Ich weiß noch, wie wir damals in der
Disko waren. Das eine Mal. Das letzte Mal?
Wie ich getrunken hab. Wie ein Tier.
Wodka, Weizen und alles, was ich an
Alkohol bekam. Alles.
Du nichts. Du musstest ja fahren. Und
trinken war auch nicht so deins. Dein Ding.
Mich ödete das alles so an. Alles.
Wirklich alles. Die Disko, die Musik, die Ehe, die Leute in Bonn, das Leben.
Ich wollte mehr. Mehr vom Leben. Es muss doch noch mehr geben als das. Als
diesen Alltag. Immer die gleichen Leute. Immer die gleiche Musik. Immer die gleiche
Arbeit. Alles langweilig. Ich wollte mehr…
…und heute habe ich weniger. Das hat man
davon…
Du wolltest mehr, wolltest Spaß haben,
wolltest die Welt ficken, wolltest deine russische Nachbarin ficken. In den
Arsch. Auf der Waschmaschine im Keller. Wolltest ihre Freundinnen ficken.
Wolltest alles ficken, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Wolltest leben.
Wie einfach und doch wie schwer. Damals
wusstest du noch nicht, dass man in Deutschland nicht leben kann, nicht leben
darf – es könnte ja die Nachbarn stören.
Wolltest das Leben genießen, wenigstens
ein bisschen, bevor du das Zeitliche segnen musstest. Den das wusstest du schon
immer – seit du damals als 15-Jähriger in deinem Zimmer unter dem im Bett lagst
und dich fragtest, wie viele Jahre dir noch bleiben sollten…wie das wäre mit
30, 35, wie viele Jahre dir dann noch bleiben würden…
…und Angst hattest
and
in short, I was afraid
Jetzt weißt du, wie das ist…
…wie sich das anfühlt…
Hättest du das doch mal damals gewusst…
(hättest du auch nichts machen können)
Nichts außer in der Disko auf der
Tanzfläche zu stehen, zu bis oben hin, voll von Alkohol, Sehnsucht und Lust,
und dieses Lied in ihre Ohren zu singen, zu schreien. Damit sie es auch bloß
versteht
Que
yo no tengo la culpa…
Que yo no tengo la culpa…
Immer wieder. Immer wieder hattest du
nicht die Schuld. Denn das heißt die Zeile auf Deutsch: „Ich bin nicht
schuld…“
Heute weiß ich, dass das Lied politisch
ist. Damals wusste ich das nicht. Politisch passt auch mehr zu heute als zu
damals. Damals war das persönlich, das Lied. Persönlich. Ich nahm das
persönlich.
Du wolltest mehr und sie wollte nicht
mehr. Sie hatte keinen Bock mehr. Hatte darauf natürlich keinen Bock. Sie
wollte sich innerhalb der Gesellschaft austoben. Austanzen. Normal tanzen. Spaß
haben. Lächeln.
Ich wollte auch nicht mehr. Ich wollte
dieser Gesellschaft den Arsch aufreißen. Die Brust, um zu sehen, ob da
irgendwo, irgendwo in diesem tristen Deutschland, noch ein kleines Herz
schlägt. Schwach, aber noch nicht tot. Das man vielleicht noch wiederbeleben
konnte. Dem man wieder Leidenschaft einflößen könnte. Ich hatte keinen Bock
mehr auf die ganze Scheiße. Immer das Gleiche. Zu tanzen wie die anderen
tanzen. Zu Musik, die ich nicht mag. Mit Leuten, die ich nicht mag. Und erst
ihre Freunde, ihre Familie. Der Horror. Zum Glück wollten die mich nicht sehen…
Ich hatte keinen Bock mehr auf all diese
ritualisierten, synchronisierten Bewegungen auf der Tanzfläche, all dieses Arme
und Hüften schwingen im Gleichklang der Musik. Nur nicht auffallen, selbst beim
Tanzen nicht, alles geregelt. Und das trotz des Alkohols, der natürlich in
Strömen floss.
Heute weiß ich, dass es das, was ich
wollte, nicht gibt. Nicht in dieser Gesellschaft, nicht in diesem Leben.
Wir müssen alle sterben…
…und ich war schon seit so vielen Jahren
tot.
Saß nur noch da und trank. Bestellte
gleich zwei Bier auf einmal. Trank ihrs mit. Aber dann kam da dieses Lied. Das
ich immer geliebt hatte. Dieses spanische Lied. Das so anders war als diese
typischen sinnentleerten Latino-Lieder, die von einer Liebe singen, von einer
Leidenschaft, die es in Lateinamerika bestimmt nicht gibt. Und wenn, dann nicht
in Ecuador. In den Anden. Ich liebte dieses Lied. Das war für mich der duende, der spanische Urgeist. Den schon
Lorca versucht hatte, in Worte zu bannen. Und daran gescheitert war…
Was für ein arrogantes Arschloch ich
doch war. Kaum hatte das Lied angefangen und sie wollte von der Tanzfläche
runter wieder an ihren Platz, an unseren Platz – das konnte sie nämlich nicht
tanzen, nicht einfach so wegtanzen – da hievte ich meinen schweren, vom Alkohol
auch nicht wendiger werdenden Körper vom Sofa, auf dem wir saßen, runter und stolperte/torkelte
Richtung Tanzfläche.
Das wollte
ich jetzt tanzen! Der betrunkene
Tanzbär persönlich.
