„Boah, die Kabinen bei Mexx
zeigen echt die Wahrheit!“ sagt seine Tochter.
Wie recht sie doch hat.
Denn heute war er bei Mexx. Mit
seiner Tochter. Bei Mexx mit seiner Tochter. Geil, ne?! Musste ja mal wieder
sein. Wenn sich all seine Hosen auflösen, weil er sie zwischen den Beinen
durchscheuert. Nicht, nicht vorne zwischen den Beinen, sondern genau zwischen
den Beinen eben. So dass, wenn er die Hose vom Boden aufhebt, er manchmal sogar
durch die Löcher durchgucken kann, so groß sind die. Peinlich, peinlich! Aber
das hat er schon immer gehabt, das Problem. Manchmal mehr, manchmal weniger.
Manche Hosen sind resistenter, manche anfälliger für Löcher. Aber am Ende kriegt
er sie alle durch. Und wenn das Loch einmal da ist, dann dauert es nicht lange,
bis es so groß ist, dass er nur noch mit zusammengekniffenen Beinen eine
öffentliche Treppe hochgehen kann. Oder mit einer langen Unterhose drunter, die
aber mindestens genauso auffällig ist. Wenn nicht sogar mehr, mit ihren roten
Blumen.
Also ist er mit seiner Tochter
bei Mexx. Früher hat das ja seine Frau übernommen, aber die gibt es ja nicht
mehr. Die existiert ja nicht mehr. Oder wenn, dann nur in einer anderen
Galaxie. Seine Tochter setzte sich in eine Kabine gegenüber und harrte dem, was
da auf sie zukam. Ich kann Ihnen sagen… Bei Mexx sind die Kabinen besonders
wahrheitsliebend. Besonders wahrhaftig, um Freud zu bemühen. Was die immer zu
Tage fördern…
…das geht auf keine Kuhhaut.
Es mag ja Kabinen geben, die
dem Körper schmeicheln, die nicht jede Unzulänglichkeit, jeden Haarwuchs an den
unmöglichsten Stellen, jedes auch noch so kleine oder große Speckröllchen
aufdecken, die nur das zeigen, was der Anprobierende auch sehen will…
…aber die bei Mexx gehören
garantiert nicht dazu! Das muss er leidvoll feststellen, als er sich das
Deutschland-Trikot über den Kopf streift. Ist er wirklich so dick oder stimmt
was mit dem Spiegel nicht? Ist er wirklich immer noch so dick? Leck mich am
Arsch! Diese Massen von Fett. Unglaublich! Boah, wie ich Umkleidekabinen hasse!
Reicht es nicht, dass mir heute die Scheidung zugestellt wurde? Will Gott mich
etwa komplett demoralisieren? Die Massen an straff gespanntem Fleisch, das
schon fast aus seinem Körper rauszuplatzen droht. Ist das noch normal? Er
trainiert doch fast jeden Tag. Scheiße, Mann! Schnell das Hemd anziehen. Zuerst
das Schwarze. Dieses edle, schwarze. Das könnte er auch…ja, zur
Gerichtsverhandlung anziehen. Damit sieht er aus wie ein Gangster. Außerdem
passt schwarz zu seinem momentanen innerlichen Zustand, zu seiner Trauer. Aber
am Ende überzeugt es ihn doch nicht, da es keine Knopfleiste hat. Oder nur eine
verdeckte. Außerdem hat er eh kein Geld für ein Hemd. Nur für eine Hose. Also
probiert er die Hose an. Schwitzt wie ein Tier dabei. Aber hey, seine Beine
sehen sogar halbwegs gut aus in diesem Spiegel, der ein direktes Tor zur Hölle
zu sein scheint. Er wischt sich die fetten Scheißperlen von der Stirn,
wohlwissend, dass sie keine Sekunde später wieder da sein werden. Da muss er
jetzt durch. Jede Bewegung erzeugt neue Hitzewallungen, die neuen Schweiß
produziert. Seine Haare sehen schonfast aus, als hätte er gerade geduscht. Das
ist unglaublich und hat natürlich nichts mit seinem Übergewicht, das ihm der Spiegel
nur allzu klar vor Augen geführt hat, zu tun. Wie sollte es auch?! Vielleicht
hat er ja eine Krankheit und schwitzt deswegen so stark. Was hat er heute
gelesen? Wie hieß dieser Satz noch mal. Nach dem Tod des Partners erlischt der
Anspruch auf…: Ein Satz, den er sich jedes Mal, wenn er in seinem
Scheidungsratgeber über ihn stolperte, förmlich auf der Zunge zergehen ließ.
(Man wird doch noch mal träumen dürfen…!) Aber vielleicht ist ja er derjenige,
nach dessen Tod so einige Ansprüche seiner überhaupt nicht gierigen Echse erlöschen.
Wieder wischt er den Scheiß weg, obwohl er weiß, dass das nichts bringt. Mit
dem Hemd, das er gerade anprobiert. Das will er eh nicht nehmen. Ihm doch egal,
ob das der Nächste, der das anprobiert, merkt. Nicht mein Problem! Obwohl: So
heiß ist es ja eigentlich gar nicht. Aber schwül. Dieses scheiß-schwule Wetter
in Bonn. Wie im Dschungel. Außerdem würde er glaub ich sogar im arktischen
Winter schwitzen. Selbst wenn er sich im arktischen Winter bis auf die Haut
ausziehen würde und – wobei hoffentlich kein Mexx Spiegel zugegen ist – würde
er schwitzen. Das Wetter ist aber auch sowas von schwul.
