Freitag, 1. Juli 2016

Selbstmord und Urkraft, Urkraft und Selbstmord











Am Bahnhof von Meckenheim stehend, auf den Zug nach Bonn wartend, denkst du darüber nach, warum du noch nicht gesprungen bist, warum du noch keinen Selbstmord begangen hast, nach all der Scheiße, all dem Leiden, dass du durchmachen musstest, dieses und letztes Jahr.

Du trittst näher an die Gleise heran, stehst am äußersten Rand des Bahnsteiges, die Spitzen deiner Schuhe in der Luft.

…und spuckst auf die Gleise. Versuchst mit deiner Spucke die Schienen zu treffen. Das meiste landet daneben, aber manchmal triffst du auch. Geil, denkst du, wenn die Spucke genau auf den grauen Gleisen landet. Deine Spucke ist wie Schrot. Manche Kügelchen landen im Ziel, die meisten aber nicht.

Warum eigentlich nicht? Warum bist du nicht einfach hingegangen und hast deinem Leben ein Ende bereitet, jetzt, wo du nicht mehr mit ihr zusammen bist? Nicht mehr mit der – wie du jetzt weißt – großen Liebe deines Lebens?

Du würdest es nie tun. Selbstmord begehen. Im Leben nicht (was irgendwie ironisch klingt, als er es aufschreibt). Du könntest es nicht. Weil dir Nadine das einfach nicht wert ist. Weil nichts das wert ist. Nichts im Leben. Weil das ein zu großes Opfer ist…für eine Frau, die dich so schäbig behandelt hat. Für keine Frau würdest du… Selbst für Conchita damals nicht.

Das baut dich komischerweise irgendwie auf. Es gibt da etwas, das über all dem Scheiß steht, das die ganze Scheiße sozusagen transzendiert – oder wie das auch immer heißt.

dein Leben

du hast also noch etwas, das dir wichtiger ist als sie. Und das Beste ist: Du trägst es in dir. Sie hat also ihr Ziel nicht erreicht, dich komplett zu entleeren, dich komplett auszusaugen. Wie ein Vampir. Da ist noch etwas in dieser nur scheinbar leblosen Hülle. Dieser Fleischhülle deines schnell alternden Körpers.

Ist es María? Ja

Und nein: Es ist auch etwas in dir, tief in dir drinnen, tief in deinem Inneren. Der Wille zu leben. Der ist noch da. Zu überleben. Sie zu überleben. Weiter zu leben. Den Schiffbruch zu überleben. Irgendeine komische Kraft in dir, eine Urkraft, deine Höhle, wie Edward Norton das in Fight Club nennt. Dein power animal. Tu animal. Tú eres un animal. Alemán. Un animal alemán. Ein deutsches Tier. Verschreckt, enttäuscht, aber noch am Leben. Immer noch. Sie hat dir den Lebenswillen zwar größtenteils genommen, ihn wie einen Skalp, eine Trophäe in ihre neue Wohnung mitgenommen aber…eben nur einen großen Teil. Nicht alles. Da ist noch was. Diese eigentümliche Lebenskraft. Überlebenskraft. Diese eigentümliche lebensbejahende Kraft in dir. Scheiße, die haben ja doch recht! Haben die Ratgeber etwa am Ende doch recht?! Kraft und Liebe findest du nicht in anderen, sondern immer zuerst in dir selbst!

Du bist stärker als sie!! You can beat them! You can be a hero! Just for one life! You’re slowly but steadily bouncing back, you motherfucker! Ya muthafucka! Sie ist dir einen Selbstmord gar nicht wert! So wichtig ist sie nicht! Du bist wichtiger! Du bist dir selbst viel wichtiger, viel näher. Und das ist auch gut so. Jeder ist sich selbst der Nächste! Also: Motherfuck you! Ya cunt, ya!

Du bist noch da. Oder noch besser: Du bist wieder hier, um Westermann zu zitieren. Du bist wieder hier! Noch immer ein Tier! Deine Vitalität, dein Lebenswille ist wie der von Hugh Glass in The Revenant, in dem „Rückkehrer“. Trotz allem noch immer nicht gebrochen. Sie ist ja auch kein Bär, sondern nur ein kleines, fieses Meerschweinchen. Ein cuy. Das kann dich vielleicht beißen und ein bisschen mit deinem Kopf rumficken, aber dir keine tödliche Verletzung zufügen. Wie der Rückkehrer kommst du zurück. Dein Lebenswille bahnt sich langsam seinen Weg durch dir Wildnis, durch das Dickicht, durch die Dunkelheit. Am Anfang nur kriechend und jetzt schon wieder aufrecht gehend. Zwar noch leicht humpelnd, aber mit jedem Tag stärker…

Zuerst kommt nur eine Hand zum Vorschein, dann dein Kopf, dann dein ganzer Körper. Von Erde und Schlamm bedeckt, aber intakt. Die Grube, das Grab, das du mir geschaufelt hast, war nicht tief genug! Deine Lebenskraft, deine Urkraft ist noch da. War nur verschüttet. Nicht tot. Du willst nicht sterben. Du willst sie ficken. Alle, die dich für tot erklärt haben. Alle. Du willst ficken. Willst Geld verdienen, Geld verlieren, willst leben.

Willst alles, willst wieder alles. Mehr! Gebt mir mehr!

Muthafucka

Fuck you!
Fuck you, ye muthafucka!
Fuck you!

Außerdem, denkt er, auf dem Rand des Bahnsteiges balancierend, die Schuhspitzen weit über dem Abgrund geschoben, außerdem würdest du das ja überleben…wenn du hier ins Gleisbett springen würdest… Du würdest dir vielleicht den Knöchel verstauchen, würdest umknicken, dich mit den Händen abstützen und dir dabei eine Schnittverletzung oder Prellung zuziehen. Bei deinem Glück. Bei deiner Tollpatschigkeit. Vielleicht würdest du dir sogar ein Bein brechen. Im ungünstigsten Fall. Aber nicht mehr.

Außerdem ist es dir das nicht wert, ist sie dir das nicht wert, sonst wärst du ja schon lange gesprungen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!


PS: Und Herr Baden, wenn Sie eine literarische wertvolle Beschreibung des Bahnhofs Meckenheim Industriepark benötigen, gucken Sie sich die gefälligst auf einem Foto im Internet an!!!