Mittwoch, 27. April 2016

Trennung als Vater








„Herr Rilke ist zum Beispiel ein Verfechter des alten Modells…“, sagt meine Anwältin.

Das lässt mich natürlich aufhorchen. Mich als unfreiwilliger Verfechter des Wechselmodells. Gespannt lausche ich ihren Worten.

„…nach dem alten Modell sieht der Vater…“ – und machen wir uns nichts vor, es ist meistens der Vater, der den Kürzeren zieht – „…das Kind alle 14 Tage am Wochenende…“

Geil, denke ich. Dann würde ich direkt auswandern. Es brennt mir förmlich auf der Zunge, ihr das zu sagen, aber ich halte meine Klappe. Wie immer.

Dann würde ich echt auswandern. Damit mich meine „liebe“ Frau mit Unterhaltsforderungen kann, bis sie mich nicht nur psychisch, sondern auch finanziell ruiniert hat.

Ist natürlich auch ideal für das Kind. Es wird durch die Trennung der Eltern – an der es als einzige Person weiß Gott nicht schuld ist – quasi von Staats wegen dem „echten“ Vater entfremdet, der in diesem Modell nur noch ein alle zwei Wochen aus der Versenkung geholter Wochenend-Entertainment-Daddy ist. (Machen Sie das mal, wenn Ihr Kind in die Pubertät kommt und sowieso von Eltern nicht mehr wissen will!)

Aber damit noch nicht genug: Wenn Sie die Trennung noch nicht mal kommen gesehen, geschweige denn gewollt haben, werden Sie nicht nur vom Staat von ihrem Kind entfremdet. Nein, der neue, „unechte“ Stiefvater wird auch plötzlich wichtiger für das Kind als sie. Und der ist dann wahrscheinlich noch Alkoholiker oder pädophil oder beides. Oder gewalttätig oder was weiß ich was sonst noch. Na dann, Prost Mahlzeit! Außerdem ist er ja sowieso schon eifersüchtig, weil er nicht der echte Vater ist. Weil es nie so richtig seine Tochter sein wird, sondern immer die eines anderen.

Wer sich so was ausgedacht hat – wo sind eigentlich die 68er, wenn man sie braucht?! – dem wünsche ich von vollstem Herzen, dass er eine gute Beziehung zu seinen Kindern und besonders zu seiner Frau pflegt, damit er nicht irgendwann in die Fänge seines eigenen Modells gerät.

Und wenn die Väter nicht entsorgt werden, dann leben sie eh kürzer als die Frauen.
In diesem Sinne: Väter erhebt euch! Erhebt eure Herzen! Wir haben sie beim Herrn. 





Sonntag, 24. April 2016

Schrei nach Liebe und Anerkennung






24.04.16





Beim Aufräumen stößt er auf die Blätter, die er damals, kurz nach der Trennung, ausgedruckt hat.

Warum tut es so weh? Weil er dachte, er hätte endlich jemanden gefunden, der ihn liebt. Der ihn so liebt, wie er ist. Weil er dachte, dass da jemand wär, dem er Vertrauen konnte. Nach all den Jahren mit seiner Familie, in der ihn niemand geliebt hat. Nicht sein Vater, nicht seine Mutter, nicht seine Schwester. Vielleicht hat er sie auch erdrückt mit seiner Liebe. Mit seinem stummen Schrei nach Liebe. Das ist zu viel für einen Menschen alleine. Vielleicht hat sie ihn ja wirklich geliebt und er hat es kaputt gemacht. Mit seinem Misstrauen, seiner Eifersucht, seinem Kontrollwahn, seinen Wutausbrüchen.

Aber sind diese nicht verständlich, wenn man daher kommt, wo er herkommt?! Sie hat das nie verstanden, wenn er gesagt hat: „Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe. Du weißt nicht, wo ich herkomme. Wo soll ein verwöhnter Europäer schon groß herkommen? Was soll der schon groß durchgemacht haben? Im Vergleich zu meiner Kindheit in den Anden? hat sie wahrscheinlich gedacht.

