24.04.16
Beim Aufräumen stößt er auf
die Blätter, die er damals, kurz nach der Trennung, ausgedruckt hat.
Warum tut es so weh? Weil er
dachte, er hätte endlich jemanden gefunden, der ihn liebt. Der ihn so liebt,
wie er ist. Weil er dachte, dass da jemand wär, dem er Vertrauen konnte. Nach
all den Jahren mit seiner Familie, in der ihn niemand geliebt hat. Nicht sein
Vater, nicht seine Mutter, nicht seine Schwester. Vielleicht hat er sie auch
erdrückt mit seiner Liebe. Mit seinem stummen Schrei nach Liebe. Das ist zu
viel für einen Menschen alleine. Vielleicht hat sie ihn ja wirklich geliebt und
er hat es kaputt gemacht. Mit seinem Misstrauen, seiner Eifersucht, seinem
Kontrollwahn, seinen Wutausbrüchen.
Aber sind diese nicht
verständlich, wenn man daher kommt, wo er herkommt?! Sie hat das nie
verstanden, wenn er gesagt hat: „Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe. Du
weißt nicht, wo ich herkomme. Wo soll ein verwöhnter Europäer schon groß
herkommen? Was soll der schon groß durchgemacht haben? Im Vergleich zu meiner Kindheit
in den Anden? hat sie wahrscheinlich gedacht.
Aber es ist nicht wichtig,
ob man geschlagen wurde. Es ist nicht wichtig, ob man physisch misshandelt
wurde. Für ihn ist die Frage vielmehr, ob man geliebt wurde. Und das wurde er
nie. Er hatte alles, Geschenke, Spielzeug, alles, aber keine Zuneigung. Und das
ist viel schlimmer als Schläge, viel schlimmer als Misshandlung. Oder zumindest
genauso schlimm. Dieses vage Gefühl, nicht gut zu sein, nichts zu sein, gar
nichts
„Mach die Augen zu, dann
siehst du, was du bist…“
Und er versuchte sogar noch
den Kommentar seines Vaters zu verstehen. Er macht sogar noch die Augen zu. Naiv
wie er war. Nach Anerkennung durstend wie er war. Und sah nichts.
I
entered nothing…
…and…
…nothing
entered me
Ist doch eh egal, was er
macht, er wird immer der kleine, ungeliebte Junge sein. Der zu naiv ist für
diese Welt. Die Augen auch noch zumacht, nur weil sein dummer Vater das sagt.
„Mach die Augen zu, dann
siehst du, was du hast…“
Mit einem Grinsen. Keinem
offen fiesen Grinsen. Sondern einem geschlagenen, resignierten, hintergründigen
Grinsen. Wir zeigen das doch nicht offen, was wir fühlen. Das wär ja noch
schöner. Doch nicht unserem Sohn.
Seine Mutter hatte das
perfektioniert. Bei ihr war das noch hintergründiger. Noch versteckter. Und
noch ausgeprägter.
Wie soll er denn Liebe für
jemand anderen empfinden, wenn er nie erfahren hat, was Liebe ist. Immer nur
ausgenutzt wurde, für die Zwecke und Befriedigung der Bedürfnisse anderer.
Da war sein Sohn okay; wenn
er sagen konnte, dass er ein paar Sprachen spricht, dass er Abitur macht. Aber Zuhause
war er abgeschrieben. Einsam. Warum eigentlich? Warum fiel es ihm so schwer,
Freunde zu finden. Anerkennung zu finden. Weil er zu misstrauisch war. Weil er
niemandem traute. Weil seine Mutter jedes kleine Pflänzchen der Freundschaft
mit ihren fetten, nackten Füßen zertrampelte, um ihn ganz für sich zu haben.
Und das, wo sie ihn doch eh nicht lieben konnte. Wenn er zu Jens ging, zum
Computerspielen, dann war Jens schwul. Und Alexander ja sowieso. Der klang eh
immer wie eine Frau am Telefon, wenn er anrief, um ihn zum Squash einzuladen.
„Der klingt wie ein Mädchen,
am Telefon, der Alexander!“
Er konnte dieses Spiel nicht
gewinnen, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Immer der Gute zu sein. Weil
er nicht der Gute war, den er vorgab, um Anerkennung zu bekommen. Um anerkannt
zu werden, obwohl er es ja am Ende doch nicht wurde.
Die Leute haben da Antennen
für. Ganz feine Antennen. Die das direkt wahrnehmen, wenn jemand immer nett
sein will, dem Konflikt mit der Mutter, mit dem Vater, mit der Schwester aus
dem Weg gehen will. Die merken das direkt, wenn jemand Anerkennung braucht wie
die Luft zum Atmen. Dann geben sie dir genau das nicht. Vielleicht weil sie es
nicht können, weil sie deine geschundene Seele nicht heilen können. Aber
vielleicht auch, weil sie es nicht wollen.
Und das musste seine Frau
jetzt ausbaden… Obwohl sie es gar nicht schuld gewesen war… Sie hatte ihm Liebe
gegeben, wenigstens ein bisschen, in dieser kalten, rauen Welt, in der nichts
zählt. Nur das Nichts.
Vielleicht wäre es echt
besser gewesen, wenn sein Vater ihn verprügelt hätte. Dann hätte er wenigstens
in den Schlägen ein bisschen Zuneigung, Berührung gespürt und nicht diese kalte,
kalkulierende Ablehnung. Die sich in Sätzen wie „Guck mal, der hat zwei
Freundinnen und du keine!“ äußerte. Sich Luft verschaffte.
Und jetzt, jetzt wo er der
Vater ist, stellt er sich die gleichen Fragen: Sind Kinder immer Opfer der
Eltern? Bist du einen Deut besser als Vater? Oder ist deine Tochter auch dein
Opfer? Wird sie sich auch so bitterböse über dich auslassen, in einem Blog,
irgendwann in der Zukunft, wenn sie merkt, was du gemacht hast? Was für ein
schlechter Vater du warst. Was für eine schlechte Mutter ihre Mutter war?
Das Karussell dreht sich
immer weiter, ad absurdum dreht es sich ins Nichts hinein.
Die Kunst ist nur die
Heuchelei, mit der wir versuchen, diese Tatsachen, diese Tatsachen zu
verschleiern. Vor anderen und vor uns selbst. (Letzteres ist vielleicht am Ende
noch viel wichtiger, noch viel ausschlaggebender.)
Innerlich kaputte Wesen schieben
und drücken sich durch diese Welt, wie Zombies