Er geht nachts die
Strandpromenade in Barcelona entlang. Diese langgezogene Promenade, die sich
direkt oberhalb der Hausstrände der Millionenstadt befindet und die
kilometerlang ist. Keine Ahnung wie viel Uhr es ist. Halb zwei, halb drei,
keine Ahnung. Heute ist er bestimmt schon zehn Kilometer gelaufen, wenn nicht
sogar mehr. Und jetzt ist er hier, kurz vor diesen beiden Hochhaustürmen, von
denen einer von der Renfe, der
spanischen Bahngesellschaft ist. Im anderen befinden sich Hotels, Restaurants,
Clubs und alles Mögliche: sogar ein Casino. Kurz vor den ganzen Großraumdiskos
der Stadt, die sich direkt unter der Promenade befinden und deren Eingänge wie U-Boot-Türme
aus der Promenade hervorragen. Es ist immer noch angenehm warm (vielleicht
sogar angenehmer als die Hitze am Tag). In Barcelona wird es im Hochsommer fast
nie nachts kalt. Oder gar kühl. Rechts ist der Stand und dahinter das Meer,
dunkel und unergründlich in der Nacht (nachts sind bestimmt auch mehr Fische
unterwegs als am Tag) und links die Großstadt. Dieses Krankenhaus. Die Bänke,
von denen die Promenade gesäumt ist, sind selbst um diese fortgeschrittene
Uhrzeit noch voller Menschen: Jugendliche, Touristen und Typen, die aussehen,
als würden sie Drogen nehmen. Aber selbst die Drogensüchtigen kommen ihm hier
nicht so assig vor wie in Deutschland. Es gibt sogar noch den einen oder anderen
Jogger, der mit freiem Oberkörper die Promenade entlangläuft. Um diese Uhrzeit.
Und die Partygänger, oft Engländer oder Amerikaner, die Männer oder Jungs
leger, aber gleichzeitig elegant gekleidet, mit Poloshirts und eleganten kurzen
Hosen, die Frauen mit selbst für die teuren, exklusiven Clubs am Strand overdressed, in langen, oft schwarzen
Kleidern mit Schlitz. Das sieht schon geil aus, elegant und alles, aber
schwarze Abendkleider in dieser Hitze? Selbst der Schlitz kann da wohl kaum für
Belüftung sorgen, in den unteren Regionen. Nicht, dass die das merken würden,
so zu wie viele von denen sind. Von Alkohol und vielleicht auch Drogen,
fettigem Essen und Wein.
Er selbst ist komplett
nüchtern. Die ganze Nacht ist er in der dunklen und zugleich hell erleuchteten
Stadt umhergewandert. Auf der Suche nach was? „Dem gestrigen Tag?“ würde seine
Mutter sagen. Wohl mehr dem gestrigen Jahr. Oder dem vorgestrigen, wenn es
sowas überhaupt gibt, als Wort meine ich. Einer Zeit, wo er noch halbwegs glücklich
war in seinem Leben, Im Vergleich zu dem jetzigen „überhaupt nicht mehr“. Kein
bisschen mehr. Kreuzunglücklich. Selbst hier, in Barcelona, der Stadt seiner
Träume. Hier leben. Oder sterben? Barcelona sehen und sterben. Barcelona
riechen, im Sommer, dieser Geruch aus Frittierfett, salzigem Meer, Dreck und
menschlichen Körpern. Barcelona spüren. Aber wie soll er es denn spüren, dieses
Jahr, wenn er sich noch immer in Schockstarre befindet, wenn er eigentlich
nichts mehr fühlen will, nichts mehr fühlen kann, damit es nicht zu viel wird
und seine Gefühle überlaufen. Überhand nehmen. Wenn der Körper seine Gefühle
sozusagen zum Selbstschutz heruntergefahren hat. Bis auf ein Minimum: Du
vermisst sie, du liebst sie (immer noch), du willst das nicht, du willst nicht
hier sein, nicht allein sein, du willst deine Familie wieder, du liebst sie, du
wirst sie immer lieben, sie ist weg, für immer, du kannst sie nicht vergessen,
wie solltest du denn auch, alles ist noch frisch wie eine Wunde, die nicht
heilen will, die er immer wieder aufreißt, um sich daran zu erinnern, dass er
noch lebt, dass er noch etwas fühlt, dass dies alles noch real ist
Hier am Strand ist noch
immer so viel los, die Wellen sind kaum zu hören. Sind aber da, immer da. Die
dunklen Wellen im Hintergrund. Die ein stilles, aber nicht minder machtvolles
Gegengewicht zu all dem Leben, all den Leuten, all den Lichtern bilden. Es soll
sogar Leute geben, die hier nachts nackt baden gehen. Nackt im dunklen Meer.