Aber es ist nicht wichtig, ob man geschlagen wurde. Es ist nicht wichtig, ob man physisch misshandelt wurde. Für ihn ist die Frage vielmehr, ob man geliebt wurde. Und das wurde er nie. Er hatte alles, Geschenke, Spielzeug, alles, aber keine Zuneigung. Und das ist viel schlimmer als Schläge, viel schlimmer als Misshandlung. Oder zumindest genauso schlimm. Dieses vage Gefühl, nicht gut zu sein, nichts zu sein, gar nichts

„Mach die Augen zu, dann siehst du, was du bist…“

Und er versuchte sogar noch den Kommentar seines Vaters zu verstehen. Er macht sogar noch die Augen zu. Naiv wie er war. Nach Anerkennung durstend wie er war. Und sah nichts.

I entered nothing…

…and…

…nothing entered me

Ist doch eh egal, was er macht, er wird immer der kleine, ungeliebte Junge sein. Der zu naiv ist für diese Welt. Die Augen auch noch zumacht, nur weil sein dummer Vater das sagt.

„Mach die Augen zu, dann siehst du, was du hast…“

Mit einem Grinsen. Keinem offen fiesen Grinsen. Sondern einem geschlagenen, resignierten, hintergründigen Grinsen. Wir zeigen das doch nicht offen, was wir fühlen. Das wär ja noch schöner. Doch nicht unserem Sohn.

Seine Mutter hatte das perfektioniert. Bei ihr war das noch hintergründiger. Noch versteckter. Und noch ausgeprägter.

Wie soll er denn Liebe für jemand anderen empfinden, wenn er nie erfahren hat, was Liebe ist. Immer nur ausgenutzt wurde, für die Zwecke und Befriedigung der Bedürfnisse anderer.

Da war sein Sohn okay; wenn er sagen konnte, dass er ein paar Sprachen spricht, dass er Abitur macht. Aber Zuhause war er abgeschrieben. Einsam. Warum eigentlich? Warum fiel es ihm so schwer, Freunde zu finden. Anerkennung zu finden. Weil er zu misstrauisch war. Weil er niemandem traute. Weil seine Mutter jedes kleine Pflänzchen der Freundschaft mit ihren fetten, nackten Füßen zertrampelte, um ihn ganz für sich zu haben. Und das, wo sie ihn doch eh nicht lieben konnte. Wenn er zu Jens ging, zum Computerspielen, dann war Jens schwul. Und Alexander ja sowieso. Der klang eh immer wie eine Frau am Telefon, wenn er anrief, um ihn zum Squash einzuladen.

„Der klingt wie ein Mädchen, am Telefon, der Alexander!“

Er konnte dieses Spiel nicht gewinnen, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Immer der Gute zu sein. Weil er nicht der Gute war, den er vorgab, um Anerkennung zu bekommen. Um anerkannt zu werden, obwohl er es ja am Ende doch nicht wurde.

Die Leute haben da Antennen für. Ganz feine Antennen. Die das direkt wahrnehmen, wenn jemand immer nett sein will, dem Konflikt mit der Mutter, mit dem Vater, mit der Schwester aus dem Weg gehen will. Die merken das direkt, wenn jemand Anerkennung braucht wie die Luft zum Atmen. Dann geben sie dir genau das nicht. Vielleicht weil sie es nicht können, weil sie deine geschundene Seele nicht heilen können. Aber vielleicht auch, weil sie es nicht wollen.

Und das musste seine Frau jetzt ausbaden… Obwohl sie es gar nicht schuld gewesen war… Sie hatte ihm Liebe gegeben, wenigstens ein bisschen, in dieser kalten, rauen Welt, in der nichts zählt. Nur das Nichts.

Vielleicht wäre es echt besser gewesen, wenn sein Vater ihn verprügelt hätte. Dann hätte er wenigstens in den Schlägen ein bisschen Zuneigung, Berührung gespürt und nicht diese kalte, kalkulierende Ablehnung. Die sich in Sätzen wie „Guck mal, der hat zwei Freundinnen und du keine!“ äußerte. Sich Luft verschaffte.

Und jetzt, jetzt wo er der Vater ist, stellt er sich die gleichen Fragen: Sind Kinder immer Opfer der Eltern? Bist du einen Deut besser als Vater? Oder ist deine Tochter auch dein Opfer? Wird sie sich auch so bitterböse über dich auslassen, in einem Blog, irgendwann in der Zukunft, wenn sie merkt, was du gemacht hast? Was für ein schlechter Vater du warst. Was für eine schlechte Mutter ihre Mutter war?

