Es ist Samstag-Nachmittag
und er betritt die „Halle“. Gisela wartet schon auf ihn, steht an der Theke. Da,
wo sie immer steht, wenn er kommt. Wenn sie nicht gerade vor der vorderen oder
hinteren Tür steht und raucht. In dem schmalen Durchgang zwischen Theke und „Aquarium“,
dem viereckigen Kassenbereich, in dem sich die Wechselkasse, der Tresor und die
Videoüberwachung hinter dicken Panzerglasscheiben befindet.
Anders als sonst begrüßt sie
ihn heute nicht mit ihrem charakteristischen Lachen, als er voll beladen
reinkommt, die Computertasche in der einen und deinen Rucksack in der anderen Hand,
Kopfhörer im Ohr und das rot-blau gestreifte Bayern-Trikot aus der Champions-League-Siegersaison 2013 unter der braunen Lederjacke. Heute will
ihr in der Tat noch nicht mal ein süffisantes Grinsen über die Lippen kommen. Aber
das fällt im erst später, erst im Nachhinein auf, als sie schon gegangen ist.
Kein Lachen/Lächeln, das ihn immer so nervt, so aus der Fassung bringt, weil er
es partout nicht schafft, es einzuordnen: Handelt es sich nun um ein ironisches
oder gar hämisches Lachen/Lächeln oder soll diese selbstbewusste, überlegen
wirkende Lache nur die darunter liegende Verlegenheit und Unsicherheit
kaschieren. Quasi als psychischer Selbstverteidigungsmechanismus. Oder ist es
vielleicht sogar ein bewusst entwertendes, immer leicht verächtliches Lächeln,
das ihm zeigen soll, wer hier die Hosen anhat, wer hier das Sagen hat. Bei
manchen Leuten kann man das echt nicht sagen, ob die das extra machen oder nicht
oder ob das von Natur aus so ist…
Sie geht zur Seite, um ihn
vorbeizulassen, und er sagt im Vorbeigehen leise, leicht schüchtern, aber auch
leicht verschmitzt „Hallo“ und tritt hinter die Theke.
Nachdem sie ihn
durchgelassen hat, nimmt sie gleich wieder ihre Position am Ende der Theke ein,
den Durchgang blockierend.
„Diese Woche war echt der
Horror, eine schlimme Woche…“, sagt sie.
Er legt seine Sachen hinter
der Theke ab, zuerst seine Computertasche, dann sein frisch gekauftes
Fladenbrot und zu guter Letzt seinen Rucksack schräg darüber.
„Echt?!“ sagt er in einer
Mischung aus echtem Desinteresse und leicht morbider – oder doch schon makaberer?
– Neugier.
„Vielleicht wird ja die
nächste Woche besser…“, nuschelt sie hinter den Scheiben des Kassenbereichs.
„Apropos nächste Woche…“,
nimmt er ihre Steilvorlage prompt auf, denn er braucht dringend noch jemand,
der für ihn zwei Stunden übernimmt. Und da trifft es sich ja gut, dass sie ihm
noch genau zwei Stunden schuldet.
Sie stellt sich neben ihn an
die Theke, guckt ihn an.
„Stimmt, nächste Woche ist
ja wieder…“
„Genau. Wie viele Stunden
schuldest du mir noch mal?“ fragt er, obwohl er genau weiß, wie viele es sind. Das
war kein Witz, wo ich letztens gesagt habe, dass ich die zwei Stunden, die du
mir noch schuldest gewinnbringend anlegen werde!
„Zwei“, antwortet sie.
„Ginge das? Die nächste
Woche einzulösen?“ fragt er zögernd, fast schon ein bisschen ängstlich.
…
„Dass der Dieter die
macht…oder du...“
„Die werde wahrscheinlich
dann ich machen“, sagt sie.
Cool.
„Ok.“
Geil! Result, ya motherfucker!
Sie stellt sich wieder
zurück in den Eingang zum Thekenbereich.
„Mein Hund ist tot“, sagt
sie.
Scheiße, denkt er. Und sagt
er auch: „Scheiße.“
„Am Montag ist er
gestorben.“
„Am Montag?“ Sollte er nicht
da zum Tierarzt. Zur Kontrolle. „Wolltest du nicht da zum Tierarzt?“
„Vor dem Tierarzt. Noch vor
dem Tierarzt.“
„Ach, so. Das tut mir leid…“
Er berührt leicht ihre Schulter. Das ist das Einzige, was er machen kann, um
seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. Er denkt zwar einen Moment lang darüber
nach, sie zu umarmen, aber das geht irgendwie nicht. Das geht dann doch zu
weit. Aber wenigstens ihre Schulter berührt er. Zum Trost. Er weiß, wie das
ist, ein geliebtes Wesen zu verlieren.
