Heute fällt es ihm wie
Schuppen von den Augen. Das war bei allen ihren Partnern das Gleiche. Immer die
gleiche Vorgehensweise. Der gleiche Modus Operandi sozusagen. Immer die gleiche
Masche. Oder war es keine Masche? Bei ihm kam die zweite ihrer Schwestern aus
Spanien wieder und schon war es aus. Sie sei nicht glücklich mit ihm, hatten
sie ihr eingeredet. Und sie hatte sich das auch nur allzu bereitwillig einreden
lassen. Immerhin war das ihre ältere Schwester und nicht irgendwer, der das
sagte. Und bei ihrem angeblich ersten Freund in Deutschland, bei Olav hatte sie
sich auch von ihm getrennt, er hat ein Riesentheater gemacht im Flur und ihre
Schwester hat für sie die Drecksarbeit übernommen, ihn endgültig loszuwerden. Ihm
zu drohen und ihn vor die Tür zu setzen. Und schon war er weg. Entsorgt. Wenn
das überhaupt so stimmt. Vielleicht ließ er sich ja gar nicht so einfach
entsorgen, machte in Wirklichkeit mehr Schwierigkeiten als sie mir weismachen
wollte. Aber am Ende setzte Slainté sich durch. Mit ihrer unnachahmlich
charmanten Art. Für irgendwas muss die Familie ja gut sein. Am Ende haben sie
sich doch mit vereinten Kräften gegen ihn durchgesetzt. Es war ein langer
Kampf. Länger als bei Miguel und bei Olav, aber am Ende war er doch von Erfolg
gekrönt. Wenn man so drüber nachdenkt, dann könnte man glatt meinen, das hätte
System. Ihre Schwester macht ihr alle Beziehungen kaputt. Oder sie lässt alle
ihre Beziehungen mit Hilfe ihrer Schwester über die Klippe springen. Vielleicht
ist ja ihre Schwester für sie so etwas, wie die Frau fürs Grobe. Aber er weiß
nicht, wer bei denen das Heft in der Hand hat. Vielleicht ist sie ja genauso
schlimm. Zwei Krähen…
Dabei war das Verhältnis
zwischen den beiden bei weitem nicht immer so harmonisch. Ich weiß noch damals,
als ich gerade mit ihr zusammengekommen bin (oder sollte ich besser sagen:
zusammen gekommen?), hat sie sich dauernd über ihre Schwestern aufgeregt.
Besonders über Mandy. Die ging ihr damals so richtig auf die Nerven.
„Immer muss ich alles für
die machen. Die kann kein Deutsch, die kann keine Arbeit suchen nichts. Alles
muss ich machen. Und dann ist sie noch herrisch wie sonst was. ¡Es una mandona!“
Und selbst bei Miguel, ihrem
Freund in Ecuador, ist es trotz alledem wieder
Slainté, die eine entscheidende Rolle spielt. Denn sie kommt als erste nach
Deutschland, findet hier Arbeit und holt ihre Schwester. Fester Freund oder
nicht. Wenn interessiert das schon. Er weiß von nichts, sie erzählt ihm, dass
sie mit ihm auf eine Party gehen will, wo sie nie auftaucht und er fällt aus
allen Wolken, als er feststellen muss, dass seine Freundin schon nicht mehr im
Land ist. Dass sie vielleicht schon in Europa ist, in Deutschland, bei ihrer
Schwester. Dass sie ihm vielleicht nur etwas vorgemacht hat. Die ganze Zeit
über. Denn wenn sie ihn geliebt hätte, wäre dieses Gefühl doch sicherlich
stärker gewesen als ihr Wunsch nach Freiheit, nach etwas Neuem, nach Geld, nach
vermeintlich besseren Verhältnissen. Einem besseren Leben.
Immer wenn er mit ihr
darüber geredet hat, hat sie das Thema runtergespielt, hat gesagt: Dem geht es
doch wieder gut. Der hat jetzt zwei Töchter und eine andere Frau.“
„Hattest du nie Lust, den
wiederzusehen?“
Darauf hat sie nie richtig
geantwortet. Und er dachte, das sei so, weil sie immer noch Gefühle für ihn
hatte. Damals hatte er sich gerade von Conchita getrennt und konnte das
nachvollziehen. Oder sie glaubte, er sei noch immer zu wütend, hegte ihr immer
noch einen Groll wegen damals. Weil sie ihn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion
einfach so sitzengelassen hatte. Ihn einfach so belogen hatte, was ihre
europäischen Pläne anging. Oder einfach geschwiegen hatte. Einfach so nichts
gesagt hatte. Damit er ihre Abreise nicht verhindern kann. Damit er nicht
ungemütlich wird. Sich normal zu trennen wäre ja auch viel zu anstrengend
gewesen. Emotional. Aber die feine englische Art ist das trotzdem nicht.