Das Karussell dreht sich immer weiter, ad absurdum dreht es sich ins Nichts hinein.

Die Kunst ist nur die Heuchelei, mit der wir versuchen, diese Tatsachen, diese Tatsachen zu verschleiern. Vor anderen und vor uns selbst. (Letzteres ist vielleicht am Ende noch viel wichtiger, noch viel ausschlaggebender.)

Innerlich kaputte Wesen schieben und drücken sich durch diese Welt, wie Zombies

Samstag, 23. April 2016

Drogen und Mafia in Bonn








Auf der Arbeit redet er mit dem alten Mann. Er freut sich ihn zu sehen, obwohl er ihn letztens um Geld angehauen hat. Was er gar nicht gut fand. Das zerstört jede Freundschaft, wenn der sich jetzt Geld bei dir leiht.

Am Anfang reden sie über Politik und dann kommt er irgendwie auf die aktuelle Situation in Mexiko zu sprechen. Mit der Drogenkriminalität. Mit dem Kokain.

Eigentlich genau sein Thema. Aber seit seiner Trennung irgendwie nicht mehr. Ist ihm doch egal, ob die sich da umbringen.. Umso besser, besonders, wenn unter den Opfern auch Ecuadorianer sind. Putos ecuatorianos. Nicht, dass er was gegen dieses äußerst schönen Land zwischen Pazifik, Anden und Amazonas hätte, aus dem zufälligerweise auch seine Ex kommt.

„…da steckt halt jede Menge Geld drinnen…“, beendet er seinen kurzen Diskurs über die Drogenproblematik in Mexiko, die ihm eigentlich ziemlich egal ist. Er hat davon nichts. Er kriegt von denen kein Geld. Obwohl die Gewalt ihn schon reizen würde…

…und die Macht…

…die Macht, seinen Schwager von der Brücke baumeln zu lassen, das wär schon ein interessanter Anblick. Aber…

Der alte Mann hat gestern mit einer Mexikanerin gesprochen, die nicht zurückgehen würde in ihr Heimatland. Um nichts in der Welt.

„…das ist ein schönes Land und alles, sagt die, aber viel zu gefährlich…die gehen dann zu dir nach Hause, wenn die ein Problem mit dir haben…“

Echt?!

Und dann sagt der alte Mann: „Hier in Bonn gibt es ja auch einen, der das macht.“ Seine Stimmte wird leiser, kryptischer. „…der den ganzen Transit organisiert…“

Und auf einmal ist er ganz Ohr, hellwach, fragt interessiert: „Echt?“

Der alte Mann scheint ihn nicht zu hören, macht eine bedeutungsschwangere Pause.

„Ein Latino“, fragt er leicht insistierend.

„Nein…“ sagt der alte Mann.

Er guckt ihn an, obwohl er fragen will: Was denn dann, ein Araber oder was?!

„Ein Deutscher?“

„Ja, der ist von hier. Der ist eigentlich bekannt…“

„Kenn ich nicht. Hab ich nicht von gehört. In diesen Kreisen bewege ich mich auch nicht…“

Obwohl das nicht ganz stimmt, denn schließlich ist deine Noch-Ehefrau aus Ecuador.

„Ja. Der ist weder besonders dumm noch besonders intelligent… Aber verheiratet mit einer besonderen kriminellen Energie.“

Sagt er wirklich verheiratet? Bin ich auch. Oder sagt er vermählt? Bin ich auch. Mit einer besonderen kriminellen Energie.“

„Doch, der ist bekannt.“ Er senkt die Stimme noch ein bisschen. „Der trägt Schuhe von 400 Euro, Lederjacke, die besten Klamotten, alles… Das sieht man bei dem…“

Kenn ich nicht. Die einzigen Deutschen, die ich in dem Bereich kenne, sind Spacken, die noch nicht mal bis drei zählen können und eher in die Richtung Triebtäter gehen, als Drogendealer. Geschweige denn Händler…

Ist der im Bonner Loch?

„Ne, nicht im Bonner Loch. Da nicht.“

Das ist zu gut für den. Oder was?!

„Kann der Spanisch?“

„Ja, der spricht Spanisch und Portugiesisch und da hat der sich da unten Kontakte aufgebaut. Natürlich alles sehr gefährlich. Verschwindet dann immer mal wieder. Ich glaube, die wollten dem letztens was…die Polizei…dann geht der immer wieder da runter…und kommt dann wieder… Aber das sieht man. Der trägt Klamotten, das verdienst du in drei Monaten nicht!“

Danke. Vielen Dank.

