Dienstag, 2. August 2016

Quiero vivir - ich will leben












Er geht nachts die Strandpromenade in Barcelona entlang. Diese langgezogene Promenade, die sich direkt oberhalb der Hausstrände der Millionenstadt befindet und die kilometerlang ist. Keine Ahnung wie viel Uhr es ist. Halb zwei, halb drei, keine Ahnung. Heute ist er bestimmt schon zehn Kilometer gelaufen, wenn nicht sogar mehr. Und jetzt ist er hier, kurz vor diesen beiden Hochhaustürmen, von denen einer von der Renfe, der spanischen Bahngesellschaft ist. Im anderen befinden sich Hotels, Restaurants, Clubs und alles Mögliche: sogar ein Casino. Kurz vor den ganzen Großraumdiskos der Stadt, die sich direkt unter der Promenade befinden und deren Eingänge wie U-Boot-Türme aus der Promenade hervorragen. Es ist immer noch angenehm warm (vielleicht sogar angenehmer als die Hitze am Tag). In Barcelona wird es im Hochsommer fast nie nachts kalt. Oder gar kühl. Rechts ist der Stand und dahinter das Meer, dunkel und unergründlich in der Nacht (nachts sind bestimmt auch mehr Fische unterwegs als am Tag) und links die Großstadt. Dieses Krankenhaus. Die Bänke, von denen die Promenade gesäumt ist, sind selbst um diese fortgeschrittene Uhrzeit noch voller Menschen: Jugendliche, Touristen und Typen, die aussehen, als würden sie Drogen nehmen. Aber selbst die Drogensüchtigen kommen ihm hier nicht so assig vor wie in Deutschland. Es gibt sogar noch den einen oder anderen Jogger, der mit freiem Oberkörper die Promenade entlangläuft. Um diese Uhrzeit. Und die Partygänger, oft Engländer oder Amerikaner, die Männer oder Jungs leger, aber gleichzeitig elegant gekleidet, mit Poloshirts und eleganten kurzen Hosen, die Frauen mit selbst für die teuren, exklusiven Clubs am Strand overdressed, in langen, oft schwarzen Kleidern mit Schlitz. Das sieht schon geil aus, elegant und alles, aber schwarze Abendkleider in dieser Hitze? Selbst der Schlitz kann da wohl kaum für Belüftung sorgen, in den unteren Regionen. Nicht, dass die das merken würden, so zu wie viele von denen sind. Von Alkohol und vielleicht auch Drogen, fettigem Essen und Wein.







Er selbst ist komplett nüchtern. Die ganze Nacht ist er in der dunklen und zugleich hell erleuchteten Stadt umhergewandert. Auf der Suche nach was? „Dem gestrigen Tag?“ würde seine Mutter sagen. Wohl mehr dem gestrigen Jahr. Oder dem vorgestrigen, wenn es sowas überhaupt gibt, als Wort meine ich. Einer Zeit, wo er noch halbwegs glücklich war in seinem Leben, Im Vergleich zu dem jetzigen „überhaupt nicht mehr“. Kein bisschen mehr. Kreuzunglücklich. Selbst hier, in Barcelona, der Stadt seiner Träume. Hier leben. Oder sterben? Barcelona sehen und sterben. Barcelona riechen, im Sommer, dieser Geruch aus Frittierfett, salzigem Meer, Dreck und menschlichen Körpern. Barcelona spüren. Aber wie soll er es denn spüren, dieses Jahr, wenn er sich noch immer in Schockstarre befindet, wenn er eigentlich nichts mehr fühlen will, nichts mehr fühlen kann, damit es nicht zu viel wird und seine Gefühle überlaufen. Überhand nehmen. Wenn der Körper seine Gefühle sozusagen zum Selbstschutz heruntergefahren hat. Bis auf ein Minimum: Du vermisst sie, du liebst sie (immer noch), du willst das nicht, du willst nicht hier sein, nicht allein sein, du willst deine Familie wieder, du liebst sie, du wirst sie immer lieben, sie ist weg, für immer, du kannst sie nicht vergessen, wie solltest du denn auch, alles ist noch frisch wie eine Wunde, die nicht heilen will, die er immer wieder aufreißt, um sich daran zu erinnern, dass er noch lebt, dass er noch etwas fühlt, dass dies alles noch real ist

Hier am Strand ist noch immer so viel los, die Wellen sind kaum zu hören. Sind aber da, immer da. Die dunklen Wellen im Hintergrund. Die ein stilles, aber nicht minder machtvolles Gegengewicht zu all dem Leben, all den Leuten, all den Lichtern bilden. Es soll sogar Leute geben, die hier nachts nackt baden gehen. Nackt im dunklen Meer. Die Toten und die Nackten.

