Donnerstag, 30. Juni 2016

Von wahrhaftigen Umkleidekabinen und vagen Verlustgefühlen









„Boah, die Kabinen bei Mexx zeigen echt die Wahrheit!“ sagt seine Tochter.

Wie recht sie doch hat.

Denn heute war er bei Mexx. Mit seiner Tochter. Bei Mexx mit seiner Tochter. Geil, ne?! Musste ja mal wieder sein. Wenn sich all seine Hosen auflösen, weil er sie zwischen den Beinen durchscheuert. Nicht, nicht vorne zwischen den Beinen, sondern genau zwischen den Beinen eben. So dass, wenn er die Hose vom Boden aufhebt, er manchmal sogar durch die Löcher durchgucken kann, so groß sind die. Peinlich, peinlich! Aber das hat er schon immer gehabt, das Problem. Manchmal mehr, manchmal weniger. Manche Hosen sind resistenter, manche anfälliger für Löcher. Aber am Ende kriegt er sie alle durch. Und wenn das Loch einmal da ist, dann dauert es nicht lange, bis es so groß ist, dass er nur noch mit zusammengekniffenen Beinen eine öffentliche Treppe hochgehen kann. Oder mit einer langen Unterhose drunter, die aber mindestens genauso auffällig ist. Wenn nicht sogar mehr, mit ihren roten Blumen.

Also ist er mit seiner Tochter bei Mexx. Früher hat das ja seine Frau übernommen, aber die gibt es ja nicht mehr. Die existiert ja nicht mehr. Oder wenn, dann nur in einer anderen Galaxie. Seine Tochter setzte sich in eine Kabine gegenüber und harrte dem, was da auf sie zukam. Ich kann Ihnen sagen… Bei Mexx sind die Kabinen besonders wahrheitsliebend. Besonders wahrhaftig, um Freud zu bemühen. Was die immer zu Tage fördern…

…das geht auf keine Kuhhaut.

Es mag ja Kabinen geben, die dem Körper schmeicheln, die nicht jede Unzulänglichkeit, jeden Haarwuchs an den unmöglichsten Stellen, jedes auch noch so kleine oder große Speckröllchen aufdecken, die nur das zeigen, was der Anprobierende auch sehen will…

…aber die bei Mexx gehören garantiert nicht dazu! Das muss er leidvoll feststellen, als er sich das Deutschland-Trikot über den Kopf streift. Ist er wirklich so dick oder stimmt was mit dem Spiegel nicht? Ist er wirklich immer noch so dick? Leck mich am Arsch! Diese Massen von Fett. Unglaublich! Boah, wie ich Umkleidekabinen hasse! Reicht es nicht, dass mir heute die Scheidung zugestellt wurde? Will Gott mich etwa komplett demoralisieren? Die Massen an straff gespanntem Fleisch, das schon fast aus seinem Körper rauszuplatzen droht. Ist das noch normal? Er trainiert doch fast jeden Tag. Scheiße, Mann! Schnell das Hemd anziehen. Zuerst das Schwarze. Dieses edle, schwarze. Das könnte er auch…ja, zur Gerichtsverhandlung anziehen. Damit sieht er aus wie ein Gangster. Außerdem passt schwarz zu seinem momentanen innerlichen Zustand, zu seiner Trauer. Aber am Ende überzeugt es ihn doch nicht, da es keine Knopfleiste hat. Oder nur eine verdeckte. Außerdem hat er eh kein Geld für ein Hemd. Nur für eine Hose. Also probiert er die Hose an. Schwitzt wie ein Tier dabei. Aber hey, seine Beine sehen sogar halbwegs gut aus in diesem Spiegel, der ein direktes Tor zur Hölle zu sein scheint. Er wischt sich die fetten Scheißperlen von der Stirn, wohlwissend, dass sie keine Sekunde später wieder da sein werden. Da muss er jetzt durch. Jede Bewegung erzeugt neue Hitzewallungen, die neuen Schweiß produziert. Seine Haare sehen schonfast aus, als hätte er gerade geduscht. Das ist unglaublich und hat natürlich nichts mit seinem Übergewicht, das ihm der Spiegel nur allzu klar vor Augen geführt hat, zu tun. Wie sollte es auch?! Vielleicht hat er ja eine Krankheit und schwitzt deswegen so stark. Was hat er heute gelesen? Wie hieß dieser Satz noch mal. Nach dem Tod des Partners erlischt der Anspruch auf…: Ein Satz, den er sich jedes Mal, wenn er in seinem Scheidungsratgeber über ihn stolperte, förmlich auf der Zunge zergehen ließ. (Man wird doch noch mal träumen dürfen…!) Aber vielleicht ist ja er derjenige, nach dessen Tod so einige Ansprüche seiner überhaupt nicht gierigen Echse erlöschen. Wieder wischt er den Scheiß weg, obwohl er weiß, dass das nichts bringt. Mit dem Hemd, das er gerade anprobiert. Das will er eh nicht nehmen. Ihm doch egal, ob das der Nächste, der das anprobiert, merkt. Nicht mein Problem! Obwohl: So heiß ist es ja eigentlich gar nicht. Aber schwül. Dieses scheiß-schwule Wetter in Bonn. Wie im Dschungel. Außerdem würde er glaub ich sogar im arktischen Winter schwitzen. Selbst wenn er sich im arktischen Winter bis auf die Haut ausziehen würde und – wobei hoffentlich kein Mexx Spiegel zugegen ist – würde er schwitzen. Das Wetter ist aber auch sowas von schwul.

