Er geht mit seiner Tochter
laufen. Im Wald. Es gab mal eine Zeit, wo sie was gegen den Wald hatte. Keine
Ahnung, warum. Da wollte sie immer woanders hin, aber heute ist der Wald okay. Jetzt
Ende Mai ist er ja auch anders als im Winter. War er im Winter noch grau, kalt
und nass ist er jetzt ganz grün, erinnert fast an einen Dschungel. Überall
sprießt und blüht es und wir laufen fast durch eine Art hellgrünen Tunnel. Ist
schön so, der Wald.
Beim Laufen ist María auch
immer entspannt, redet viel und ist nicht ganz so wortkarg wie sonst. Sie
scheint richtig aufzublühen. Kein Wunder, sie läuft ja auch gute 100 Meter vor
ihm, denn heute hat er keinen Bock. Es war ein langer Tag und er will einfach
nur entspannen. Sie läuft sogar so weit vor, dass er sie zeitweise gar nicht
mehr sehen kann (und mit seinen Augen sowieso nicht mehr). Das macht ihm ein
bisschen Sorgen, da kommt der Beschützerinstinkt eines fürsorglichen Vaters
wieder durch, der durch die Trennung ein bisschen in Mitleidenschaft gezogen worden
war. Wer weiß, wer hier sonst noch durch den Wald läuft, was für Typen das
sonst, was für schräge und komische Vögel.
Aber dann sieht er sie wieder,
inmitten all dieses Grüns, das fast schon den Blick zum Himmel verdeckt. Der
Himmel, der heute ausnahmsweise mal blau ist.
Er genießt das richtig, mit
ihr durch den Wald zu laufen beziehungsweise zu gehen, jetzt wo er sie nur noch
vier Tage die Woche sieht. Offiziell 3 1/2! Und trotz Kommunikationsstopp haben
er und seine Frau es geschafft, Marías Anwesenheit fast genau pari-pari auf die
Woche zu verteilen. Eigentlich kann sich keiner der beiden darüber beschweren,
dass er bei dieser Regelung benachteiligt wird. Das ist wie er gelesen hat.
Manchmal ist das Wechselmodell sogar bei Paaren mit hohem Konfliktpotenzial das
Beste.
Natürlich ist das Modell
immer noch Scheiße, wenn man das mit vorher vergleicht und wenn man darüber
nachdenkt, dass María eh bald aus dem Haus geht und das jeder Moment mit ihr
wertvoll ist. Aber das liegt nicht in seiner Hand. Er kann seine Frau nicht
zwingen, ihn genauso zu lieben wie ihre Familie. Damals hatte er sie doch
tatsächlich vor die Wahl gestellt: „Ich und der Rafael in einer Stadt, das geht
nicht. Da musst du dich entscheiden. Das mache ich nicht mit.“ Heute ist das
der Satz, den er am meisten bereut. Aber er kann die Uhr nicht zurückdrehen und
jetzt wäre die Atmosphäre zwischen den beiden sowieso vergiftet. Selbst wenn
sie wieder zusammenkommen würden, würde das nicht mehr funktionieren, würde
nicht mehr dasselbe sein. Sie hat ihm seine Unschuld geraubt, damals als sie
ihn mit 19 Jahren entjungfert hat und letztes Jahr als sie ihn verlassen hat. As
würde niemals funktionieren. Instinktiv weiß er das. Was er auch instinktiv
weiß ist, dass er sie immer lieben wird, egal wie lange er von ihr getrennt
ist. Trotz allem, was sie ihm angetan hat, was er ihr angetan (denn da gibt es
auch so einiges), trotz allem wird sie immer einen Platz in seinem Herzen
haben, solange er lebt. Solange er lebt, wird immer ein Platz in seinem Herzen
leer bleiben.
Aber wenigstens ist seine
Tochter noch bei ihm. Ohne sie wär er schon lange weg. Dann hätte er schon
lange gesagt: Ach, leckt mich doch, ihr Arschlöcher! Wenn du den Rafael und
deine Schwestern mehr liebst als mich, dann leck mich doch! Dann bleib doch, wo
der Pfeffer wächst!
Aber er kann seine Tochter
nicht verlassen. Das hat sie nicht verdient. Und außerdem hegt er immer noch
eine verschwindend geringe Hoffnung, dass…
…ja, was eigentlich?
Sie wissen schon was.