Er selbst ist den ganzen Abend durch die Stadt gelaufen. Über den gewaltigen, monumentalen Plaça de Catalunya die Ramblas runter am Hafen entlang zum Strand. Auf der Suche nach was. Etwas, irgendetwas, egal was, dass in von seinen Gedanken ablenkt. Seine Gedanken an sie. Er weiß selbst nicht, nach was er sucht, das wusste er noch nie. Seit er sich bewusst ist, dass er überhaupt etwas sucht. Unsterblichkeit vielleicht, Leben vielleicht, Ruhe, Sex, Liebe, was weiß ich. Geborgenheit, Freundschaft, einfache Zuneigung? Die er hier nicht finden wird, das weiß er instinktiv jetzt schon. Obwohl die Stadt am Meer, diese unglaublich schöne Stadt am Meer eine willkommene Abwechslung von Deutschland bietet. Immer wieder quatscht ihn eine Prostituierte an – zuerst zaghaft, wie diese Rumänin oberhalb des Plaças de Catalunya, die irgendetwas von cigarro murmelt. In die Nacht hinein. Er kann zwar Spanisch, aber ist cigarro nicht eine Zigarre, und keine Zigarette (cigarillo)? Am Anfang – bei eben dieser Rumänin – ist er sogar noch so naiv zu glauben, die wolle wirklich eine Zigarette und sagt geistesabwesend no („nein“), no tengo (hab ich nicht). Sagt leicht traurig, leicht genervt: No tengo nada. Ich hab nichts. Davon abgesehen, dass meiner allerhöchstens eine lausige Zigarette ist (und keine dicke, lange Zigarre), ist er seit März außer Betrieb. ¿Fuera de servicio, entiendes? Tot. Muerto, weil seine liebeskranke Wüstenmaus nicht mehr den Weg in die sichere Höhle, zu der sicheren Partnerin zurückfindet. Nach dem Sandsturm. Und selbst wenn, dann wär sie nicht mehr da

Außerdem ist er noch nicht verzweifelt genug, um mit einer dieser Prostituierten, dieser Straßen-Prostituierten mitzugehen. Und die wollen das auch nicht, die wissen das nur nicht. Später, auf den Ramblas wird es richtig schlimm. Als einzelner Mann. Da hast du keine Chance. Diese ganzen Schwarzen, große, wortwörtlich schwarze Frauen mit kräftigen Oberarmen und dicken Ärschen, die alles anquatschen, was keine Freundin oder Familie bei sich hat und bei drei noch nicht auf den hier durchaus spärlich gesäten Palmen ist. Mit so einer würde er sowieso nicht mitgehen, nie mitgehen. Das ist nicht seine Art von Frau. Die machen ihn Angst, wie sie wie Heuschrecken über die Touristen-Männchen herfallen. Wie sie einen anquatschen und sogar sagen „wanna fuck“, „sex“. Nicht nur, dass es im mittleren, südlichen Teil Afrikas, aus dem die kommen (weil verschleiert sehen die nicht gerade aus…) eine wesentlich höhere AIDS-Rate als in Westeuropa gibt, ist der Sex bei diesen Frauen keineswegs garantiert. Das ist wie auf Mallorca: Die bedrängen einen, locken einen in die dunklen, engen Gassen links und rechts der Ramblas und wenn man erst einmal die Hosen unten hat, kriegt man nachher noch das Portemonnaie abgezogen, ohne irgendeine Gegenleistung zu bekommen. Näh, näh, ich bin doch nicht lebensmüde; oder zumindest nicht so lebensmüde. Auf eine andere, weniger riskante  Art…

Aber hier, auf der Promenade, ist er relativ sicher vor dieser Art der Belästigung (und genau das ist es strenggenommen, was die machen: sexuelle Belästigung! Aber bei Männern zählt das ja nicht…).  Hier sind sowieso kaum Einheimische. Und wenn dann nur die Partner, die Freunde, die Ehemänner der schwarzen Frauen von weiter oben, die versuchen, im Auftrag der Diskos, den mehr oder minder zurechnungsfähigen Touristen ermäßigte Tickets anzudrehen, die sie zwar in die Diskos bringen, aber sie trotzdem nicht vor den 10-Euro-Bieren an der Bar schützen.

