Er
steht in der Bahn und wartet darauf, dass die Türen sich endlich öffnen und er
aussteigen kann. Er blickt in die nach oben, nach vorne gereckten Gesichter der
Leute, die an der Tür stehen und wissen wollen, warum der Fahrer die Tür noch
nicht freigegeben hat. Unfreiwillig erinnert ihn die Szene an Goya.
Keine
Ahnung warum.
Oder
doch, vielleicht: Es sind die Gesichter. Die kleinen, zusammengekniffenen
Augen, die Knollennasen, die gelblich-graue Haut, die die Leute fast schon
verzerrt wirken lassen. Braune Gesichter, die schon fast wie gegerbt aussehen.
Wie altes Leder.
Wie
die Gesichter bei Goya. Auf den Bildern seiner „schwarzen Periode“. Die er gegen
Ende seines Lebens gemalt hat. Als er fast schon taub war. Oder blind. Oder was
auch immer. Die er für niemanden außer sich selbst an die Wände seines Hauses gemalt
hat. An die Wände der „Quinta del sordo“, des „Landhauses des Tauben“, mit dem
– was für eine Ironie des Schicksals – noch nicht mal er selbst gemeint war, sondern
der vorherige Besitzer. Die letzten Bilder, die für kein Publikum bestimmt
waren, die keiner sehen sollte, keiner sehen durfte, außer er selbst, in den
dunklen Nächten seiner letzten Jahre. Die erst lange nach seinem Tod in
mühevoller Kleinstarbeit von den Wänden des Hauses abgetragen und auf Leinwand
übertragen worden. Auch die Quinta del
sordo selbst gibt es schon lange nicht mehr. Wollte er nicht, dass irgendjemand
sie sieht, weil sie zu ehrlich waren? Nicht nur für seine Zeit, sondern für
alle Zeiten? Weil sie das Leben so darstellten wie es ist, wenn man es all
seiner Illusionen beraubt?
Einmal
hat er sie sogar schon selbst gesehen, in echt, diese düsteren, monumentalen
und eigentümlich kraftvollen Bilder. In Madrid, im Prado. Wo er mit seiner Frau
und seiner Tochter Urlaub machte. In besseren Zeiten, in denen ihn die Leute, die
er in der Bahn, an der Haltestelle, im Supermarkt traf, noch nicht an so Goya
erinnerten. Oder zumindest noch nicht so stark wie heute, in diesen dunklen
Zeiten. Die hatten sogar das Licht leicht abgedunkelt, in dem Raum, in dem
Goyas „schwarze“ Gemälde ausgestellt waren. Damit sie besser zur Geltung kamen,
damit sie authentischer wirkten, neben all diesen halbnackten Darstellungen Christus-Figuren
und Engeln, die sonst so den Prado bevölkern. Kennt man eine, kennt man sie
alle. Aber all diese dunklen Goyas, die dem sonst so sonnigen, so
lebenslustigen Spanien diametral zu widersprechen schienen, die waren schon
beeindruckend. All diese verzerrten Gesichter, diese offene oder nur
oberflächliche verhohlene Grausamkeit, Gehässigkeit, Angst, diese Verzweiflung,
diese tiefen, dunklen Gefühle.
Aber
irgendwie war er gleichzeitig auch ein bisschen enttäuscht – er hatte sich so
lang schon darauf gefreut, Goya endlich einmal in natura zu sehen. Irgendwie
gaben die Bilder ihm „in echt“ nicht so viel. Das lag bestimmt nicht an Goya
und seinen Gemälden selbst – obwohl er die Hexe, die einen angeblich direkt
anstarrt, einem angeblich direkt in die Augen, in die Seele guckt, nicht
gefunden hat, auf dem Gemälde mit dem schaurig-schönen Titel „Hexensabbat“.
Nein, deswegen war er nicht enttäuscht, sondern vielleicht war er einfach nicht
in der Stimmung für Goya, in seinem hart erarbeiteten und wohl verdienten
Urlaub, bei 35-40 Grad im sommerlichen Madrid.
In
Deutschland, im Alltag seines kleinen, grauen Lebens, wäre das sicherlich etwas
ganz anderes gewesen; Goya zu sehen. Der Hexe direkt in die Augen zu gucken…
Was, wie gesagt, in echt gar nicht so toll ist.
Die
hatten sogar das Lieblingsbild seiner Frau, der er noch immer hinterhertrauert,
obwohl er sich das natürlich nicht eingestehen will. Das – passend zum Naturell
seiner Frau – nicht ganz so dunkel, nicht ganz so düster ist wie die Bilder, die
er immer so anziehend fand. Das Lieblingsbild seiner Frau ist…war…das, wo
dieser kleine Hund im Treibsand versinkt. Unter einem Himmel, der auch
eher an einen grau-braunen Sandsturm erinnert als an einen typisch spanischen
Himmel. Der kleine, quirlige Hund, der nichtsahnend in den Treibsand gekommen
ist und jetzt ums Überleben kämpft, obwohl er weiß, dass der Kampf aussichtslos
ist.
Obwohl:
Weiß der Hund das überhaupt?! Spürt er das? Oder denkt er gar rational darüber
nach?