Solange der Patient noch
eine Überlebenschance von 5% hat, gibt auch kein Arzt auf. Auch wenn die Chance
verschwindend gering ist, werden Sie keinen Arzt finden, der sagt: Dann lassen
wir den eben sterben. So verhält es sich auch mit ihm. Obwohl er instinktiv
natürlich ganz genau weiß, dass das Pferd tot ist, das Der Drops gelutscht ist,
dass es keine Hoffnung mehr gibt. Aber trotzdem spürt er in seinem Herzen noch
etwas anderes. Etwas Undefinierbares. Einen Funken. Einen Funken Hoffnung?
Liebe?
Wenn er seinem Gefühl
vertrauen würde, müsste er glauben, dass er noch eine Chance hat. Aber wie sagt
dieser Typ aus High Fidelity, Nick
Hornbys Liebsummer-Roman das: My stomach
has got shit for brains. Ein Bauch hat überhaupt keine Ahnung.
Plötzlich schließt seine
Tochter, die sich anders als er schon auf dem Rückweg befindet, wieder zu ihm
auf, lacht. Es tut gut sie so fröhlich zu sehen. Und dann irgendwann auf dem
Rückweg, auf dem Rückweg nach Hause, sagt sie diesen Satz, der ihn aufhorchen
lässt. Und zwar richtig. Der ihn fast schon zusammenzucken lässt.
„Letztes Jahr war ich so
richtig dünn, hab so richtig abgenommen, dass war schon fast Magersucht…, da
war ich viel zu dünn…“
Und er antwortet: „So einen
Satz darfst du deinem Vater doch nicht sagen.“
Vor allen Dingen darfst du
das Wort „magersüchtig“ nicht in einem Gespräch mit deinem Vater verwenden.
Besonders nicht, wenn du diese Woche gesagt hast, dass du keinen Bock auf
Fleisch hast. Und sogar Eis und Würstchen ablehnst.
„Die kleine María, der hätte
ich das mit den Würstchen nicht zweimal sagen müssen. Die wär direkt gekommen…“
„Damals war ich ja auch
fett.“
„Fett warst du nie.“
„Doch, pummelig.“
„Quatsch! Du hattest immer
ein rundes Gesicht, weil deine Mutter aus Lateinamerika ist. Aber dick warst du
noch nie. Okay, vielleicht als Baby. Aber alle Babys sind dick. Wer will schon
ein dünnes Baby?! Das war nur Babyspeck bei dir. Das ist normal. Am Bauch ein
bisschen. Aber vielmehr war das nicht.“
„Doch, mit zehn war ich
dick, das weiß ich noch. Wie ich auf der Grundschule war.“
„Das hab ich aber ganz
anders in Erinnerung.“
all diese Zeit ist weg,
vorbei. Für immer vorbei, kommt nie wieder
„Du warst auch mit zehn
nicht dick. Du denkst daran, wie sie damals im Badeanzug aussah. Ne, das kann
nicht sein. Die war nicht dick. „Du warst immer klein und kompakt, aber nicht
dick…“
„Doch.“
Noch Tage später mit ihr
machst du dir Sorgen, denkst über das Gespräch nach. Darüber, dass sie
tatsächlich das Wort „Magersucht“ gebraucht hat. Tut das ein Magersüchtiger? Du
weißt es nicht. Du selbst hast ja auch im gewissen Maße eine Essstörung. Denn
du isst zu viel. Du isst um die Leere in deinem Inneren zu füllen. Die so groß
ist, dass du locker 10-15 Kilo zu viel auf den Rippen hast. Das ist auch in
einem gewissen Sinne eine Essstörung. Du denkst daran, dass sie in letzter Zeit
kein Eis mehr essen wollte, keine Würstchen mehr. Kein Fleisch. Und machst dir
noch mehr Sorgen. Und plötzlich bekommst du ein schlechtes Gewissen: Bei all
deinen eigenen finanziellen, psychischen, sozialen Problemen hast du sie und
ihr Wohlbefinden ein bisschen aus dem Augen verloren. Plötzlich fragst du dich,
wie sie eigentlich mit der Trennung umgegangen ist. Wie sie das „verdaut“ hat. Dass
sie dir damals sagen musste: „Die Mama kommt nicht mehr wieder.“ Dass sie somit
praktisch der Messenger ihrer Mutter war. Wurden die nicht im Mittelalter
manchmal sogar ermordet, die Messenger. Die Überbringer schlechter Nachrichten.
Für die sie selbst wahrlich nichts konnten. Das gibt es heute immer noch, im
Englischen. Den Spruch Don’t shoot the
messenger! Das kommt glaub ich in irgendeinem Eminem-Lied vor. Eminem, der
auch jahrelang um seine Tochter gekämpft hat, versucht hat trotz Trennung und
On-Off-Beziehung ein guter Vater zu sein. Das ist schon ungerecht, für die
Kinder. Die stehen quasi permanent zwischen den Stühlen. Das ist bestimmt nicht
leicht. Bei Eltern wie mir und meiner Frau. Wie mir besonders. Und trotzdem hat
sie zu mir gehalten. Und zu ihrer Mutter.