„Das ist aber eigentlich gar nicht so intelligent, das so zu zeigen. Das so zur Schau zu tragen. So, dass das alle sehen. Dann werden die erst recht auf dich aufmerksam.“

Er nickt, stimmt ihm zu.

„…ich würd das so nicht machen. Ich würd so bleiben, wie ich bin. Ganz normal.“

„Ich auch“, sagt er, „ich würd genauso weiter rumlaufen.“

„Al Capone haben die auch wegen den Klamotten und allem bekommen. Nicht wegen den Verbrechen. Wegen der Steuer. Da würd ich das doch so nicht zur Schau tragen.“


„Ich würd weiter so rumlaufen. Ganz normal. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Egal, wie viel Geld ich hätte… Damit die nachher noch auf Ideen kommen…“


Die Stimme des alten Mannes wird noch leiser. Er sagt: „Man muss aufpassen, was man sagt. Jetzt, wo wir alleine sind, kann ich darüber reden, aber nicht…. Da muss man aufpassen.“

Plötzlich kommt Ali in die Halle, will direkt einen Kaffee haben. Das haben die Araber alle so. Die wollen immer eine Extrawurst.

Der alte Mann guckt sich um, sagt: „Da können wir ja noch mal drüber reden. Das ist ein interessantes Thema."

Aber er will plötzlich mehr wissen. Er hat noch Fragen: Ob der gut Spanisch kann? Besser als er? Was er für Kontakte da hat? In welchem Land genau? In Ecuador? Ob er noch jemand braucht? Ob der alte Mann sich noch daran erinnert, dass er mit einer Ecuadorianerin zusammen ist? War. Weiß er, dass er getrennt ist? Dass er keine Kontakte mehr in diese Welt hat? Der alte Mann scheint viel zu wissen, scheint viele Latinos zu kennen. Letztens war er bei Argentiniern auf einer Feier eingeladen, jetzt redet er mit Mexikanerinnen. Das hat noch nicht mal er gemacht, früher, als er noch mit seiner Frau auf verschiedene Feiern mit jede Menge Latinos ging – eigentlich fast nur, er war eigentlich fast immer der einzige Deutsche. Der hat auch schon mal sowas gesagt, denkt er. Von seinem Bruder, der angeblich in Kolumbien lebt. Damals ohne Geld da hingegangen ist. Und da auch schon wie er sagt, mit Persönlichkeiten der Unterwelt an einem Tisch gesessen haben soll. Auch in diesem Bereich tätig sein soll? Auch immer wieder kurz nach Deutschland kommt und dann wieder geht.

Komisch. Die Geschichten ähneln sich ziemlich. Erfindet der das nur? Will der ihm etwas sagen, damit? Kennt der Nadine? Hat die den geschickt? Um ihn reinzulegen? Dass er mit irgendwas erwischt wird, bei einem Deal, damit er Probleme bekommt.

Er will unbedingt mit dem alten Mann weiterreden, aber er kommt irgendwie nicht dazu. Wenn das, was er denkt wirklich stimmen sollte, dann müsste der ja auf ihn zukommen. Und nicht er.

Er zieht sich ins Kassenhäuschen zurück. Dann soll der doch kommen… Dann muss er ja nicht kommen…

Oder will er ihm etwas sagen damit…?

Aber er kommt nicht mehr. Das Gespräch ist beendet. Obwohl er noch Fragen hat. Besonders eine: Wie alt ist der Typ? Wie sieht der aus? Kenn ich den?

Am Ende macht der alte Mann zu, spielt auf seiner App Roulette, erzählt ihm etwas anderes, das er gar nicht wissen will.

Denn er will mehr von dem Typen wissen…

Aber was nicht geht, das geht nicht. Und wenn der was will, dann soll der doch kommen…

Tut er nicht und am Ende, als der alte Mann gegangen ist, nicht ohne vorher gesagt zu haben, vielleicht sieht man sich ja noch mal, heute,  bleibt ihm nur diese Rammstein-Zeile. Aus dem Lied mit dem passenden Titel „Alter Mann“.

