Nach der Arbeit, als er an
der Bushaltestelle auf den Bus wartet, der ihn nach Hause bringen wird, denkt
er plötzlich, wie aus heiterem Himmel: Das ist schon komisch. Seit ich
getrennt/geschieden bin, muss ich gar nicht mehr an den Tod denken. Das heißt,
ich denke immer noch an den Tod, aber…
…aber ich habe nicht mehr
diese Panikattacken, die ich – als ich noch verheiratet war – dauernd hatte. Das
ist schon komisch, aber es stimmt. Die habe ich tatsächlich nicht mehr…diese
plötzlichen Angstattacken, die ich damals (trotz Nadine) dauernd hatte: beim
Laufen, abends allein im Bett neben ihr und auf der Arbeit. Das war schlimm!
Plötzlich ergriff mich diese vage, diffuse Angst oder Panik, dass ich irgendwann
sterben würde, nicht mehr da sein würde. Einmal nachdem ich nachts nach der
Arbeit im Wohnzimmer allein im Wohnzimmer diese Sendung, diesen Bericht über
Mumien in den peruanischen Anden geguckt habe. Aber es waren nicht nur die
Mumien, sondern auch andere Geschichtsreportagen, die dieses Gefühl
hervorriefen. Und ihre schlafende Anwesenheit neben mir im Bett half bei deren
Beseitigung. Denn dieses plötzliche Gefühl, diese plötzliche Gewissheit, dass
ich irgendwann einmal nicht mehr da sein würde, gar nicht mehr, nie mehr, dass
ich für immer tot sein würde, nie wieder zurückkehren würde, dieses Gefühl war
stärker als alles andere. Man konnte nur hoffen, schnell einzuschlafen (aber
selbst das war zutiefst ironisch) und wenn es einen draußen erwischte (wie
einmal beim Walken in der Nähe der Universität), musste man hoffen, schnell auf
andere Gedanken zu kommen. Das war ein schlimmes Gefühl. Man fühlte sich
irgendwie schwerelos (so als wäre der Körper zu leicht, um auf dieser Erde zu
verbleiben) und gleichzeitig wurde der Körper auf einmal so schwer wie ein
Gefängnis auf Erden, wie das Gefängnis auf Erden, das er im Endeffekt ja auch
war. Fast wurde ihm davon sogar schwindelig und er spürte immer diese Schwere,
diesen Druck in der Brust. Das waren zwar wahrscheinlich keine Panikattacken im
klassischen Sinn (was auch immer das ist), aber es waren doch im gewissen Sinne
Angstattacken, eine Angststörung, diese pure, reine, kondensierte Angst, die
man bekommt, wenn man merkt, dass der geliebte und zugleich verhasste Körper,
das gelebte Ich irgendwann nicht mehr da sein würde, einfach weg sein würde,
dass das Leben, an das man sich so klammerte, nie wieder da sein würde, einfach
von einem Moment auf den anderen ausgehen würde, ausgelöscht wurde. Nicht mit
einem Knall, sondern still. Dass man nicht mehr da war, nie wieder. Ich weiß,
das ist der Lauf der Dinge, ich weiß, aber trotzdem machte ihm das eine
Heidenangst. Immer und immer wieder. In regelmäßigen Abständen. Wie aus dem
Nichts. Oft versuchte er in diesen Momenten, diesen Augenblicken des Lebens
auszurechnen, wie viel Leben ihm wohl noch blieb: Er war jetzt 34, 35, 36, 37…
Die Hälfte war also um, so gut wie um, ohne, dass er es gemerkt hätte. Und es
würde mit fortschreitendem Alter bestimmt nicht besser werden… Man würde immer
mehr Lebensqualität verlieren…Jahr für Jahr…man würde unmerklich älter werden,
bis es irgendwann zu spät war…
Und heute, das hat er diese
Attacken irgendwie nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Seltsam.
Einen Vorteil muss diese
ganze Scheiße ja haben, denkt er. Wenigstens ist die Angst vor dem langsamen,
aber sicheren Älterwerden und sterben all den Problemen gewichen, die jetzt
sein Leben beherrschen, im Würgegriff haben: den Geldsorgen, den Formularen, den
Sorgen um María und last but not least all
dem Liebeskummer, dem Schmerz, dem unendlichen Schmerz
Einen Vorteil muss dieser
ganze Scheiß, der mir passiert, ja haben! Ich denke nicht mehr (so viel) über
das Älterwerden nach
über den Tod
aber ist das überhaupt ein
Vorteil? Oder ist das so, weil ich innerlich schon tot bin? Hat sie mich etwa
schon getötet, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ist mein Leben schon so schlimm,
dass selbst der Tod mich nicht mehr schocken kann, dass mir alles egal ist.
Oder ist es so, dass ich jetzt,
trotz allem, mich nicht mehr so eingeengt fühle, nicht mehr so eingeengt bin,
in einer Ehe mit einer Frau, die ich nie zu hundert Prozent geliebt habe. In
einem sozialen Umfeld, in dem es um Dinge ging, die ihm letzten Endes nichts
bedeuteten: Häuser, Autos, Möbel
(er weiß noch ganz genau,
wie viel Ärger er an diesem Samstag hatte, an dem er mit ihrer Freundin im
Auto, dass er und Nadine nicht hatte, nach Köln gefahren war, um sich Sofas
anzugucken, die er nicht wollte, die eh zu teuer waren oder nur billige
Notlösungen aus grobem Stoff und nicht aus schwarzem Leder wie sie ihm
gefielen…als er plötzlich zu Nadine und ihrer Freundin sagte, wie aus heiterem
Himmel: „Dann brauch ich mir ja nur noch einen Sarg kaufen, wenn ich das Sofa
nehme, dann kann ich mir ja gleich einen Sarg kaufen…“ Was natürlich nicht gut
ankam, mal ganz abgesehen, von seinem schlechten Gewissen, dem Sofa gegenüber
und den Leuten, die sich Mühe gemacht hatten, es herzustellen…ja, er hatte
damals tatsächlich ein schlechtes Gewissen dem Sofa gegenüber…das größer war
als sein schlechtes Gewissen seiner Ehefrau oder ihrer besten Freundin
gegenüber, die sich extra die Mühe gemacht hatte, sie nach Köln zu fahren
Ach, was weiß ich denn, ich
weiß nicht, ob das so besser ist oder nur einfach anders, denkt er, keine
Minute bevor der Bus kommt, der ihn in sein neues Zuhause, sein neues Leben
zurückbringt…