Sonntag, 17. Juli 2016

Carpe diem?












Nimm es einfach so, wie sie sagt und verschwende nicht weiter deine Zeit“, liest er in irgendeinem Forum, auf der Suche nach der korrekten Schreibweise von „so wie“. Schreibt man das mit oder ohne Komma? Davon hat er immer noch keine Ahnung, aber der Satz bleibt irgendwie hängen. Besonders der zweite Teil, der „verschwende-nicht-weiter-deine-Zeit-Teil“. Irgendwie kommt der dir bekannt vor, dieser Ausspruch. Dieses carpe diem, wie der Lateiner sagt. Und Robin Williams in dem Club der toten Dichter. Wo der denen in der Eingangshalle der Schule all die Bilder mit den früheren Schülern zeigt. Die, wie er betont, „jetzt alle tot sind“. Das soll dann angeblich den Schülern eine Warnung sein, dass sie ihr Leben für etwas Sinnvolles nutzen sollen und eben nicht ihre Zeit verschwenden sollen, weil sie ja nur einmal leben. Man lebt nur einmal, sagt ja auch das Fast-Sprichwort, das man als Ausrede benutzt, um allerlei Scheiß anzustellen. Also muss man seine Zeit „sinnvoll“ nutzen. Und da fangen schon die Probleme an. Denn früher hat er das auch versucht. Wo er noch jünger war, so etwa von 23 bis 31. Da dachte er noch in diesen Begriffen. Davor noch nicht und danach nicht mehr. Da hat er auch versucht, das Maximum aus dem Leben zu quetschen. Dem bisschen Leben, das er hatte. Und ist kläglich gescheitert. Denn die Jahre vergingen und obwohl er verzweifelt versucht hat, den „Tag zu nutzen“, das Beste aus seinem Leben zu machen, sind die Jahre nur so an ihm vorbeigerauscht. Ohne, dass er von ihnen beziehungsweise das Leben von ihm große Kenntnis genommen hat. Wie konnte das passieren? Dabei wollte er doch immer alles aus dem Leben rausholen. War das etwa schon alles? Oder liegt es an Bonn? An seiner Umgebung? An Nadine, die schon diese komischen Feste auf dem Bonner Marktplatz als fiesta sah, während er sich zu Tode langweilte? All die Jahre.

Oder ist es genau das Gegenteil: Liegt es etwa genau an diesem Wunsch, das Leben in vollen Zügen zu genießen, dass es an einem vorbeirauscht? Kann man den Tag überhaupt richtig nutzen? Seine Zeit nicht verschwenden? Seine Zeit nicht nicht verschwenden? Oder ist die Zeitverschwendung vielleicht das einzige carpe diem, das in diesem Leben, in dieser Gesellschaft würde Freud jetzt sagen, möglich ist? Oder verliert man genau den Funken, wenn man versucht, seine Zeit „sinnvoll“ zu nutzen? Verliert man dann genau die Spontanität, die man braucht, um seine Zeit voll auszuschöpfen?

Aber das Problem liegt glaub ich ganz woanders. Denn sobald man sich mit den Jungs in der Welton Academy im Club der toten Dichter darüber bewusst wird, dass man nur ein Leben hat, dass die Zeit eines jeden auf Erden begrenzt ist, hat man da, genau ab diesem Moment, nicht etwa schon verloren? In anderen Worten: Ist es vielleicht sogar besser, seine Zeit zu verschwenden, indem man nicht daran denkt, dass man sterben wird, dass man in 10, 20, 50 Jahren nicht mehr da sein wird als den Tod immer vor Augen zu haben? Hilft es einem wirklich zu wissen, dass Zeitkurve immer gen null tendiert? Oder ist es genau das, was einen daran hindert, sein volles Potential zu entfalten. Denn: Wenn man genau weiß, dass man eh sterben wird, in 10, 20 oder vielleicht erst 60 Jahren, was bringt es einem dann sich abzurackern, etwas zu erschaffen, dass sowieso vom Wind weggeweht werden wird, wenn nicht in hundert Jahren, dann doch irgendwann.

Das hat er sich schon immer gefragt: Ob dieser Stress, den man sich macht, wenn man permanent daran denkt, dass man irgendwann tot sein wird dem eigenen Wachstum überhaupt zuträglich ist? Denn alles vergeht und selbst wenn nicht, selbst wenn mein Werk in tausend Jahren noch da ist…

…ich bin schon in spätestens sechzig Jahren nicht mehr da.

Also: Was hab ich dann davon?! Steve Jobs, Darwin, Dickens, Shakespeare, Cäsar, Queen Elizabeth, sie alle haben persönlich nichts mehr davon, dass sie irgendwann mal Großes erschaffen haben. Denn sie selbst sind zu Staub geworden. Zu Asche. Zu Nichts. Sehen ihr Werk nicht mehr, spüren es nicht mehr, keiner dankt es ihnen persönlich, es sei denn man geht davon aus, dass sie aus dem Himmel auf ihre Errungenschaften heruntergucken…

…und selbst das wird irgendwann langweilig.


Der einzige Grund, der ihm einfällt, seine Zeit nicht zu verschwenden, die wenigen Jahre „sinnvoll“ zu verbringen, ist, dass wenn man es nicht tut, dass Leben irgendwann auf einen zu kommt und einen so dermaßen in den Arsch fickt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Gorbatschow hat das mal so ausgedrückt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben… Aber passiert das nicht irgendwie auch denen, die pünktlich kommen. Denn andererseits bestraft es einen auch, wenn man sich den Arsch aufreißt, um etwas „Sinnvolles“ mit seiner Zeit anzufangen, wenn man wie Steve Jobs „Großes“ erschafft, jeden Tag aussaugt, bis zur letzten Sekunde und dann irgendwann an Krebs stirbt. Den Tod hat das kein bisschen gekratzt, dass er da Steve Jobs vor sich hatte und das dieser Mann den Tag optimal „genutzt“ hat.

Also ist es am Ende doch eh egal, was man macht, denn man macht es immer falsch, egal wie man‘s macht.

In diesem Sinne: Sie können gar nichts falsch machen. Oder anders gesagt: Machen Sie’s falsch! Vielleicht machen Sie es ja dann richtig. Bevor Sie sterben