Montag, 13. Juni 2016

Die letzten 24 Stunden










Es ist Montag, der 13.06.16, 12:10 Uhr. Er sitzt am Bahnhof auf einer Bank und isst Brötchen. Eins nach dem anderen, immer weiter. Seinen Zug hat er gerade fahren gelassen. Scheiß drauf! Er hat noch Zeit. Obwohl Herr Reiher, sein Kollege, im Zug saß und ihm sogar noch zugewunken hat. Aber er hat den Zug trotzdem nicht genommen. Oder gerade deswegen nicht, weil der da drinnen saß?! Nein, so wichtig ist Herr Reiher auch wieder nicht. So nervig. So langweilig. Obwohl er einem schon ganz schön auf die Eier gehen kann. Mit seinem ständigem intellektuellen Gehabe und Getue. Einmal, nur einmal würde er ihm gerne die Frage aus Fight Club stellen. Die, die Brad Pitt Edward Norton im Flugzeug stellt: Bringt das Ihnen was, so intelligent zu sein? Aber dafür ist er natürlich viel zu nett. Viel zu feige.

Seelenruhig kaut er auf seinen Brötchen rum, die er zum reduzierten Preis bei Kamps gekauft hat. 5 Dinkel-, Sonnenblumen-, Vollkorn oder Roggenbrötchen zum Preis von zwei Euro. Ein echtes Schnäppchen! Normalerweise würden 5 Roggenbrötchen € 3,25 kosten. Und so nur € 2. Geil, ne?! Er selbst hat sich 2 Dinkel- und 3 Roggenbrötchen genommen. Seelenruhig sitzt er da und hat schon drei der 5 Brötchen verspeist. Während er Love of Lesbian hört. Auf seinem MP3-Player. Diese spanische Band, an die er den Rest seines Herzens verloren hat. Das heißt, das, was María davon noch übrig gelassen hat. Aber wer weiß schon, wie es in seinem Inneren aussieht. Wie es wirklich in seinem Inneren aussieht. Äußerlich wirkt er seelenruhig, wie er so dasitzt und kaut. Äußerlich…

Er hört das Lied „Los días no vividos“. Mittlerweile schon zum dritten Mal. Er liebt dieses Lied. Der Titel stammt aus dem gleichnamigen spanischen Film, der davon handelt, dass der Weltuntergang durch irgendwelche Sonnenstürme unmittelbar bevorsteht und die Leute aus den Nachrichten erfahren, dass ihnen nur noch 24 Stunden bleiben. Er kaut und denkt darüber nach, was er an seinen letzten Tag auf diesem Planeten machen würde. Wie würde ich diesen einen Tag verbringen, wenn ich ganz genau wüsste, dass es mein letzter ist? Er weiß es nicht, findet keine Antwort. Würde er die ganze Zeit nur mit Rumsaufen und Rumhuren verbringen? Mit Sex- und Gewaltorgien? Oder würde er diese absolut letzten 24 Stunden seines Lebens mit seinen Liebsten verbringen, von denen eigentlich nur noch María übrig geblieben ist? Würde sie ihren letzten Tag mit ihm verbringen wollen? Oder mit ihrer Mutter? Oder mit beiden? Sozusagen als letzter Wunsch.

Wie er so darüber nachdenkt, fällt ihm die Antwort förmlich wie Schuppen von den Augen. Er lächelt bitter. Klar, denkt er. Aber wer weiß schon, was in seinem Kopf so vor sich geht. Ich, als Erzähler dieser schier unendlichen Geschichte von Leid, Liebe, Leben und Tod, als Gott über diese Welt, die Einzige, die mir geblieben ist, weiß zwar, wie ich es machen würde, aber das interessiert ja niemanden. Ihr wollt ja alle (alle 2,65 Leser im Monat) wissen, wie er die Zeit verbringen würde, die ihm noch bleibt. Ich persönlich würde mir sagen: Scheiß auf alle Gesetze! Wer will dich denn och bestrafen, wenn in 24 Stunden eh alle tot sind?! Und dann würde er losgehen. „In einer Welt ohne Gesetze…“, hat er früher immer zu Nadine gesagt. In einer Welt ohne Gesetze würde ich keine Angst mehr haben, endlich keine Angst mehr. Oder noch mehr Angst, aber dafür wär sie wenigstens real. Irgendwie

Und was würden Sie tun, lieber Leser, wenn Sie wüssten, dass Ihnen nur noch 24 Stunden bleiben?

Und was würdest du tun, lieber Leser? (Schließlich habe ich nur noch 24 Stunden, und da sieze ich doch niemanden mehr! Nie mehr!)