Die Toten und die Nackten.
Er selbst ist den ganzen
Abend durch die Stadt gelaufen. Über den gewaltigen, monumentalen Plaça de Catalunya die Ramblas runter am
Hafen entlang zum Strand. Auf der Suche nach was. Etwas, irgendetwas, egal was,
dass in von seinen Gedanken ablenkt. Seine Gedanken an sie. Er weiß selbst
nicht, nach was er sucht, das wusste er noch nie. Seit er sich bewusst ist,
dass er überhaupt etwas sucht. Unsterblichkeit vielleicht, Leben vielleicht,
Ruhe, Sex, Liebe, was weiß ich. Geborgenheit, Freundschaft, einfache Zuneigung?
Die er hier nicht finden wird, das weiß er instinktiv jetzt schon. Obwohl die
Stadt am Meer, diese unglaublich schöne Stadt am Meer eine willkommene
Abwechslung von Deutschland bietet. Immer wieder quatscht ihn eine
Prostituierte an – zuerst zaghaft, wie diese Rumänin oberhalb des Plaças de Catalunya, die irgendetwas von
cigarro murmelt. In die Nacht hinein.
Er kann zwar Spanisch, aber ist cigarro nicht
eine Zigarre, und keine Zigarette (cigarillo)?
Am Anfang – bei eben dieser Rumänin – ist er sogar noch so naiv zu glauben, die
wolle wirklich eine Zigarette und sagt geistesabwesend no („nein“), no tengo (hab
ich nicht). Sagt leicht traurig, leicht genervt: No tengo nada. Ich hab nichts. Davon abgesehen, dass meiner
allerhöchstens eine lausige Zigarette ist (und keine dicke, lange Zigarre), ist
er seit März außer Betrieb. ¿Fuera de
servicio, entiendes? Tot. Muerto,
weil seine liebeskranke Wüstenmaus nicht mehr den Weg in die sichere Höhle, zu
der sicheren Partnerin zurückfindet. Nach dem Sandsturm. Und selbst wenn, dann
wär sie nicht mehr da
Außerdem ist er noch nicht
verzweifelt genug, um mit einer dieser Prostituierten, dieser
Straßen-Prostituierten mitzugehen. Und die wollen das auch nicht, die wissen
das nur nicht. Später, auf den Ramblas wird es richtig schlimm. Als einzelner
Mann. Da hast du keine Chance. Diese ganzen Schwarzen, große, wortwörtlich
schwarze Frauen mit kräftigen Oberarmen und dicken Ärschen, die alles
anquatschen, was keine Freundin oder Familie bei sich hat und bei drei noch
nicht auf den hier durchaus spärlich gesäten Palmen ist. Mit so einer würde er
sowieso nicht mitgehen, nie mitgehen. Das ist nicht seine Art von Frau. Die
machen ihn Angst, wie sie wie Heuschrecken über die Touristen-Männchen
herfallen. Wie sie einen anquatschen und sogar sagen „wanna fuck“, „sex“. Nicht nur, dass es im mittleren, südlichen Teil
Afrikas, aus dem die kommen (weil verschleiert sehen die nicht gerade aus…)
eine wesentlich höhere AIDS-Rate als in Westeuropa gibt, ist der Sex bei diesen
Frauen keineswegs garantiert. Das ist wie auf Mallorca: Die bedrängen einen,
locken einen in die dunklen, engen Gassen links und rechts der Ramblas und wenn
man erst einmal die Hosen unten hat, kriegt man nachher noch das Portemonnaie
abgezogen, ohne irgendeine Gegenleistung zu bekommen. Näh, näh, ich bin doch
nicht lebensmüde; oder zumindest nicht so
lebensmüde. Auf eine andere, weniger riskante Art…
Aber hier, auf der
Promenade, ist er relativ sicher vor dieser Art der Belästigung (und genau das
ist es strenggenommen, was die machen: sexuelle Belästigung! Aber bei Männern
zählt das ja nicht…). Hier sind sowieso
kaum Einheimische. Und wenn dann nur die Partner, die Freunde, die Ehemänner
der schwarzen Frauen von weiter oben, die versuchen, im Auftrag der Diskos, den
mehr oder minder zurechnungsfähigen Touristen ermäßigte Tickets anzudrehen, die
sie zwar in die Diskos bringen, aber sie trotzdem nicht vor den 10-Euro-Bieren
an der Bar schützen.