Das Wasser soll dein Spiegel sein. Erst wenn es glatt ist, wirst du sehen, wie viel Märchen dir noch bleibt…

Er denkt: Entweder meine Frau ist der intelligenteste Mensch der Welt oder einfach nur dumm…

Entweder er ist hochgradig paranoid oder doch nicht so dumm. Viel zu intelligent für seinen eigenen Besten…

Freitag, 22. April 2016

Zecken und Echsen






22.04.16




Morgens geht er Wasser kaufen. María ist auch schon auf, ist noch Duschen gegangen (besser so: Dann muss sie nicht in der P***-WG ihrer Mutter duschen gehen).

Er tritt vor die Tür…und ist schon jetzt…stinkwütend. So richtig wütend.

Er denkt darüber nach, was ihn die Scheidung kosten wird. Ob das, was die Anwältin gesagt hat, auch für die Beratung usw. vor der Scheidung gilt oder nur für den Scheidungsprozess. Wär schon gut, wenn das für beides gelten würde…

Und wenn nicht…?

Immer bleiben Fragen offen. Jedes Mal, wenn er zu seiner Anwältin läuft, ist er am Ende zwar für den Moment schlauer, aber schon am nächsten Tag wirft sein Gehirn neue Fragen auf. Hört das denn nie auf?!

Das geht doch so nicht, dass ich am Ende noch für die blechen muss. Für die Scheidung, die ich nicht will. Nie wollte

…die ich nie gewollt…

Das geht nicht. Echt nicht. Echt nicht. Und die lacht sich am Ende noch kaputt. Lacht sich ins Fäustchen, wie du zu der Anwältin gesagt hast. Lacht sich ins gierige Fäustchen. In ihrem neuen, freien Leben

NEIN, sagt er fast laut und schiebt den Unterkiefer demonstrativ nach vorne. Fletscht fast die Zähne, als er die Hauptstraße überquert.

Irgendjemand wird dafür bezahlen Irgendjemand. So viel ist sicher.

Und wenn es ihre Schwester ist…

…oder ihr Schwager…

…oder ihre andere Schwester…

Sie hat ja so eine große Familie.

Irgendjemand muss bluten dafür.

sangre por sangre

Er macht sich Sorgen: Er kriegt zwar Prozesskostenhilfe, aber wenn die ihr Haus angibt…

…in was ist er da bloß reingeraten, mit dieser Frau. (Und so gut sah sie noch nicht mal aus. Und fünf Jahre älter als er war sie auch!) Hätte er doch damals in Ecuador nicht Ja gesagt. Jetzt bezahlt er dafür. Aber dann gäbe es María auch nicht…

…und wenn die das rausfinden…

So schwer ist das ja auch wieder nicht…

Die sind ja auch nicht doof. Aber für Nadine sind die alle doof. Ihr passiert nie was. Bis sie in der Bahn beim Schwarzfahren erwischt wird und in den Knast kommt, weil sie illegal in Deutschland ist. Oder bis sie mit ihrem Schwager in der Post erwischt…wer weiß was am machen…und zum zweiten Mal ausgewiesen wird. Aber die sind ja alle doof. Man muss die nur lange genug verarschen…

Die Gedanken drehen einsam ihre Kreise in seinem Kopf. Immer und immer wieder. Den ganzen Tag lang. Wahrscheinlich selbst noch im Schlaf. Plötzlich denkt er: Ach ja, Zeckenmittel muss ich auch noch kaufen. Bei Rossmann. Das gute Zeckenmittel von Rossmann. „Zeckito“. Und Wasser im Edeka – ist das Leben nicht aufregend.

Heute gibt es Fischstäbchen zum Frühstück. Klingt wie ein Film- oder Buchtitel. Viel besser als Schokolade zum Frühstück.

Zuerst geht er zu Rossmann. Er hat die Auswahl: „Zeckito sensitiv“ oder „Zeckito stinknormal“. Für jeweils 1,99. Das stinknormale hält 4 Stunden, das sensitive nur 2. Also das Normale. Seine Zecke ist hartnäckig. Also Zeckito normal.

Heute gibt es Atom-Fischstäbchen, Eier und Ciabatta-Brötchen (Gut und günstig) zum Frühstück. Wenigstens darauf kann er sich freuen.

Zuhause sitzt seine Tochter auf der Bettkante, guckt Fernsehen. Er geht schnurstracks in die Küche. Aber nicht ohne vorher noch einen Kommentar losgeworden zu sein.