Irgendwie kommt ihm das alles auf eine schmerzhafte Art und Weise bekannt vor. Miguel
war auch jünger als sie. Nicht unbedingt fünf Jahre, so wie zwischen ihm und
Nadine, sondern glaub ich drei oder vier. Sie 19, er 16 oder vielleicht sogar
erst 15. Robacunas nennt man so was
auf Spanisch. „Wiegendiebin“. Oder „Wiegendieb“ in der männlichen Ausprägung. So
bezeichnet man eine Frau oder einen Mann, der einen (viel) jüngeren oder gar
einen viel zu jungen Partner hat. Und selbst ihr Neuer, wenn das ihr Neuer ist,
der Sohn von ihrer Chefin, der natürlich Spanisch kann, aber natürlich nie mit
ihr spricht, weil er sich nicht traut, obwohl er als Ingenieur viel Zeit in
Mexiko verbringt und dort bestimmt Spanisch redet und nicht Englisch… Und ihr Neuer,
ihr Neuer ist soweit ich weiß, auch erst 37. Jünger als er selbst. Na, wie
fühlt man sich da, wenn man für einen Jüngeren verlassen wird. Obwohl du das ja
nicht genau wissen kannst, weil wie bei Miguel ja gilt: Aus den Augen, aus dem
Sinn. Der beste Umgang mit dem Ex ist ihn komplett totzuschweigen. Aber er ist
nicht tot. Zumindest noch nicht. Zwar auch nicht gerade alive and kicking, aber auch nicht tot. Vivo y coleando heißt das auf Spanisch. Das ist im Grunde
genommen die gleich Wendung. Nicht zu verwechseln
mit vivo y culiando, was so viel
heißt wie „lebend und fickend“. Con
perdón. Entschuldigung. Aber das ist die Wahrheit. Die nackte Wahrheit und
nichts als die Wahrheit, so wahr ihm der Teufel helfe. Das wäre ihr bestimmt
lieber, wenn der ganze unnötige Ballast aus der Vergangenheit mit einem Mal
umfallen würde. Und nicht wieder aufstehen würde. Robacunas. ¡Eres una robacunas! Sie hat immer gelacht, wenn jemand, oder ich,
das gesagt hat. Er auch. Er hat auch immer
herzlich mitgelacht, immer in dem festen Glauben, dass ihm so was nie passieren
könnte… Nein, du bist dagegen immun, dir passiert so was nicht. Weil du besser
bist als all diese ersetzten, sitzengelassenen Exen. Klar! Sieht man ja!
Wie sich Miguel wohl gefühlt
hat, damals. Als er auf einmal – von ihrer Familie – vor vollendete Tatsachen
gestellt wurde. Als er bei ihr Zuhause aufgetaucht ist, nach ihr gefragt hat,
ihre Mutter, ihren Vater, ihre Schwester. Und sie ihm gesagt haben: Die ist zu
ihrer Schwester geflogen. In Europa. Die ist jetzt in Deutschland. Oder haben
sie ihm das vielleicht gar nicht so direkt gesagt?! Haben sie ihm vielleicht
noch auf perverse Art und Weise Hoffnungen gemacht: „Die ist nur in Urlaub, die
kommt bestimmt bald wieder. Die wollte nur mal ihre Schwester in Deutschland
besuchen. Mal etwas Neues sehen. Wann hat man dazu schon die Gelegenheit, hier
in Ecuador, hier auf dem Land. Du musst das verstehen.“
Und hat er sich vielleicht
am Anfang sogar Hoffnungen gemacht, fest geglaubt, dass sie aus dem Urlaub in
Europa zurückkommen wird. War er vielleicht sogar stolz auf seine ältere
Freundin, die in Europa Urlaub macht. Die einfach so weggeht…
Hat er sich Monate, Jahre
später, wo er längst wusste, dass das Ganze kein Urlaub mehr sein konnte, noch
Hoffnungen gemacht, dass sie vielleicht irgendwann, vielleicht schon bald ihren
Fehler einsehen würde, dass sie schon bald die Sehnsucht packen würde, die
Sehnsucht nach ihm, nach Ecuador, nach einem Leben zu zweit. Einem ärmeren,
aber vielleicht glücklicheren Leben zu zweit. Er KFZ-Mechaniker, vielleicht mit
einer eigenen kleinen Werkstatt und sie Hausfrau und Gelegenheitsarbeiterin von
Zuhause. Hat er noch Jahre danach, in den schier undendlichen Weiten der Anden
einsam in die Ferne geblickt, immer in der Hoffnung, dass die Liebe doch noch
siegt. Dabei war die Liebe längst tot,
wenn es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Hat er heimlich geweint, in seiner
Verzweiflung sogar manchmal an Selbstmord gedacht. Oder daran selbst
wegzugehen. Aber wie sollte sie ihn denn dann finden, wenn sie wiederkäme… Und
sie würde irgendwann wiederkommen. Das wusste er. Obwohl ihm seine Mutter und
sein Vater in dieser Hinsicht keine Hoffnung machten. Wenn die einmal weg ist,
einmal in Europa ist, dann kommt die nicht wieder. Such dir einfach eine Neue!
