Heute
musste er tatsächlich fast wieder heulen. Bei Cuéntame como pasó, einer seiner spanischen Serien – komischerweise
sind es immer die spanischen, bei denen er heulen muss, bei denen die Emotionen
ihn förmlich übermannen). Ich weiß, er ist auch von Natur aus schon ziemlich
nah am Wasser gebaut, aber das heute war wirklich etwas Besonderes.
Cuéntame como pasó erzählt die Geschichte der Familie Alcántara, die
während der Franco-Zeit vom Land in die Großstadt Madrid zieht und zeigt beispielhaft
am Alltag der Alcántaras, wie sich das Land von der Franco-Diktatur langsam zu
einer modernen Gesellschaft wandelte. In der vierten Folge, die im Jahr 1968
spielt, bekommt Antonio Alcántara, Vater und Oberhaupt der Familie Alcántara,
Besuch von seinem Bruder Miguel, der auf der Suche nach Arbeit und einem
besseren Leben nach Frankreich ausgewandert ist. Zu Beginn sieht es so aus, als
hätte Miguel in Frankreich das große Los gezogen: Er hat einen guten Job bei
Citroën, ein Chalet, eine französische Frau und eine bildhübsche Tochter. Aber
im Laufe der Folge stellt sich heraus, dass die Realität ein bisschen anders
aussieht. Miguel gesteht seinem Bruder Antonio, der selber von einem Leben in
Frankreich träumt, dass er allen nur etwas vorgemacht hat, damit sein Bruder
stolz auf ihn ist. Um seinen Bruder nicht zu enttäuschen.
Dass
er gar kein Chefmechaniker bei Citroën ist, sondern nur ein Baggerfahrer. Der
für andere die Drecksarbeit erledigt. Ein weiterer kleiner, unbedeutender, spanischer
Gastarbeiter, der zwar über die Runden kommt, aber sein Glück in der Fremde nie
gefunden hat. Der seine wahre Familie vermisst, seine „Leute“.
Dass
sein Chalet in Frankreich in Wahrheit nur eine Mietwohnung ist…
Dass
sein Auto, sein Citroën eine alte Schrotkarre ist, die dauernd zusammenbricht…
Dass
er keine Hoffnung darauf hat, jemals befördert zu werden, als Spanier in
Frankreich…
Dass
seine Frau ihn wie Dreck behandelt. Dass er manchmal das Gefühl, seine Frau
denke, er sei geistig ein bisschen unterbemittelt…
Warum
ich Ihnen das alles erzähle, wenn es diese Serie noch nicht mal im deutschen Fernsehen
gibt? Weil dieser Moment, in dem Miguel seinem Bruder die Wahrheit über sein Leben
in Frankreich erzählt, ihn zutiefst berührt hat.
So
ungefähr muss sich seine baldige Ex-Frau Nadine gefühlt haben, als sie gegangen
ist (auch Miguel verlässt seine französische Frau nach langem Hin und Her ein
paar Staffeln später endgültig). Nicht gut behandelt, in einem fremden Land,
wie ein Bürger zweiter Klasse, immer eine Ausländerin, von ihrem deutschen
Ehemann und ihrer eigenen Tochter nicht (immer) für voll genommen, fünf Jahre
älter und mit Falten, eine Putzfrau, die vorgibt, einen anderen Beruf zu haben.
Auch sie muss zurück gewollt haben. Nicht nach Ecuador, sondern zu ihrer
Familie aus Ecuador in Deutschland. Die sie immer so akzeptiert hat wie sie
ist. Die sie besser verstanden haben muss als er, ihr deutscher Ehemann, obwohl
er fließend Spanisch spricht. Wie Miguel in der Serie war sie nicht glücklich, war
frustriert, hatte keine Lust mehr, sich ihr ganzes Leben etwas vorzumachen, und
ist am Ende zu ihrer Familie zurück. Zu ihrer Herkunftsfamilie, ihren Wurzeln.
Trotz
Rosenkrieg und knallhartem Anwalt könnte er fast mit ihr Mitleid bekommen.
Aber
das ist noch lange nicht alles. Das ist nicht der einzige Grund, warum ihn das
so berührt hat. Letzten Endes ist Mitleid mit anderen nämlich immer und vor allem eins:
Selbstmitleid! Und so trifft das Geständnis Miguels in Cuéntame como pasó genauso auf sein eigenes Leben zu. Auch er hat
sein ganzes Leben lang allen etwas vorgemacht, hat so getan als ob. Hat sich
besser gemacht als er in Wirklichkeit war. Hat so getan als hätte er ein
besseres Leben als das, was er tatsächlich hatte. Als verdiene er mehr Geld mit
seinem popligen Job in der Musikschule. In der Spielhalle. Wo er seine
Aufstiegschancen genau wie die Miguels in Frankreich gen Null tendieren. Auch
er hat sich und allen anderen etwas vorgemacht. Damit seine Eltern, seine
Tochter und letztendlich seine Frau auf ihn stolz sind.
Dass
er einen guten Job hat, der ihn erfüllt.
Dass
er mit seiner Wohnung zufrieden ist.
Dass
er auch ohne Führerscheint zurechtkommt.
Dass
er glücklich sei, wenn er mit ihr und ihren Freunden rausgeht und genau weiß,
dass die ihn nie so akzeptiert haben wie er ist, dass die eine ganz andere
Agenda als er hatten.
Auch
er hat immer so getan, als ob er über all dem stehe, als ob er etwas Besseres sei…nur
weil er genau wusste, dass das Gegenteil der Fall war. Wie hat das damals diese
Bolivianerin in Schottland gesagt. Dein Mann ist arrogant. Aber wo kam denn die
vermeintliche Arroganz her?! Aus einem Gefühl der Unterlegenheit, des nicht
gelebten Lebens.
Auch
er hat seinen Eltern, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Kollegen all die
Jahre etwas vorgemacht, hat sie und sich selbst belogen. Wie Miguel in der
Serie.
Auch er hat
nie das Leben gehabt, was er wirklich wollte, in einer großen Stadt im Ausland,
mit Leuten wie ihm, die an Literatur interessiert sind, an Kunst, an Kultur, was
weiß ich, für die das was bedeutet und die nicht, wie Nadines Freundin sagen: „Komm
mir nicht mit Freud. Freud zahlt nicht deine Rechnungen…“
Einen
schönen Aufstieg ins Himmelreich…
Dass
das Einzige, was er im Leben erreicht hat, eine schöne, intelligente Tochter
ist
Deswegen
hat er heute fast geheult, als er das gesehen hat. Obwohl er dachte, dass schon
lange keinen Tränen mehr kommen würden.
Wir
machen alle allen etwas vor. The grass is
always greener on the other side. Bis uns die Realität irgendwann einholt. Und dann
stehen wir da
und
heulen fast (wenn die Tränen noch kommen würden)
Aber
dann ist es zu spät…