Aber die Hose sitzt. Auf Anhieb. Die hat  ja auch Stretch-Anteile. Eng, aber passgenau. Nicht Atemnot hervorrufend, sondern genau richtig. Das bestätigt auch María, die sich die Zeit mit Voice-Messages vertreibt. „Merve, du geile Sau!“ „María, du Schlampe!“ „Merve, du puta!“

Wenn’s Spaß macht…

Also nimmt er die Hose, die am Ende nur 39,90 statt der veranschlagten 44,95 kostet. Auf eins kann man sich bei Mexx verlassen, wenn schon die Klimaanlage nicht funktioniert und die Spiegel die Kunden demoralisieren und ihre Körper böse verzerren: Bei Mexx wird alles an der Kasse noch mal runtergesetzt. Und die Kassiererin sieht auch tipptopp aus, obwohl die ihn mit dem Arsch nicht anguckt. Aber wie sieht er auch aus, mit seinem teuren, aber schon leicht angedreckten Deutschland-Trikot, seinen spanischen Geschirrhandtuch-Shorts für 9,99 im andalusischen  Sportfachhandel und seinen ebenfalls in Spanien (diesmal in Pamplona, in einem Corte Inglés für unschlagbare 25 Euro!) erworbenen Basketballschuhe von Nike. Nur Tennissocken trägt er nicht.

Boah, der ihre Titten…

Er ist sozusagen modetechnisch diametral entgegengesetzt zu seiner Tochter, die wie immer wie aus dem Ei gepellt aussieht, mit ihrem luftigen Oberteil. Und ihrer eleganten schwarzen Hose.

Vielleicht wirkt sie ja deswegen so angespannt, weil sie mit so einem übergewichtigen, schwitzenden Langhaarbären durch die Stadt streifen muss, immer auf der Suche nach Beute, die sich der Bär sowieso am Ende nicht leisten kann, weil er bald von seinem kleinen, südamerikanischen Meerschweinchen geschieden wird (der Scheiß-Antrag liegt wie gesagt schon vor, er wartet nur noch auf das Erlischen aller Forderungen).

Vielleicht fehlt ihr aber auch nur was. Wer. Wo sie sich früher bestimmt oft vernachlässigt gefühlt haben muss, wenn er stundenlang mit seiner Frau über Belanglosigkeiten redete und redete und redete…fehlt ihr wahrscheinlich heute ihre Mutter beim Stadtbummel. Mach dir nichts draus, mir fehlt sie auch, möchte er ihr sagen, tut es aber nicht (das bringt ja auch nichts). Wenigstens siehst du sie ja Morgen wieder. Ich nie wieder. Oder erst beim Prozess und das ist nicht gerade eine entspannte, das Wiederaufflammen der Liebe fördernde Umgebung. Wie stand das im Scheidungsantrag? Sie hat nicht die Absicht, die Ehe wieder aufzunehmen… So kann man das auch formulieren. Können Familienrechtler eigentlich nachts noch gut schlafen? Auf dem Rückweg schweigt er weiter beharrlich – was soll er auch sagen: Etwa die Wahrheit?! – und sie tut es ihm gleich. Er aus Ratlosigkeit, sie, weil sie sich seiner schämt oder einfach müde ist oder einfach nichts (mehr) zu sagen hat oder warum auch immer. Passiv-aggressiv ist das heute glaub ich zumindest nicht, obwohl man die Spannung zwischen Vater und Tochter förmlich mit dem Messer schneiden kann. Vielleicht vermisst sie ja auch ihre Mutter oder spürt wie sehr er ihre Mutter vermisst oder ist angesichts all diesem Scheiß genauso ratlos wie er oder spürt wie ratlos er ist und weiß auch nicht, was sie sagen oder machen soll.

„Was soll ich denn jetzt machen?!“

„Ja, nichts, das ist ja auch nicht dein Problem.“ Das heißt, das ist schon irgendwie dein Problem, aber du bist nicht schuld daran, das ist allein auf dem Mist deiner Eltern gewachsen. Auf dem Misthaufen, der in den 19 Jahren Beziehung immer größer wurde, bis er alles unter sich zu begraben drohte und Nadine die Reißleine zog.

Im Bus stehen sie sich gegenüber, ohne sich anzugucken, ohne zu sprechen. Ich weiß doch auch nicht, was ich sagen soll, María. Ich weiß doch auch nicht, was ich sagen soll, Papa. Sie ist schon so groß und so schön und irgendwie hat sie all diese Scheiße nicht verdient. Sie ist so eine gute Tochter. Aber was soll ich denn machen, María?! Nichts

Deine Mutter will mich nicht mehr. Hat schon einen Neuen. Oder hat zumindest ihre Familie. Wurde wieder mit ihrer wahren Familie zusammengeführt. Wozu brauch sie mich da noch?! Ich gucke sie an, aber sie guckt mich nicht an. Sie sieht müde aus und ich bin müde. Bin immer noch am Schwitzen wie ein Tier. Wie ein Tier, gefangen im Käfig meiner Trauer um das, was fehlt. Wie ein Tier, im Käfig des Lebens gefangen, ohne hinaus zu können. Und was sollte mich auch draußen erwarten?! Außerhalb der offenen Käfige in Francis Bacons düsteren Gemälden.