Aber die Hose sitzt. Auf
Anhieb. Die hat ja auch Stretch-Anteile.
Eng, aber passgenau. Nicht Atemnot hervorrufend, sondern genau richtig. Das
bestätigt auch María, die sich die Zeit mit Voice-Messages vertreibt. „Merve,
du geile Sau!“ „María, du Schlampe!“ „Merve, du puta!“
Wenn’s Spaß macht…
Also nimmt er die Hose, die
am Ende nur 39,90 statt der veranschlagten 44,95 kostet. Auf eins kann man sich
bei Mexx verlassen, wenn schon die Klimaanlage nicht funktioniert und die
Spiegel die Kunden demoralisieren und ihre Körper böse verzerren: Bei Mexx wird
alles an der Kasse noch mal runtergesetzt. Und die Kassiererin sieht auch tipptopp
aus, obwohl die ihn mit dem Arsch nicht anguckt. Aber wie sieht er auch aus,
mit seinem teuren, aber schon leicht angedreckten Deutschland-Trikot, seinen
spanischen Geschirrhandtuch-Shorts für 9,99 im andalusischen Sportfachhandel und seinen ebenfalls in
Spanien (diesmal in Pamplona, in einem Corte
Inglés für unschlagbare 25 Euro!) erworbenen Basketballschuhe von Nike. Nur
Tennissocken trägt er nicht.
Boah, der ihre Titten…
Er ist sozusagen
modetechnisch diametral entgegengesetzt zu seiner Tochter, die wie immer wie
aus dem Ei gepellt aussieht, mit ihrem luftigen Oberteil. Und ihrer eleganten
schwarzen Hose.
Vielleicht wirkt sie ja
deswegen so angespannt, weil sie mit so einem übergewichtigen, schwitzenden
Langhaarbären durch die Stadt streifen muss, immer auf der Suche nach Beute,
die sich der Bär sowieso am Ende nicht leisten kann, weil er bald von seinem
kleinen, südamerikanischen Meerschweinchen geschieden wird (der Scheiß-Antrag liegt
wie gesagt schon vor, er wartet nur noch auf das Erlischen aller Forderungen).
Vielleicht fehlt ihr aber
auch nur was. Wer. Wo sie sich früher bestimmt oft vernachlässigt gefühlt haben
muss, wenn er stundenlang mit seiner Frau über Belanglosigkeiten redete und
redete und redete…fehlt ihr wahrscheinlich heute ihre Mutter beim Stadtbummel.
Mach dir nichts draus, mir fehlt sie auch, möchte er ihr sagen, tut es aber
nicht (das bringt ja auch nichts). Wenigstens siehst du sie ja Morgen wieder.
Ich nie wieder. Oder erst beim Prozess und das ist nicht gerade eine
entspannte, das Wiederaufflammen der Liebe fördernde Umgebung. Wie stand das im
Scheidungsantrag? Sie hat nicht die Absicht, die Ehe wieder
aufzunehmen… So kann man das auch formulieren. Können Familienrechtler eigentlich
nachts noch gut schlafen? Auf dem Rückweg schweigt er weiter beharrlich – was
soll er auch sagen: Etwa die Wahrheit?! – und sie tut es ihm gleich. Er aus
Ratlosigkeit, sie, weil sie sich seiner schämt oder einfach müde ist oder
einfach nichts (mehr) zu sagen hat oder warum auch immer. Passiv-aggressiv ist
das heute glaub ich zumindest nicht, obwohl man die Spannung zwischen Vater und
Tochter förmlich mit dem Messer schneiden kann. Vielleicht vermisst sie ja auch
ihre Mutter oder spürt wie sehr er ihre Mutter vermisst oder ist angesichts all
diesem Scheiß genauso ratlos wie er oder spürt wie ratlos er ist und weiß auch
nicht, was sie sagen oder machen soll.
„Was soll ich denn jetzt
machen?!“
„Ja, nichts, das ist ja auch
nicht dein Problem.“ Das heißt, das ist schon irgendwie dein Problem, aber du
bist nicht schuld daran, das ist allein auf dem Mist deiner Eltern gewachsen. Auf
dem Misthaufen, der in den 19 Jahren Beziehung immer größer wurde, bis er alles
unter sich zu begraben drohte und Nadine die Reißleine zog.
Im Bus stehen sie sich
gegenüber, ohne sich anzugucken, ohne zu sprechen. Ich weiß doch auch nicht,
was ich sagen soll, María. Ich weiß doch auch nicht, was ich sagen soll, Papa. Sie
ist schon so groß und so schön und irgendwie hat sie all diese Scheiße nicht
verdient. Sie ist so eine gute Tochter. Aber was soll ich denn machen, María?!
Nichts
Deine Mutter will mich nicht
mehr. Hat schon einen Neuen. Oder hat zumindest ihre Familie. Wurde wieder mit
ihrer wahren Familie zusammengeführt. Wozu brauch sie mich da noch?! Ich gucke
sie an, aber sie guckt mich nicht an. Sie sieht müde aus und ich bin müde. Bin
immer noch am Schwitzen wie ein Tier. Wie ein Tier, gefangen im Käfig meiner
Trauer um das, was fehlt. Wie ein Tier, im Käfig des Lebens gefangen, ohne hinaus
zu können. Und was sollte mich auch draußen erwarten?! Außerhalb der offenen
Käfige in Francis Bacons düsteren Gemälden.