Und auf einmal passiert es.
Dieser eine Moment, diese Epiphanie im alles verschlingenden Alltag, der hier
zwar nicht grau ist, sondern eher blau und beige, den es aber trotzdem gibt. Er
hört eine Gruppe junger spanischer Frauen in eleganter Abendkleidung (ohne
Lüftung!). Sie kommen ihm entgegen die Promenade entlang und eine sticht
besonders hervor. Er mag Spanierinnen, besonders hier, wo jede Menge junger
englischer und amerikanischer Schnitzel auf Beinen langlaufen. Aber die eine
von denen (keine Ahnung, ob die wirklich „jung“ oder nur „noch jung“ sind,
wahrscheinlich eher das Letztere), die
hat sich in sein Gedächtnis förmlich eingebrannt, durch das, was sie sagt, was
sie immer wieder in die laue, spanische Nacht hinausschreit. Rebellisch, sich
gegen das Leben auflehnend. Immer wieder ruft sie diesen Satz, am Anfang noch
ziemlich unmerklich und dann immer deutlicher:
Quiero
vivir la vida
Quiero
vivir la vida
Quiero vivir la vida
Am Anfang noch betrunken
lachend, dann immer insistenter und am Ende fast schon verzweifelt, als sie
merkt, dass keiner große Notiz von ihr nimmt.
Quiero vivir la vida
Ich will das Leben leben
Ich will leben
Ich will (endlich) leben
Quiero
vivir la vida
Genau wie du damals, Anfang
der 2000er immer in der Disko Robbie Williams gesungen hast:
I
just wanna feel
I
just wanna feel
Dich
hat auch keiner gehört, dich hat auch nie einer gehört, damals nicht und überhaupt:
dein ganzes Leben nicht.
Dich
hat nie einer gehört.
Dich
hat eigentlich nie einer gehört.
Quiero vivir la vida
Weißt du was, weißt du wie
gerne ich jetzt zu dir rübergehen würde, dich in die Arme nehmen würde und
sagen würde:
Yo también
Ich
auch.
Weißt du, wie lange ich das
schon will. Das Leben leben. Einfach nur leben. Spaß haben. Die Welt einen am
Arsch lecken lassen. Die Welt in den Arsch ficken, von hinten nehmen und
einfach nur leben
Weißt du das?
¿Sabes?
Aber am Ende machst du es
nicht. Bleibst nur kurz stehen und starrst sie im Dunkeln bewundernd an. Ohne
dass sie etwas davon merkt. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein. In einer
anderen Welt. Wir haben nur ein Leben. Da gehen wir nicht rüber, umarmen die,
geben ihr ein Küsschen auf die Backe. Und sagen: Yo también. Yo también
quiero vivir. ¿Sabes? Lo he querido toda mi vida. Toda mi puta vida. ¿¡Y, qué
ha pasado!?
Nada
nada
como
siempre
la
misma mierda
la
misma puta mierda de siempre
Du gehst nicht rüber, lässt
dir deine Bewunderung, deine aufwallenden Gefühle, deine hochkommenden
Emotionen noch nicht mal anmerken. Warum eigentlich nicht?
Vielleicht, weil jeder am
Ende in seinem eigenen Gefängnis „lebt“. Ob in Spanien oder in Deutschland.
Jeder „lebt“ sein eigenes Leben. Jeder will leben…
…aber keiner tut es. Wirklich
Wenn man etwas so sehr will,
dann gibt einem das Leben es nicht. Auch ihr nicht.
Und dir sowieso nicht.
Nur die Stimmen verhallen.
Und du gehst weiter
Denkst mit einer gewissen
Häme: Die wird auch noch merken, dass das, was sie will, nicht möglich ist.
Nicht in dieser Welt
Oder nur bedingt. Und das
will weder sie noch du