Geh zur nächsten Dorffiesta und lach dir eine Neue an (sein Vater). Du kannst
nicht ewig der Nadine nachtrauern (seine Mutter). Aber er hoffte weiter, bis er schließlich
auch eine Neue fand, die Schwester verfluchend, die nach Deutschland gegangen
war. Diese Hexe, diese… Esa puta. Seguro
se está vendiendo el culo en Alemania.
Und als er schließlich über
sie hinweg war und seine neue Frau, die keine Ambitionen hegte ins Ausland zu
gehen und gleichaltrig war, da hörte er auf dem Dorf (¡pueblo pequeño, infierno grande! – kleines Dorf, große Hölle!) Gerüchte,
dass sie wiedergekommen war. Zuerst ihre Schwester, dann sie. Er hatte schon
Lust, da hinzugehen und ihr die Meinung zu geigen. Ihr oder ihrer Schwester.
Wem auch immer. Ihr zu sagen, was er von ihr hielt. Aber er musste auch
Rücksicht auf seine Frau nehmen. Wenn sie davon erfahren würde…
…und das würde sie, in
diesem Dorf, wie würde sie sich dann fühlen?! Wie die zweite Geige, das dritte Rad am Wagen.
Nein, er konnte ihr das nicht antun. Also hielt er die Klappe, saß lediglich
abends, nach der Arbeit, noch ein bisschen nachdenklicher als sonst am kargen
Küchentisch, während seine Frau ihm von der neuesten Folge der telenovela, von den Tritten des Babys in
ihrem Bauch oder von den Fleisch- oder Milchpreisen erzählte. Nichts ahnend.
Arglos, was sich in seinem Hirn so abspielte. Wie Nadine bei dir, als du an Conchita dachtest, damals, noch Jahre nach Schottland, immer irgendwie
abwesend, immer irgendwie im Gedanken woanders, melancholisch
Während Nadine schon mit
Olav beschäftigt. Oder sogar schon mit ihm. Jahre später kam sie mit diesem
jungen Deutschen nach Ecuador. Das war auf dem Dorf das Gesprächsthema. Die
hatten den gesehen, mit einem T-Shirt mit Haschichblatt drauf. Der sollte noch
richtig jung sein, so um die 20 erst. Er wusste es nicht genau, wollte davon
auch irgendwie nichts hören. Nur nichts wissen. Keine Details, bitte! Halt
einfach die Klappe, ja?!
Der war jung, wie er. Und
sah gut aus. Angeblich. Das hatten die Schneiderinnen seiner Mutter gesagt. Und
die hatte es seinem Bruder erzählt. Und der ihm. Ein Deutscher. Was für ein
Arschloch! Ein Nazi! Die war mit einem Nazi zusammen, schlief mit dem, hier in
Ecuador! Vor der Hochzeit! Geschieht ihr recht!
Oh, Miguel, wenn wir uns
damals begegnet wären, als ich in Ecuador war, oder noch besser heutzutage, wir
hätten viel zu besprechen. Aber leider weiß ich deinen Nachnamen nicht und
Miguel ist ein Allerweltsname. Wenn du da wärst, in ihrem Dorf, dann würdest du
ihn bestimmt finden. Aber noch mal kriegen dich da keine zehn Pferde hin. Noch
mal reist du ihrer Spur der Vernichtung nicht nach, dafür brauchst du diesmal
auch keinen Vater, der dir davon dringend abrät. Du bist weiß Gott nicht mehr
der kleine, naive, verschüchterte 19-jährige Junge, der du damals warst.
Wir hätten bestimmt viel zu
besprechen…