Sonntag, 27. August 2017

Angst vor dem Tod












Nach der Arbeit, als er an der Bushaltestelle auf den Bus wartet, der ihn nach Hause bringen wird, denkt er plötzlich, wie aus heiterem Himmel: Das ist schon komisch. Seit ich getrennt/geschieden bin, muss ich gar nicht mehr an den Tod denken. Das heißt, ich denke immer noch an den Tod, aber…

…aber ich habe nicht mehr diese Panikattacken, die ich – als ich noch verheiratet war – dauernd hatte. Das ist schon komisch, aber es stimmt. Die habe ich tatsächlich nicht mehr…diese plötzlichen Angstattacken, die ich damals (trotz Nadine) dauernd hatte: beim Laufen, abends allein im Bett neben ihr und auf der Arbeit. Das war schlimm! Plötzlich ergriff mich diese vage, diffuse Angst oder Panik, dass ich irgendwann sterben würde, nicht mehr da sein würde. Einmal nachdem ich nachts nach der Arbeit im Wohnzimmer allein im Wohnzimmer diese Sendung, diesen Bericht über Mumien in den peruanischen Anden geguckt habe. Aber es waren nicht nur die Mumien, sondern auch andere Geschichtsreportagen, die dieses Gefühl hervorriefen. Und ihre schlafende Anwesenheit neben mir im Bett half bei deren Beseitigung. Denn dieses plötzliche Gefühl, diese plötzliche Gewissheit, dass ich irgendwann einmal nicht mehr da sein würde, gar nicht mehr, nie mehr, dass ich für immer tot sein würde, nie wieder zurückkehren würde, dieses Gefühl war stärker als alles andere. Man konnte nur hoffen, schnell einzuschlafen (aber selbst das war zutiefst ironisch) und wenn es einen draußen erwischte (wie einmal beim Walken in der Nähe der Universität), musste man hoffen, schnell auf andere Gedanken zu kommen. Das war ein schlimmes Gefühl. Man fühlte sich irgendwie schwerelos (so als wäre der Körper zu leicht, um auf dieser Erde zu verbleiben) und gleichzeitig wurde der Körper auf einmal so schwer wie ein Gefängnis auf Erden, wie das Gefängnis auf Erden, das er im Endeffekt ja auch war. Fast wurde ihm davon sogar schwindelig und er spürte immer diese Schwere, diesen Druck in der Brust. Das waren zwar wahrscheinlich keine Panikattacken im klassischen Sinn (was auch immer das ist), aber es waren doch im gewissen Sinne Angstattacken, eine Angststörung, diese pure, reine, kondensierte Angst, die man bekommt, wenn man merkt, dass der geliebte und zugleich verhasste Körper, das gelebte Ich irgendwann nicht mehr da sein würde, einfach weg sein würde, dass das Leben, an das man sich so klammerte, nie wieder da sein würde, einfach von einem Moment auf den anderen ausgehen würde, ausgelöscht wurde. Nicht mit einem Knall, sondern still. Dass man nicht mehr da war, nie wieder. Ich weiß, das ist der Lauf der Dinge, ich weiß, aber trotzdem machte ihm das eine Heidenangst. Immer und immer wieder. In regelmäßigen Abständen. Wie aus dem Nichts. Oft versuchte er in diesen Momenten, diesen Augenblicken des Lebens auszurechnen, wie viel Leben ihm wohl noch blieb: Er war jetzt 34, 35, 36, 37… Die Hälfte war also um, so gut wie um, ohne, dass er es gemerkt hätte. Und es würde mit fortschreitendem Alter bestimmt nicht besser werden… Man würde immer mehr Lebensqualität verlieren…Jahr für Jahr…man würde unmerklich älter werden, bis es irgendwann zu spät war…


Und heute, das hat er diese Attacken irgendwie nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Seltsam.

Einen Vorteil muss diese ganze Scheiße ja haben, denkt er. Wenigstens ist die Angst vor dem langsamen, aber sicheren Älterwerden und sterben all den Problemen gewichen, die jetzt sein Leben beherrschen, im Würgegriff haben: den Geldsorgen, den Formularen, den Sorgen um María und last but not least all dem Liebeskummer, dem Schmerz, dem unendlichen Schmerz

Einen Vorteil muss dieser ganze Scheiß, der mir passiert, ja haben! Ich denke nicht mehr (so viel) über das Älterwerden nach

über den Tod


aber ist das überhaupt ein Vorteil? Oder ist das so, weil ich innerlich schon tot bin? Hat sie mich etwa schon getötet, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ist mein Leben schon so schlimm, dass selbst der Tod mich nicht mehr schocken kann, dass mir alles egal ist.

Oder ist es so, dass ich jetzt, trotz allem, mich nicht mehr so eingeengt fühle, nicht mehr so eingeengt bin, in einer Ehe mit einer Frau, die ich nie zu hundert Prozent geliebt habe. In einem sozialen Umfeld, in dem es um Dinge ging, die ihm letzten Endes nichts bedeuteten: Häuser, Autos, Möbel

(er weiß noch ganz genau, wie viel Ärger er an diesem Samstag hatte, an dem er mit ihrer Freundin im Auto, dass er und Nadine nicht hatte, nach Köln gefahren war, um sich Sofas anzugucken, die er nicht wollte, die eh zu teuer waren oder nur billige Notlösungen aus grobem Stoff und nicht aus schwarzem Leder wie sie ihm gefielen…als er plötzlich zu Nadine und ihrer Freundin sagte, wie aus heiterem Himmel: „Dann brauch ich mir ja nur noch einen Sarg kaufen, wenn ich das Sofa nehme, dann kann ich mir ja gleich einen Sarg kaufen…“ Was natürlich nicht gut ankam, mal ganz abgesehen, von seinem schlechten Gewissen, dem Sofa gegenüber und den Leuten, die sich Mühe gemacht hatten, es herzustellen…ja, er hatte damals tatsächlich ein schlechtes Gewissen dem Sofa gegenüber…das größer war als sein schlechtes Gewissen seiner Ehefrau oder ihrer besten Freundin gegenüber, die sich extra die Mühe gemacht hatte, sie nach Köln zu fahren


Ach, was weiß ich denn, ich weiß nicht, ob das so besser ist oder nur einfach anders, denkt er, keine Minute bevor der Bus kommt, der ihn in sein neues Zuhause, sein neues Leben zurückbringt…