„Bei uns sind die Eltern
die, die Probleme machen“, hast du letztens zu deinem Kollegen gesagt, als er
dich nachts nach Hause gefahren hat. Recht hattest du. Aber hast du dich auch
nur einen Moment mal gefragt, wie schwer diese Scheiße für María ist. Die nicht
über das psychische Gerüst verfügt wie du oder Nadine. Die ihr beide schon so
viel erlebt hat, so viel Scheiße gesehen habt. Wie schwer das für sie sein
muss. Mit was für Belastungen das für ihre junge Seele einhergehen muss.
Aber ich wollte die Trennung
ja gar nicht.
Aber das ist doch keine
Entschuldigung!
Wir machen alle Fehler.
Das ist auch keine
Entschuldigung.
„Wenn du mal Kinder hast…“,
hat deine Mutter immer drohend zu dir gesagt, wenn du mal wieder dein „Theater“
abgezogen hast als Jugendlicher. Geschrien hast wie am Spieß. So dass die
ganzen Nachbarn dich gehört haben.
Es ist nicht leicht Vater zu
sein.
Mutter bestimmt auch nicht.
Aber wäre es denn ohne
Trennung besser gewesen?
Für María bestimmt.
Aber „wenn es nicht mehr geht,
dann geht es nicht mehr“, wie das deine Chefin so treffend und so verstörend
für dich ausgedrückt hat.
„Wenn es nicht mehr geht,
dann geht es nicht mehr.“
Ging es wirklich nicht mehr
für Nadine?
Bestimmt, sonst wär sie ja
geblieben. Oder zurückgekommen. Oder was weiß ich was
Wie mag die Trennung auf
ihre kleine Kinderseele gewirkt haben. Und genau dann sind ihre Eltern so mit
sich selbst beschäftigt, dass sie sich nicht auch noch mit ihren Problemen
auseinandersetzen können. Das ist das perfide.
Wäre es wirklich nicht mehr
gegangen. Er liebt sie doch immer noch
Sie war zwar kein Kind mehr,
aber mit 16 ist man noch lange nicht erwachsen, hat man noch lange nicht die
Erfahrung oder den Rückhalt eines Mittdreißigers. Da musst du nur an dich
denken, wie du mit 16 gedacht hast. Nicht weit über das nächste Rap-Video, die
nächste CD, das nächste Onanieren, die nächsten fruchtlosen „Augenblicke“ mit
Klassenkameradinnen hinaus. Du warst so unschuldig, so unwissend. Dann stell
dir mal vor, wie das für sie war, die genauso behütet – trotz fehlendem
Reichtums – wie du aufgewachsen ist. Das muss so unendlich schwer für sie
gewesen sein. Besonders bei deinem Verhalten am Anfang
auch dich hat die Scheiße
kalt erwischt aber
wie
ich weiß, aber trotzdem
Das ist bestimmt nicht
ideal. Ich hoffe, Nadine findet, was sie bei mir vermisst hat. Findet einen
neuen Partner, der sie mehr liebt oder ihr das anders zeigt als ich das konnte.
Wenn das nämlich nur ein Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel war, dann
Das ist so in unserer
Gesellschaft von heute. Man ist nicht mehr zufrieden mit etwas, dann nimmt man
sich etwas Neues. Alles geht immer schneller, da ist das Partnerkarussell keine
Ausnahme. Speed-Dating, Datingportale, Ehen, die von vornherein ein immer
kürzeres Verfallsdatum aufweisen, all das ist heute die Regel und nicht mehr
die Ausnahme. Bei all diesem Speed muss natürlich auch etwas auf der Strecke
bleiben. Ich glaube wirklich das uns das die viel gescholtenen Araber und
Muslime voraus haben und dass es genau das ist, was Europa an den Rand des
Abgrundes bringen wird beziehungsweise schon gebracht hat. Man denkt, dass man
so „frei“ ist, dass man sich nicht mehr seinen Problemen stellen muss. Man kann
sich ja was Besseres suchen. Man muss ja nicht mehr wie früher ewig an eine
Person gebunden sein. so beschleunigt sich auch der Auflösungsprozess der
Gesellschaft an sich. Wenn nichts mehr Bestand hat, dann hat am Ende auch die
Gesellschaft keinen Bestand mehr. Eltern, die mit Kindern streiten. Kinder, die
mit Eltern streiten. Kinder, die ihre Eltern immer schneller abschieben, nur um
nicht an ihre eigene Endlichkeit erinnert zu werden. Väter – und es sind immer
noch besonders die Väter, die mir nichts dir nichts aufs Abstellgleis geschoben
werden, als ob kleine Kinder schon entscheiden könnten, das Papa nicht gut ist,
es nicht wert ist, sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Kann man ja
später noch, wenn Papa erstmal zehn Jahre entfremdet ist und wieder neue
Kinder, neue Bindungen eingegangen ist. Man will ja Spaß, Hauptsache Spaß. Man
will ja Glück, Hauptsache glücklich.