…
„Mein herzliches Beileid.“
Sagt man das bei einem Hund. Egal, er hat es gerade getan und immerhin war der
Hund wahrscheinlich ihr Ein und Alles. Sie hat ja keine Kinder. Und keinen
Mann. Und ihr Vater ist auch vor kurzem gestorben. Jetzt hat sie nur noch ihre
Mutter. Dieses Leben ist…
„Danke.“
Er schüttelt mit dem Kopf.
„Das ist das Leben. Das ist
nun mal das Leben.“ So ist das Leben.
und du hast mir vor Wochen
noch gesagt, dass du eigentlich glücklich bist…
Und er hat es ihr schon
damals nicht wirklich geglaubt, war skeptisch. Wie kann denn jemand anderes
glücklich sein, wenn er es nicht ist. Vielleicht noch nie war. Oder zumindest
seit der Trennung nicht mehr war.
„Der ist in meinen Armen
gestorben.“
„Echt. Wie mein
Zwergkaninchen damals, in meiner Jugend. Das ist auch bei mir in den Armen
gestorben…“
Du hast gesehen, wie es die
Augen geschlossen hat…
Kurz denkt er darüber nach,
ob ein Zwergkaninchen mit einem Hund zu vergleichen ist, aber für einen
16-Jährigen bestimmt. Andererseits war der Hund wie ein Kind für sie. Innerlich
ringt er um etwas, das er sagen könnte, aber ihm fällt nichts ein. Etwas, das
ihr zumindest einen Teil des Schmerzes nehmen könnte. Aber das ist so schwer.
Am Ende sagt er nur, ein bisschen unbeholfen: „Der war ja auch immer hier…“
Sie sagt nichts.
„…war ja auch süß, wenn er
hier war.“
…ist ihm immer nachgelaufen.
Oder dem Essen in seinem Rucksack? Chicano
hieß der und das ist das erste Mal, das er Gisela so sieht.
„Chicano…“ sagt er laut, so als könnte er ihn wieder
heraufbeschwören. Wieder zurückbeschwören. Aber das ist hier nicht der Friedhof
der Kuscheltiere.
Er denkt darüber nach, wie
seine Mutter sich fühlen würde, wenn ihr Chihuahua sterben würde. Bestimmt
genauso. Irgendwie…und darauf ist er nicht stolz…wünscht er ihr das…dieses
Gefühl. Ihr, die immer gesagt hat: Du sollst nicht lästern. Das wünscht man
keinem. Aber er kann nichts dafür, so denkt er halt.
„Willst du keinen Neuen?“
fragt er Gisela. „Einen Welpen.“
Wie in Marley und Ich. Wo
die nach Marleys Tod sich direkt wieder einen Neuen kaufen. Er weiß noch, wie
er den Film mit María geguckt hat. Nadine war damals in Ecuador, weil er Vater
gestorben war. Überraschend. Der Tod kommt immer „überraschend“.
„Nein.“
Er will auch keine Neue.
Obwohl die bestimmt irgendwann kommen wird. Schwul wird er jedenfalls (leider)
in diesem Leben nicht mehr. Und ein alter Jungmann wohl auch nicht.
Sie will schon gehen, als er
sagt: „Das ist bestimmt hart. Wenn man immer mit dem Gassi gegangen ist. Und
jetzt fällt das weg. Auf einmal. Die ganze Routine…“, sagt er und redet sich
damit noch mehr um Kopf und Kragen.
…
„Das ist bestimmt schwer.
Dann fehlt auf einmal was…“
wenn man immer mit ihr in
den Wald gegangen ist, laufen gegangen ist, überall mit ihr hingegangen ist,
immer nur mit ihr…dann fehlt einem was, wenn sie dann nicht mehr da ist
„Ja, genau…“, sagt sie
bestätigend, so als wüsste er ganz genau wie es in ihrem Inneren aussieht, wie
sie sich gerade fühlt. Weiß er ja auch. Wie in Trance. Schockstarre. Alles ist
irgendwie wie in Watte gepackt. Un gleichzeitig unendlich hart. Du hast einen Chicano verloren und ich eine chica. Wenn du wüsstest… Ich weiß genau,
wie du dich fühlst. So fühle ich mich schon seit letztem Jahr. Seit dem ersten
März. Alles neu macht der März. March is
the cruellest month…
„Genau“ sagt sie. „Das ist
das.“
Das ist Scheiße. Ohne Ende.
„Ich weiß noch, wie der hier
war. So klein…“ Wie der mit nachgelaufen ist…
So wie Nadine. So klein. Und
trotzdem vermisst man sie so sehr, wenn sie nicht mehr da ist. Irgendwie habe
ich das Gefühl als würde sie gleich anfangen zu heulen. Tut sie dann aber doch
nicht. Sie ist halt hart. Frauen sind viel härter als Männer. Das bestätigt
sich immer wieder.
„Die Woche war die Hölle.
War schlimm. Ich hab hier geputzt, aber so richtig…“
Sie guckt mich an, als wäre
das alles sinnlos gewesen. Als würde das alles nichts mehr bedeuten, jetzt, wo
ihr Hund tot ist.