Man
weiß es nicht, würde Alexander jetzt mit diesem ihm eigenen, geheimnisvollen
Gesichtsausdruck sagen. Alexander, sein ehemals bester Freund.
Du
selbst hast dich immer mehr mit dem Hexensabbat identifiziert. Wo der Teufel in
Pferdegestalt inmitten all dieser sich um ihn herum kauernden, von Dunkelheit
und Leben verzerrten Gestalten sitzt, die sich ängstlich nach allen Seiten
umschauen; so als erwarteten sie das Jüngste Gericht. Oder nichts mehr vom
Leben.
Oder
nichts mehr vom Leben?
Oder
mit dem Gemälde, auf dem dieser Vater seinem Sohn voller Verzweiflung den Kopf
abbeißt. Oder abreißt? Das mochtest du insgeheim immer, obwohl man es kaum angucken
kann, ohne nicht irgendeine Art des Ekels, des Horrors, des Horrors, des Grauens,
des Grauens zu empfinden. Du mochtest sie schon immer, diese schwarzen Bilder.
Aber
im Endeffekt kann man sich natürlich auch fragen, was düsterer ist? Zu wissen,
dass man aus dem Treibsand nicht mehr rauskommt oder das Wissen um die dunklen,
unbewussten Seiten des Lebens.
„Was
hätte Goya wohl in Deutschland gemalt?“ hat er Nadine damals gefragt. Immer
wieder. Fast schon penetrant.
„…wenn
er in Deutschland gelebt hätte…? Hätte er da auch diese Bilder gemalt? Hätte er
da auch gemalt?“ fragte er sie direkt nach der Ausstellung, im Freien, in der
Sonne Madrids, während sie langsam über diesen kleinen Touristenmarkt im Park
vor dem Museum schlenderten, sich T-Shirts anguckten. Damals hat er das noch im
Spaß gefragt. Aber heute hat die Frage schon einen ernsteren Hintergrund, wenn
er so darüber nachdenkt.
Selbst
nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat er das manchmal noch gefragt: „Was
hätte Goya wohl gemalt, wenn er in Deutschland gelebt hätte? Das Gleiche? Oder
wär er hier gar nicht zum Malen gekommen? Hätte direkt aufgegeben. Seine
brotlose Kunst.“
(Schwarze
Perioden will doch eh keiner sehen, mein Sohn. Die Leute wollen fröhliche
Geschichten, die gut ausgehen…)
Er
hat nie eine Antwort bekommen. Eine nur halbwegs zufriedenstellende Antwort.
Nur Schweigen; und später vielleicht sogar verdrehte Augen
Aber
das hat in nicht gestört. Er hat einfach weitergeredet: „In Deutschland wäre
Goya wahrscheinlich schon vor dem ersten Pinselstrich verzweifelt. Oder
verrückt geworden. Oder er hätte die Leinwand komplett schwarz bemalt, komplett
in schwarze Farbe getaucht und das war’s dann. Danach wäre er in seinen Bürojob
zurückgekehrt und wäre immer frustriert immer älter geworden…“ (und
wahrscheinlich hätte sich seine Frau auch noch irgendwann von ihm getrennt…und
einen Neuen, nicht ganz so philosophischen, nicht ganz so künstlerischen
Sachbearbeiter oder Kaufmann geheiratet)
Aber
vielleicht kann man das ja auch gar nicht miteinander vergleichen. Vielleicht ist
das ja wie mit den Äpfeln und den Birnen. Vielleicht kann man ja Spanien im
angehenden 19 Jahrhundert und Deutschland im schon angebrochenen 21.
Jahrhundert gar nicht miteinander vergleichen.
Oder
vielleicht doch?
Vielleicht
hätte er seine Bilder ja auch haargenau so gemalt wie in Spanien, wäre genauso taub
geworden und fast sogar blind (die Höchststrafe für einen Maler – oder ein
Segen?), wäre am Ende genauso gestorben, in die Dunkelheit gegangen, die ihn
schon sein ganzes Leben nicht loslassen wollte, ihn umgeben hat wie ein treuer
Freund, eine Frau, eine Geliebte. Genau wie Beethoven – der größte Sohn dieser,
seiner schrecklichen Heimatstadt –, der am Ende seine Lebens in die akustische
Dunkelheit eintrat.
(irgendwo
habe ich einmal gelesen, dass der letzte Sinn, den man verliert, bevor man
stirbt, der Hörsinn ist)
So
kriegt jeder am Ende das, was er verdient und wahrscheinlich fällt mir
irgendwann die Hand ab, bei dem ganzen Scheiß, den ich hier schreibe. Genau wie
deine Mutter das damals schon prophezeit hat: „Wenn du die Hand gegen deine
Eltern erhebst, fällt sie dir irgendwann ab!“ Und du dachtest tatsächlich das
wär war. Oder die Zunge fällt dir aus, wenn du zu viel redest. Oder was auch
immer.
wahrscheinlich
kommt Nadine in eine Hölle, wo sie nicht mehr aufhören kann zu quasseln, so
viel wie sie schweigt, wo sie gezwungen ist, sich den ganzen Tag das Leid ihres
verflossenen von vielen kleinen und
großen Teufelchen einflüstern zu lassen