Es ist kurz vor neun. An einem Sonntag-Morgen.
Draußen scheint die immer noch erstaunlich starke September-Sonne, obwohl die Unberechenbarkeit
des Herbsts und die Kälte des Winters schon deutlich zu spüren sind. Besonders
nachts. Wenn es dunkel wird…
Im Radio reden sie über Syrien. Wieder
einmal. Die Medien sind förmlich besessen von Syrien und dem Nahen Osten (woran
das wohl liegt?).
Irgendeinen Scheiß reden die. Wie immer.
Ist ja auch egal, was die sagen, es ist ja eh immer das Gleiche. Und er denkt,
wie er so in seinem 8,50€-Job sitzt (der streng genommen noch nicht mal
begonnen hat – denn es ist ja noch nicht neun!); das heißt, er denkt es nicht
nur, er sagt es sogar zu sich selbst (nicht laut, das darf man ja nicht), aber
deutlich: Diese ganze Kacke von diesen Weltverbesserer-Arschfickern. Die
Gutmenschen. Diesen verfickten Gutmenschen. Immer die gleiche Scheiße. Diese
Wichser! Du kannst es nicht mehr hören. Das. Das kannst du nicht mehr hören,
echt nicht mehr. Wahrscheinlich glauben die echt noch daran, dass man die Welt
verbessern kann, während sie ihren Kaffee trinken, der von kolumbianischen
Drogen-Rebellen gefördert wird, ihre Autos fahren, deren Benzin den Krieg in
Syrien befeuert, ihren Fisch (wir essen fast nur noch Fisch, kein Fleisch!),
wegen dem die Weltmeere überfischt sind… Diese ganze Scheiße, die die labern. Diese
Leute. Die Gabriel García Marquez kurz vor dem Original lesen (100 Jahre
Einsamkeit natürlich nur bis zum Ende des ersten Kapitels), die im Che Guevara am
Samstagabend gepflegt ihren Mojito oder irgendeinen anderen viel zu teuren
Cocktail schlürfen, die in ihrem WG-Zimmer ein Poster mit einem fallenden
Soldaten und der ebenso simplen und effektiven wie naiven Aufschrift Why? hängen haben (Why? Because we fucking die, that’s why?) und in ihrer Freizeit Haschisch
rauchen, das natürlich ganz ohne Ausbeutung, Gewalt und Terror in Pakistan von Biobauern
nach europäischen Standards angebaut wurde. Wie dieser Tilo von damals, der bei
ihm in der WG in der Altstadt (dem SZENEviertel in Bonn, leckt mich am Arsch!) gewohnt
hat. Was für ein Arschloch! Der wollte auch die Welt verbessern, mit seinen
langen, filzigen Haaren und seinen Drogen und seinem Scheiß.
Obwohl, angesichts der Leute, die hier
rumlaufen, die man tagtäglich in Bus und Bahn sieht, muss man sich natürlich
fragen: Gibt es solche Leute überhaupt noch, in Deutschland, oder sind sie eine
Erfindung der Medien, der Lügenpresse und existieren gar nicht mehr??
Doch, es gibt sie noch! Spontan fällt
ihm Herr Baden ein, von damals. Der war auch einer von denen, obwohl er es noch
nicht wusste: „Dir geht es zu gut. Das ist das Problem.“ Sagt der Mann, der ein komplett
neues, riesiges Smartphone auf dem Tisch dieser langweiligen, schwulen Weinbar in
der teuren, noblen Bonner Südstadt liegen hat, in der er mit mir sitzt, um sich
meine Probleme anzuhören. Der finanziell abgesichert ist. Der ein Haus in
Oberdollendorf, einen Porsche, eine nette (treue) Ehefrau und nette Töchter
hat, die allesamt gute Jobs haben… Der das hier nur als Hobby macht – nicht
weil er muss.
Fangt doch erst mal an, die Probleme vor
eurer Haustür zu lösen, ihr Arschlöcher! Oder ist das zu nah an euch?! Too close to the bone?! Zu real?! Nicht
exotisch genug?!