Aber die Frage bleibt
natürlich: Macht uns das wirklich Spaß, macht uns das wirklich glücklicher. Auf
das Karussell aufzuspringen und wieder runterzuspringen, wenn man keinen Bock
mehr hat. Wenn es keinen Spaß mehr macht. Sich einen Neuen zu suchen, der
bestimmt besser ist als der Alte. Bestimmt. Natürlich. Nicht zurückzublicken.
Nie zurückzublicken. Damit haben die Deutschen eh Probleme, mit dem Blick
zurück. Aber auch die Ecuadorianer.
Am Ende wird abgerechnet.
Aber: Sehen Sie – trotz
freier Partnerwahl, freiem Partnertausch, trotz freier Liebe (haha) – wirklich
hier Leute, die glücklicher sind, als, sagen wir mal, in anderen Ländern? Sind
die ach so wunderbar freien und liberalen Deutschen wirklich glücklicher oder
bleibt in unserer ach so freien Spaßgesellschaft, in der wir doch alle so viel
Spaß haben nicht auch etwas auf der Strecke. Etwas, das es früher noch gab.
Ein bisschen Schwund ist
immer dabei. Aber schwindet hier nicht gerade das Wichtigste? Das, was eine
Gesellschaft zusammenhält? Der Kitt einer Gesellschaft? Nämlich der
Zusammenhalt selbst. Die Werte der Loyalität zu Partnern, zu Kindern. Zu
Eltern. Die ich auch nicht habe, ich weiß, aber ich bin ja auch ein Kind dieser
Gesellschaft.
Und ich sehe Deutschland
nicht kämpfen. Aber auch Frankreich nicht, wie Houellebecq behauptet. Dass
„Europa untergeht und nur Frankreich dagegen ankämpft“. Tut mir leid, ich sehe
das leider nicht. Auch in Deutschland nicht. Dass wir kämpfen. Für neue Werte.
Für neue, alte Werte.
Wir sind viel zu sehr damit
beschäftigt noch ein bisschen Spaß zu haben, einen letzten Rest Spaß aus einem
bereits toten Tier herauszuquetschen. Auf der untergehenden Titanic noch Musik
zu spielen, zu tanzen.
Aber ich kann mich natürlich
auch täuschen und diese Gesellschaft ist die beste, die glücklichste, die
spaßigste aller Gesellschaften. Dann hab ich mich eben getäuscht.
Aber das ist nicht das, was
ich sehe, wenn ich täglich Bus fahre. Aber vielleicht sitzen die wirklich
spaßigen, glücklichen Menschen ja auch nicht im Bus. Fahren gar keinen Bus.
Sollten Sie mal, es würde ihre Perspektive erweitern.
Und währenddessen muss ich
mir Sorgen über meine Tochter machen, natürlich ohne mit der einzigen Person
reden zu können, die diese Sorgen ehrlich mit mir teilen könnte: ihre Mutter.
Ob ihrer Mutter das Spaß
macht, zu schweigen. Einfach zu sagen: Der Austausch über die Belange unserer
Tochter ist jetzt jedem von uns selbst überlassen. Einen gemeinsamen Austausch
gibt es nicht mehr. Zu allem zu schweigen.
Aber das ist nicht egal. Das
ist die Zukunft. Nicht nur die unserer Tochter. Die uns irgendwann um die Ohren
fliegen wird, wenn wir so weitermachen.
Denn wie sagt meine Chefin:
„Die hat die Trennung ihrer Eltern so mitgenommen, dass sie jetzt, mit 25 (!)
in psychische Behandlung muss. Dass sie kaputt ist
Muss das sein
Aber meine SMS werden ja
sowieso nicht beantwortet. Das wär ja noch schöner…
Mir macht das ja wahrhaft
keinen Spaß mehr
Das muss ich mir nicht antun
Aber vielleicht hat er heute
auch nur seine „fünf Minuten“. Das geht auch wieder vorbei. Und morgen denkt er
dann wieder ganz anders. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das sogar…