Beziehungsweise singen. Ihr ins Ohr
singen. Aber das kam später. Zuerst packte ich sie zur Begrüßung erst mal an
den Hintern, richtig hart und gar nicht zart, so dass sie auch was davon hatte…
Ich packte ihr voll an den Arsch und versuchte sie zu küssen. Sie wollte nicht.
Das wollte sie nicht. Das war ihr peinlich, vor den Leuten. Die vorher
bestaunt hatten, wie gut sie tanzen konnte. Immer die gleichen Bewegungen. Wie
ein festes Ritual. Sie musste mir den Kuss dann am Ende doch geben – ob sie wollte
oder nicht – drückte mich danach aber gleich wieder weg von sich. Ich versuchte
sogar mich ein bisschen anzupassen, versuchte für ein paar Augenblicke sogar zu
diesem Lied zu tanzen – was überhaupt nicht geht, selbst wenn man ein guter
Tänzer ist. Und kein voller Tanzbär mit 90 Kilo Lebendgewicht. Aber sobald der
Refrain kam, waren diese plumpen Versuche dazuzugehören eh vorbei und ich ging
voll in den Kampf-Modus. Fing an wie bekloppt, den Refrain mitzusingen.
QUE
YO NO TENGO LA CULPA…
SI YO NO TENGO LA CULPA:…
Wie in Bekloppter. Und selbst wenn ihr
das Grapschen und küssen vorher nicht schon peinlich genug gewesen wäre…das
Mitgesinge gefiel ihr definitiv nicht.
Wen wolltest du eigentlich damit
beeindrucken?! Sie, die Leute, dich…oder gar niemanden? War das etwa ein
authentischer Ausdruck deiner Seele, deiner Identität? Vielleicht
In England ist das auch beliebter als
hier in Deutschland. Das gibt es ja auch noch Karaoke-Abende in den Pubs. Und
die Fußballfans singen auch volle 90 Minuten lang mit, wenn ihr Team spielt (ob
gut oder schlecht ist dabei oft sogar egal). Aber in Deutschland, da darf man
nur geordnet gut tanzen (am besten noch in einem Tanzkurs gelernt). Selbst das
Trinken verläuft, bis auf bei ein paar Jugendlichen, in geregelten Bahnen.
Aber was man nicht darf, was man auf
keinem Fall darf, ist seiner Frau in volltrunkenem Zustand mitten auf der Tanzfläche
den Refrain eines Liedes in die Ohren zu grölen
QUE YO NO TENGO LA CULPA…
SI YO NO TENGO LA CULPA…
Selbst wenn dieses Lied, wie bei „Entre
dos tierras“ definitiv der Fall, durchaus eine persönliche Note für dich hatte.
Denn – wie gesagt – heißt Yo no tengo la
culpa auf Deutsch: Ich bin es nicht schuld. Ich hab keine Schuld. Und Si yo no tengo la culpa heißt soviel
wie: Wenn ich dir doch sage, dass ich nicht daran schuld bin. Dass mich keine
Schuld trifft.
Am Ende, selbst nachdem der Refrain schon
lange vorbei war, schrie ich nur noch das:
SI YO NO TENGO LA CULPA
So als wollte ich ihr etwas sagen damit.
So als hätte das eine tiefere Bedeutung. Hatte es ja auch. Denn ich fühlte mich
zutiefst schuldig. An den Streiten, dem ganzen Ärger, den wir hatten. Das
konnte Nadine schon immer gut: Mir Schuldgefühle einreden. Denn am Ende unserer
Beziehung war ich quasi alleine an allem schuld. Daran, dass ihre Schwester sie
nicht besuchte, dass keine ihrer Freunde bei uns vorbeikamen, dass ich immer
das Falsche sagte, immer zu ehrlich war und natürlich, dass ich nicht tanzen und
nur singen konnte (und selbst das nur im betrunkenen Zustand). Sie war
komplett, saß – wie du damals immer sagtest auf ihrem hohen Ross – verteilte
die Schuld, schleuderte die Schuld förmlich auf dich herab. So wie du ihr ins
Ohr schriest, als gäbe es kein Morgen.
Immer wieder. Bis ihr das Grapschen und
Geschreie schließlich zu viel wurde und sie sie die Tanzfläche verließ und
wieder an unseren Platz auf dem Sofa zurückging. Aber was solltest du auch
machen. Du hast es wenigstens versucht…
…du hast nicht die Schuld…
Zumindest nicht die alleinige Schuld.
Das ist wie in diesem Buch, das du gerade liest. Toxic Parents von Susan Forward. Wo die schreibt, dass du nicht
schuld bist, weil du noch ein Kind warst, dass du nichts für das Verhalten
deiner Eltern kannst. Dass das ihre Schuld war…
…und nicht deine…
Ok, du bist jetzt selber erwachsen, du
bist jetzt selber Vater. Du bist jetzt selber schuld. Aber trotzdem: Das, was
Susan Forward schreibt, hat dir irgendwie die Augen geöffnet.
Du bist nicht an allem schuld.
Du bist auch nicht an allem schuld!
Du bist auch nicht alleine an allem
schuld!
Die anderen haben auch eine
Verantwortung!
¡Tú no tienes la culpa!
¡No tienes la culpa de todo!
¡YO NO TENGO LA CULPA!
No de todo
No del todo
Jetzt, wo du so drüber nachdenkst: Vielleicht
wusste sie da sogar schon, dass es keine Zukunft gibt. Dass es aus ist.
Vielleicht ist es besser so…
…aber warum tut es dann so weh.