Hier gibt es Leute, die nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen, jeden Monat wieder aufs Neue. Leute, die
sich nicht nur abgehängt fühlen, sondern es auch sind, die zu alt, zu
unqualifiziert, zu wenig verdienen, zu viele Abgaben zahlen müssen, zu arm
sind, die zu viele (arme) Kinder haben (obwohl eins ja manchmal schon reicht…),
zu alleinerziehend sind, die keine „bezahlbare“ Wohnung finden, obwohl sie doch
so viele verschiedene Jobs haben (also
quasi multi-employed sind),
die zu wenig Rente bekommen (obwohl sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet oder
Kinder erzogen haben), die kein Auto haben, kein Boot, kein Ferienhaus am Meer
(noch nicht mal am beschissenen See!), die jeden Cent dreimal umdrehen, wenn
mal wieder der Strom, die Heizkosten, die Krankenversicherung oder gleich alle drei
zusammen ansteigen, die sich überlegen müssen, ob sie heute nicht mal auf den Latte
verzichten sollten, weil ihr Konto schon wieder überzogen ist, weil sie Angst
vor der Zukunft haben, die Schulden haben, die depressiv sind, einsam,
verbittert, verknöchert, die keinen Spaß haben…und die vor allem keinen Bock
mehr haben, sonntags morgens im Radio zu hören wie schlecht es der Welt geht.
Und wie gut uns hier in Deutschland.
Und dann morgens unser Weltverbesserungs-Frühstücksfernsehen
gucken und denken: Leck mich am Arsch, die reden mal wieder nur über…
Und sprechen es noch nicht mal laut aus,
das was sie viel zu laut denken…obwohl sie alleine sind, ganz alleine, obwohl niemand
sie hört, ihnen zuhört an diesem Sonntagmorgen. Weil man so etwas ja nicht
sagen darf, in diesem Land. Nur hinter vorgehaltener Hand und in letzter Zeit gefühlt
noch nicht mal das mehr. Seit die Öffentlich-Rechtlichen uns täglich sagen, was
wir zu denken haben. Aber das russische Staatsfernsehen kritisieren... Donald
Trump kritisieren… Die Bedingungen der Wanderarbeiter in China oder
Minenarbeiter in Kolumbien kritisieren… Die bösen Ungarn kritisieren… Die
Rechtspopulisten kritisieren… Ungesunde, fettige und süße Lebensmittel kritisieren…
Dabei haben viele noch nicht mal eine Essstörung. Sie sind einfach nur arm und der
Scheiß ist billig und füllt zumindest vorübergehend die Löcher in ihrer Seele.
Wie lange noch?!
Die kriegen ja auch davon nichts mit,
die in Berlin, hat er letztens zu seinem Kollegen David aus dem Senegal gesagt.
Der Christ ist und sagt, dass Deutschland ein Problem mit den Moslems hat. Dass
Deutschland, ja sogar ganz Europa untergeht beziehungsweise sowieso schon so gut wie tot ist.
Weil er das darf. Er ist ja schwarz. Da darf man das. Als Deutscher nicht. Also
sind wir weiter arm. Weiter wütend. Und tun so als wären sie es nicht. Weil arm
darf man nicht sein in diesem Deutschland. Unglücklich auch nicht. Wütend sowieso
nicht. Rassistisch. Nein, denn…
Man darf noch nicht mal deutsch sein in
diesem Deutschland. Muss sich für seine Nationalität immer noch schämen. Mehr
als 70 Jahre nach dem Krieg. Man darf eigentlich gar nichts in Deutschland. Gar
nichts sein. Am besten gar nicht erst (da)sein. Sonst kommt einen die Schwesig
holen.
Armes Deutschland
Und wie auf Kommando läuft im Radio: Hör auf die Stimme! Hör, was sie sagt! Sie
war immer da!
Und wenn du dann auf die Stimme hörst…