Und auf einmal passiert es. Dieser eine Moment, diese Epiphanie im alles verschlingenden Alltag, der hier zwar nicht grau ist, sondern eher blau und beige, den es aber trotzdem gibt. Er hört eine Gruppe junger spanischer Frauen in eleganter Abendkleidung (ohne Lüftung!). Sie kommen ihm entgegen die Promenade entlang und eine sticht besonders hervor. Er mag Spanierinnen, besonders hier, wo jede Menge junger englischer und amerikanischer Schnitzel auf Beinen langlaufen. Aber die eine von denen (keine Ahnung, ob die wirklich „jung“ oder nur „noch jung“ sind, wahrscheinlich  eher das Letztere), die hat sich in sein Gedächtnis förmlich eingebrannt, durch das, was sie sagt, was sie immer wieder in die laue, spanische Nacht hinausschreit. Rebellisch, sich gegen das Leben auflehnend. Immer wieder ruft sie diesen Satz, am Anfang noch ziemlich unmerklich und dann immer deutlicher:

Quiero vivir la vida

Quiero vivir la vida

Quiero vivir la vida

Am Anfang noch betrunken lachend, dann immer insistenter und am Ende fast schon verzweifelt, als sie merkt, dass keiner große Notiz von ihr nimmt.

Quiero vivir la vida

Ich will das Leben leben

Ich will leben

Ich will (endlich) leben

Quiero vivir la vida

Genau wie du damals, Anfang der 2000er immer in der Disko Robbie Williams gesungen hast:

I just wanna feel
I just wanna feel

Dich hat auch keiner gehört, dich hat auch nie einer gehört, damals nicht und überhaupt: dein ganzes Leben nicht.

Dich hat nie einer gehört.

Dich hat eigentlich nie einer gehört.

Quiero vivir la vida

Weißt du was, weißt du wie gerne ich jetzt zu dir rübergehen würde, dich in die Arme nehmen würde und sagen würde:

Yo también

Ich auch.

Weißt du, wie lange ich das schon will. Das Leben leben. Einfach nur leben. Spaß haben. Die Welt einen am Arsch lecken lassen. Die Welt in den Arsch ficken, von hinten nehmen und einfach nur leben

Weißt du das?

¿Sabes?

Aber am Ende machst du es nicht. Bleibst nur kurz stehen und starrst sie im Dunkeln bewundernd an. Ohne dass sie etwas davon merkt. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein. In einer anderen Welt. Wir haben nur ein Leben. Da gehen wir nicht rüber, umarmen die, geben ihr ein Küsschen auf die Backe. Und sagen: Yo también. Yo también quiero vivir. ¿Sabes? Lo he querido toda mi vida. Toda mi puta vida. ¿¡Y, qué ha pasado!?

Nada

nada

como siempre

la misma mierda

la misma puta mierda de siempre

Du gehst nicht rüber, lässt dir deine Bewunderung, deine aufwallenden Gefühle, deine hochkommenden Emotionen noch nicht mal anmerken. Warum eigentlich nicht?

Vielleicht, weil jeder am Ende in seinem eigenen Gefängnis „lebt“. Ob in Spanien oder in Deutschland. Jeder „lebt“ sein eigenes Leben. Jeder will leben…

…aber keiner tut es. Wirklich

Wenn man etwas so sehr will, dann gibt einem das Leben es nicht. Auch ihr nicht.

Und dir sowieso nicht.

Nur die Stimmen verhallen. Und du gehst weiter

Denkst mit einer gewissen Häme: Die wird auch noch merken, dass das, was sie will, nicht möglich ist. Nicht in dieser Welt






Oder nur bedingt. Und das will weder sie noch du