„Guck mal hier“, sagt er und hält ihr die Zeckito Sprühflasche direkt vors Gesicht. Zeckito!“

Zeckito: Bestens geschützt gegen die südamerikanische Zecke.

Am Ende kann er der Versuchung nicht widerstehen, es doch noch laut zu sagen: „Zeckito: Bestens geschützt gegen die südamerikanische Zecke.“


„Hey, lass mal ausprobieren, ob das an dir wirkt. Du bist ja halbe Südamerikanerin.

Sie guckt mich böse an, mit diesen großen Augen, die ich so liebe.

Auch gegen den ecuadorianischen Zeckenbock. Den geilen, kleinen Zeckenbock mit dem großen Rüssel. Also komm schon, Rafael, komm schon.

Hilft auch gegen Dortmund-Fans und… Das sage ich jetzt besser nicht öffentlich, ohne meine Anwältin – und die ist schon mit meiner Scheidung komplett unterbelastet. Vielleicht hilft es ja sogar gegen Atlético Madrid. Der Trainer von denen hat auch etwas sehr zeckiges, wenn man so darüber nachdenkt. Südamerikaner ist er auch. Zwar nicht wie die gemeine Andenzecke, aber auch Latino…

Er geht in die Küche und knallt die Fischstäbchen in die Pfanne. Fast die ganze Packung; hier werden keine Gefangenen gemacht. Und als er sieht, dass tatsächlich nur ein Fischstäbchen in der Packung verbleiben ist, quetscht er das auch noch irgendwie zwischen die anderen, obwohl da eigentlich gar kein Platz mehr ist. Wie gierig! Das Leben ist schließlich kurz. Die Liebe auch.

María kommt aus dem Wohnzimmer in die Küche und kommentiert natürlich prompt die volle Pfanne: „Boah, mehr ging auch nicht?!“ Oder nur „Boah!“

„Willst du auch ein paar“, sagt er verlegen. Obwohl er ihr eigentlich gar keine abgeben will. Aber er muss ja wenigstens so tun als ob…

Zum Glück lehnt sie ab und er ist wieder allein, allein in der Küche, mit der vollen Pfanne Fischstäbchen.

Zu den Fischstäbchen gibt es Eier. Vier Eier. Nein, nicht alle jetzt. Nur zwei.

Wenn die Eier nach oben zurückkommen, sind sie schlecht.

Dann darf man die nicht mehr essen.

Schlechte Eier. Deine

Nach einer Weile kommt er zurück ins Wohn-/Schlafzimmer, überlässt die Fischstäbchen einen Moment lang ihrem Schicksal.  María sitzt immer noch auf der Bettkante. Wie adrett sie wieder gekleidet ist…

Im Fernsehen läuft der Wetterbericht. Der Moderator sagt:…kalt, regnerisch…typische April-Wetter eben…

Er ballt die Hände zur Faust und sagt: „Ja! Am Wochenende wird das Wetter schlecht! Ja!“

María sagt nichts, schüttelt glaub ich nur den Kopf.

Das hat er gestern auch schon gesagt. Und vorgestern. Und vorvorgestern. „Bis zehn
Uhr…wann gehst du noch mal?...bis zehn Uhr kann das Wetter gut sein…

…danach soll es regnen, stürmen, Gewitter geben und vielleicht sogar schneien…ja, Schnee wär gut!“

Sie sagt nichts, sie kennt das schon. Sie kennt all seine dummen Sprüche schon. Nur der Zeckito-Spruch war neu. Deswegen hat sie den kommentiert.

Er guckt sich die Bücher an, die auf dem Esstisch liegen. „Freitag ist Selbstverbesserungstag! Da lese ich immer Selbsthilfebücher!“

Sie lächelt sanft. Aber sie lächelt.

Er legt sich für einen Moment ins Bett, vor den Computer.

María steht auf, nimmt ihre Tasche, die auf dem Stuhl neben dem Bett steht. Da, wo sonst immer die saubere Wäsche drauf liegt.

„Ich muss jetzt los.“

Wie immer wird er ihr sagen, dass ich dich vermissen werde. Und wie immer wirst du es ihm nicht glauben…
Aber er sagt es trotzdem
O
O
O

„Scheiße. Ich verpass meinen Bus…“

Dann nimm doch den nächsten. Mir doch egal.