Du stehst an der Haltestelle und wartest
auf den Bus. Es ist ein kalter und regnerischer Oktobertag. Hundert Meter
weiter steht ein Krankenwagen. Die Lichter blinken. Mitten auf der Straße steht
der. Was für eine Frechheit! Eine Unverfrorenheit! Vor einem Haus. Vor einem
dieser kleinen Reihenhäuser an der Hauptstraße. Einfamilienhäuser aus einer
früheren Epoche. In zweiter Reihe. Und plötzlich machst du dir Sorgen. Deine
Tochter ist laufen gegangen…
Nicht, dass der was passiert ist…
Du guckst genauer hin, versuchst etwas
zu erkennen, aber es ist nichts zu sehen. Nur das Blinken der verschiedenen
Lampen auf der Rückseite des Krankenwagens. Die verschlossen ist.
Nicht, dass da jemand drinnen ist…
Wenn sie gestürzt ist oder wie an
Weihnachten einfach so umgekippt ist oder über die Straße wollte…
und sich nicht umgeguckt hat… Oder die sind in
dem Haus. Oder da ist jemand drinnen. Und die können nicht fahren, nicht
losfahren, bevor die ihn stabilisiert haben. Oder sie…
Du guckst dich um, denkst: Wenn sie
laufen ist, müsste sie eigentlich an dir vorbeikommen. Das ist nämlich ihre
Strecke, hier an der Hauptstraße entlang, in Richtung Stadt. Oder läuft sie
woanders lang? Sie hat nichts gesagt
Wenn ihr jetzt was passiert wäre, meinst
du, dass Nadine dann mit dir reden würde? Im Krankenhaus. Oder würde sie selbst
in dieser Situation nicht mit dir reden? Kein Wort sagen? Noch nicht mal im
gleichen Raum wie du sein wollen? Oder wäre das wie in diesen Filmen, diesen
Fernsehfilmen im Ersten oder Zweiten, wo die Eltern durch ein Unglück (immer
ein nicht-tödliches, denn dann ist es ja zu spät) wieder zueinander finden,
wieder aufeinander zugehen, sich wieder langsam aufeinander zu bewegen? Oder
würden wir sie beide abwechselnd besuchen, peinlich genau darauf achtend, dem
anderen tunlichst nicht über den Weg zu laufen,
auch nicht durch Zufall? Vielleicht wär das ja eine Chance. Eine Chance für die
Liebe.
du wärst eh 24 Stunden da, würdest die
Wände hochgehen, wenn deine Tochter im Krankenhaus wär. So wie du bist.
So
wie du bist…
Der Bus kommt und du setzt dich nicht
hin, sondern stellst dich stattdessen links in den Raum, der normalerweise für
Kinderwagen und Rollstuhlfahrer reserviert ist. So kannst du besser sehen, was
da passiert ist. Der Bus fährt los und genau in diesem Augenblick kommen die
Sanitäter (dein Vater nannte die damals immer „Sanitöter“) mit einer Trage aus
dem Hauseingang vor dem der Krankenwagen steht. Nachdem der Bus an dem Krankenwagen vorbeigefahren
ist, kannst du sehen, dass auf der Trage ein dick eingepackter Körper liegt.
Das wird wohl kaum deine Tochter sein, sonst hätte die ja jemand mit ins Haus
genommen. Aus irgendeinem Grund… Zum Beispiel, weil sie auf dem Bürgersteig ohnmächtig
geworden ist und es regnet… Du guckst noch mal hin. Es ist nicht zu sehen, ob
die Person auf der Trage (früher hab ich die Trage immer mit der Bahre
verwechselt) lebt oder nicht. Ob die eingewickelt ist, damit sie transportfähig
und - fertig ist oder weil sie gestorben ist. Die könnte genauso gut tot sein.
Scheiße