Samstag, 5. August 2017

Der Eismann



"Gatsby glaubte an das grüne Licht, an die wundervolle Zukunft, 
die Jahr für Jahr vor uns zurückweicht. 
Damals entwischte sie uns, aber was machte das schon? 
Morgen laufen wir schneller, strecken die Arme weiter aus und einen schönen Tages, 
so kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom. 
Und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit."
F. Scott Fitzgerald














Er steht vor dem Haus. Guckt hoch. Das Licht ist an. Oben. Er kann hier nicht lange stehen. Er war gerade beim Friseur, seine Haare sind wieder kurz, richtig kurz diesmal, fast wie bei einem Soldaten. Hat die gut gemacht. Da machen die das immer gut, in der Stadt. Der Stadt, die er hasst. Wie die Pest. Wie hat er das heute zu seiner Tochter gesagt: „Ich fühle mich unwohl hier. Physisch unwohl. Verstehst du?“



Hat sie natürlich nicht verstanden. Wie soll sie auch?! Sie ist ja noch so jung. So unschuldig. Hoffe ich doch. Sein kleines Mädchen.

Also hat er es ihr noch mal erklärt, oder hat es zumindest versucht: „Ich fühle mich hier physisch unwohl, verstehst du?! Das ist wie ein Schmerz, verstehst du?!“ Hat sie natürlich nicht. Oder vielleicht doch, wer weiß das schon.

Abends hat er den Iceman geguckt, diesen Film über Richard Kuklinski, den Sohn polnischer Einwanderer, der in New York zum Serienkiller für die Mafia wurde. Den ganzen Abend wollte er Schokolade kaufen, hat es dann aber doch nicht gemacht. Die von Aldi, diese Riegel. Wie der ausflippt in dem Film. Als jemand seine Familie beleidigt. Wie er früher. Als er noch eine Familie hatte. Kuklinski ist Widder, er einzige vernünftige Widder-Kriminelle. Nur Spacken und Cowboys, sonst. Griselda Blanco hingegen, die „Schwarze Witwe“ aus Kolumbien, war Wassermann, wie er. Wasserfrau. Egal.

Nach dem Film hat er sich ganz schnell die Hose angezogen, das Hemd, die weißen Nikes und ist zum Zug gegangen, den er gerade so noch erwischt hat. Was machst du eigentlich hier, hat er sich auf dem Weg in die Stadt, die er hasst, in der er ungute Gefühle hat, gefragt. Er weiß es selbst nicht. Er hat eh nicht viel Zeit. Um 00:39 geht der letzte zurück, da muss er drin sitzen, sonst muss er den Nachtbus nach R. nehmen und von da durch den Wald zurück. Wie gestern. Und darauf hat er heute keinen Bock. Außerdem hat er seine gute Jeans an. Mit der will er nicht durch den Wald, dann geht die wieder kaputt, wenn er mit der die knapp sieben Kilometer läuft. Von R. nach M. Kriegt Löcher zwischen den Beinen, wie immer. Weil er zu fett ist. Weil er zu fett isst, haha. Kurz bevor der Zug in der Stadt ankommt, sieht er sein Gesicht in der Scheibe. Die kurzen Haare, fast wie bei einem Skinhead. Hat die gut gemacht. Das sind Kurden, aber die war Asiatin, die, die ihm die Haare geschnitten hat. Klein und schön. Wie… Er guckt auf die Uhr, nimmt die Unterführung, vorbei an der Rentenversicherung (wie passend), am Alten Friedhof noch passender?), weiter in die Adolfstraße (nein, nicht Adolf Hitler, keine Ahnung welcher Adolf der Straße seinen Namen gegeben hat – ein außerordentlich guter Mensch muss er gewesen sein, bei dem Namen!). Da, wo er früher gewohnt hat. Wo sie gewohnt hat. Wo sie gewohnt haben, als sie noch kein Kind hatten. Gleich ist er da, er guckt sich immer nervöser um. Mit den kurzen Haaren erkennt sie ihn sofort, keine Chance, wenn er sie sieht. Würde er sie wiedererkennen? Zwei Typen kommen ihm entgegen. Sie reden laut. Er guckt ihnen in die Augen. Kanaken. Wallah hier, wallah da, wallah deine Mutter. So viel wie die schwören kann das ja nur gelogen sein. Geht mir jetzt nicht auf die Eier, denkt er. Was für eine Kultur… Aber die sind egal, im Endeffekt, nur Wichser. Wem er nicht begegnen will, das ist R. Oder will er ihm begegnen. Mit seiner Frau und seinem Kind. Nichtsahnend durch die Altstadt schlendernd, die laue Nacht genießen, schon ein bisschen kühl, aber noch okay. ¡Héle! Klingt fast wie wallah. Geil, ne?!
Je näher er der Straße kommt, der Kreuzung, desto nervöser wird er. Er will nicht als erster von denen gesehen werden. Und das liegt durchaus im Rahmen des Möglichen, so klein und flink wie die sind. Und so groß und plump wie er ist. Er braucht ein Käppi, das nächste Mal. Hat er aber nicht. Kein Geld!

…vielleicht will er ja R. begegnen. Den will er sich eh schon lange schnappen, den Wichser. Den Hurensohn! Den dreckigen Hurensohn! Und dann? Wenn er ihn hat…?

Eigentlich hatte er damit ja aufgehört, mit diesem…diesem Stalking, jetzt, wo er nicht mehr in der Stadt lebt, die er hasst. Aber heute konnte er einfach nicht anders. So unauffällig wie möglich überquert er die Straße, die Kreuzung, läuft an der Mauer der Schule gegenüber entlang, bis er da ist, bleibt gegenüber stehen. Wenigstens nutzen denen abends ihre Handys nichts. Abends wird das nichts mit Fotos. Das könnt ihr vergessen! Er bleibt vor dem Haus stehen, magisch angezogen von dem Licht…
Wie eine Motte…