in der gleichen Liga wie die Eltern so mancher meiner Klassenkameraden, die (bestimmt) Architekten, Anwälte und Unternehmer waren, aber wir hatten immer genug.
Und Trinkgeld bekam er auch, wenn er einem Kunden das Auto vorbeibrachte. Manchmal waren das richtige Luxus-Schlitten. Ich erinnere mich noch an einen weißen Mercedes, der laut meinem Vater damals schon 200.000 D-Mark kostete. Und mein Vater war kein Angeber und wusste, wovon er sprach. 
"Mit Sitzheizung!" Obwohl das ein ziemlich komisches Gefühl war, mit der Sitzheizung, wenn einem plötzlich, wie aus dem Nichts, der Arsch warm wurde. Und der Anschnallgurt auf einen zugefahren kam. Das war nervig. 
Manchmal hatte er auch diese Sportwagen dabei, die er immer "Zuhälterkarren" nannte ...


"Dafür musst du einen Ölabscheider haben, sonst darfst du sowas nicht ..."
Einen Ölabscheider, dachte ich. Ein komisches Wort ... Erinnerte mich irgendwie an ... Scheide? Komm schon, jetzt gib es schon zu. Deine Mutter benutzte das immer, das Wort. Sie sagte nie "Vagina". Immer nur "Scheide". Ölabscheider. Und deine Schwester hatte auch eine ... 

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Damals spielte ich immer Basketball. Auf dem "roten Platz", das war so ein Sportplatz, bei so einer Schule in Kessenich. Heute gibt es den nicht mehr, er musste irgendwelchen Gebäuden weichen. Wie einfach das Leben doch war. Jeden Tag, wenn das Wetter gut war und ich Zeit hatte (also praktisch immer), ging ich da hin. Wir waren eine bunte Truppe. Da waren die Somalier aus dem Haus an der Hausdorffstraße. Ecke Hausdorfffstraße und ... keine Ahnung, wie die andere Straße da hieß. Da war ein Büdchen auf der Ecke. Und eine Haltestelle. Und schräg gegenüber der rote Platz. Obwohl die Somalier nicht so viel Basketball spielten. Mehr Fußball. Anders als ich, der ich zwei linke Füße hatte. Wer kam denn noch da hin. José, den ich aus der Grundschule kannte, aber nur einmal. Und dieser Jugoslawe, keine Ahnung, wie der hieß. Toni, glaub ich. Der wohnte über dem Stüssgen in der Pützstraße. War es die Pützstraße? Und noch so ein paar andere, die ich nicht alle mit Namen kannte oder deren Namen ich vergessen hab. Die meisten Ausländer ...

Ich war ein richtig großer Basketball-Fan damals. Ein Fan der Los Angeles Lakers. Hatte sogar eine Jacke von denen (damals waren Team-Jacken total in, besonders die der Raiders). Und Schuhe von Patrick Ewing. Dem Center der Knicks. Jordans wollten meine Eltern mir nicht kaufen, die waren ihnen, glaube ich, zu teuer. Oder ich schlug es ihnen gar nicht erst vor, weil sie damals schon um die 300 DM kosteten. Ich war anständig, in dieser Hinsicht. Hatte immer ein leicht schlechtes Gewissen, wenn wir nach Godesberg in dieses Sportgeschäft fuhren und da teure, amerikanische College-Klamotten kauften. Aber die Schuhe von Patrick Ewing waren im Preis noch ganz ok. die ham wir in Roisdorf gekauft. Keine Ahnung, wie wir darauf kamen. Ich glaube, wegen meiner Mutter. Oder wegen mir? Auf jeden Fall kaufte ich mir die. Weiße Ewings. Passend zu meinem Ewing-Trikot. Oder war da später? die Knicks waren damals gut. Spielten im Finale gegen die Chicago Bulls um Michael Jordan. Und verloren prompt. Das waren richtige Tiere, die wollen alle über hundert Kilo und waren alle richtig groß.
auf jeden Fall kaufte ich mir die Ewings und als ich Rashid traf, der auch Basketball spielte, aber ein paar Ligen über mir, sagte er zu mir, dass ich ihm die Ewings nachgekauft hätte. Er mochte das nicht, dass ich mit den gleichen Schuhe wie er rumlief. Aber das stimmte gar nicht. Ich wusste natürlich, dass er Ewings hatte, aber deswegen hatte ich die nicht gekauft. Was dachte er? Dass ich ihn für so toll hielt, dass ich unbedingt die gleichen Schuhe haben wollte wie er? Bestimmt! Er war schon gut im Basketball, das stimmt, aber sonst beeindruckte er mich eher weniger. Das tat mir weh, als er das sagte. Und jedes Mal, wenn ich ihn sah, musste ich daran denken. Aber meine Ewings behielt ich trotzdem. War er der Einzige, der Ewings tragen dürfte?! Aber es nagte an mir, wie alles ...



























































Die Fabienne und die andere, deren Namen ich nicht mehr weiß, waren mit diesen Typen zusammen. Mit diesen Einheimischen, die locker schon Mitte 20 waren und gut aussahen. Die sahen wir dann die ganze Woche fast nicht mehr. Die haben die bestimmt gebumst, wenn diese zwei Typen die nicht gebumst haben, dann weiß ich es auch nicht. Das war noch bevor ich Nadine kennenlernte, am Anfang der 13. Klasse. Wie jung ich damals war. Alles lag noch vor mir. Barcelona 1995. Ja, es muss 1995 gewesen sein. 

Mit Lars in einem Zimmer. einem Zweibettzimmer mit dusche. En suite. Lars aus Bonn-Tannenbusch, der immer "Husch, husch, in den Busch!" sagte und dreckig lachte. Lars mit der Gaspistole. die ich so spannend fand, dass ich sie gleich am ersten Tag, bei der ersten Gelegenheit, wo Lars nicht da war, aus einer Tasche nahm und in der Hand hielt. Was ist es mit Jugendlichen und Pistolen? Aber die Sicherung kannte ich natürlich nicht, weshalb ich prompt alle Kugeln einzeln aus dem Lauf friemeln musste. Das war eine Arbeit. Und so peinlich! Aber Lars sagte nichts. auch wenn er es vielleicht gemerkt hatte, sagte er nichts ...