So fühle ich mich schon seit
über einem Jahr, sagt er nicht, aber denkt er. Wenn du wüsstest.
„Ich hab den schon beerdigt.“
Wo, hinterm Haus oder was?!
Mein Zwergkaninchen haben wir damals hinterm Haus beerdigt. Auf diesem schmalen,
steinigen Streifen zwischen dem Gartenzaun unserer Nachbarn – damals lebte der
Mann von Frau Bosse glaub ich noch – und der Hauswand.
„…bin ich gestern in die
Eifel gefahren.“
„In die Eifel?“
Wenn du wüsstest, was ich
gelitten habe. Obwohl sie nicht gestorben ist. Das ist ja das Schlimme. Nein,
so meine ich das nicht. Das ist noch viel schlimmer. Der Tod ist definitiv…aber
seine Trennung von Nadine…ist noch viel definitiver. Aber das wirst du ihr
jetzt nicht sagen. Selbst jetzt nicht. Selbst jetzt bist du noch unehrlich. Ein
Jahr und drei Monate nachdem Nadine gegangen ist. Nach 19 Jahren. Du kannst
immer noch nicht zugeben, dass du verlassen wurdest. Von der ersten Frau in
deinem Leben. Der ersten und letzten großen Liebe. Weil du den Verlust immer
noch nicht überwunden hast. Und weil du nicht Stadtgespräche werden willst.
Männer sind die größten Klatschtanten. Und hier arbeiten fast nur Männer. Selbst
jetzt sagst du es ihr nicht. Die präsentieren dir her eine Gelegenheit nach der
anderen und du…belügst sie und dich selbst noch immer. Schäm dich!
Die wissen das
wahrscheinlich ja eh. Weil sich deine Steuerklasse geändert hat. Weil du sie
ändern musstest. Vier Monate zu spät.
Du möchtest es ihr ins
Gesicht brüllen: „Ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst. Weil meine Frau
gegangen ist…mich verlassen hat. Einfach so, von heute auf morgen. Aber ist der Tod eines Hundes nicht viel
schlimmer als die Trennung von einer Frau, die dich nicht mehr will, die nicht
mehr mit dir zusammen sein wollte. Oder wird andersrum ein Schuh draus. Wenn du
jetzt anfangen würdest zu reden…dann wäre sie Morgen früh noch hier. Wenn du
jetzt ehrlich wärst…
Bist du aber nicht. Weil es
noch immer zu hart ist, zu schwer ist, zu sehr weh tut.
Der Hund war wenigstens
treu. Nicht wie Nadine… Du kannst dich des Gedankens nicht erwehren. Er kommt
dir einfach so in den Kopf. Dann ist das vielleicht noch viel härter für sie.
Der Hund hat sie geliebt. Oder ist es andersrum härter? Wenn man nicht geliebt
wird. Und das irgendwann, nach langer Trauer, merkt?
„Hab ich Morgen Dienst?“
fragt er sie.
Sie überlegt einen Moment,
sagt dann: „Nein, ich habe Morgen Dienst.“
„Ach so. Ist vielleicht auch
besser so. Arbeit ist gut. Dann musst du nicht so viel denken… Besser, dass du
arbeitest.“
War bei mir auch so, was
meinst du, warum ich die letzten nunmehr (was für ein Anwaltsausdruck!) fast 1
½ Jahre so viel gearbeitet hab?! Aus Spaß an der Freud bestimmt nicht. Wenn die
Familie wegbricht, federt dich die Arbeit wieder ab, gibt dir wieder eine
Perspektive.
Scheiße, ich hab frei, denkt
er. Sonntags frei und der Tag ist gelaufen. Den ganzen Sonntag. Horror. Das war
ein Horror-Sonntag. Alleine, ohne María und natürlich ohne Nadine in deiner
unaufgeräumten, kleinen Wohnung. Die eigentlich nur ein Zimmer hat, wenn man
mal von Nadines Zimmer absieht, in dem du dich nie aufhältst.
„Das ist gut…“ lügst du
weiter. „Dass du jetzt arbeiten kannst. Dann kannst du vielleicht ein bisschen
abschalten. Auf der Arbeit. Ist vielleicht auch besser…“
Ich will auch arbeiten.
Bitte! Ich will nicht alleine Zuhause sein.
Als sie gegangen ist, denkst
du: Der Hund hatte es an der Lunge. Und die hat geraucht.
Na und: Du hast gestritten.
Und geschrien. Und „Theater“ gemacht.
Du denkst: Ist die wirklich für
einen Hund in die Eifel gefahren? Und wo hatte sie den Hund? In einer Kühlbox?
Wie war das eben mit dem
Psychologischen Selbstverteidigungsmechanismus?
Wenn du reden würdest…
Dein Körper ist von Leid
gesättigt wie der Boden von dem Hochwasser letzte Woche.
Und warum kann ich nicht
arbeiten, denkt er, schließlich habe ich eine Frau verloren. Und die nur einen
Hund…