Freitag, 1. April 2016

Nacktbaden








Fand sie das lustig? Fand sie das anregend? Erregend? Oder was ging ihr durch den Kopf, als sie im Auto saß und wusste, dass sie unterwegs waren zu einem FKK-Bad? Mit den Kindern. Sie, die Zuhause zu prüde war, sich bei offenem Fenster zu entblößen, zu schamhaft, sich immer genierte, sich nie irgendwie sexuell experimentierfreudig gezeigt hatte. Was machte sie hier? Wie konnte sie hier so einfach ihre Hüllen fallen lassen? Oder wurde sie erpresst, von diesem Polen? Diesem dreckigen Polen. Diesem dreckigen Bauarbeiter. Dessen Frau nichtsahnend in irgendeinem tiefreligiösen Kaff in der Walachei Polens saß und betete. Leckt mich am Arsch. Ich versteh das nicht. Bis heute nicht. Vielleicht war das echt, weil ihre Schwester damals illegal war in Deutschland. Mit ihrem Kind. Tat sie es für ihre Schwester. Aber wenn sie das für ihre Schwester tat, was tat sie dann noch alles für sie.  Egal, wie oft er darüber nachdenkt, er wird es nicht erfahren. Wird nur immer wieder gegen eine Mauer aus Schweigen rennen. Mit dem Kopf. Wird sie nicht durchstoßen können. Wir sich höchstens den Kopf verdrehen. Aber ist das normal? Sein Bauch sagte ihm nein. Sein Instinkt sagte auch nein. Also war es – wenigstens für ihn – nicht normal. Und das war genug, das reichte absolut. Denn es ging auch um seine Tochter.


Und warum und von wem wurde ihre illegale Schwester danach bei der Polizei angezeigt? Wenn er es nicht war, obwohl sie auch versucht hatten, ihm selbst das anzuhängen. Natürlich musste er es gewesen sein, weil sie genau wussten, dass er es nicht gewesen war, dass er das nicht in sich hatte, eine Mutter mit neun-…zehnjährigem Kind ins Gefängnis zu schicken. Einfach so. Außerdem war er ja mit ihrer Schwester verheiratet, warum sollte er sich da – Hass hin oder her – so etwas aufhalsen. So eine Bürde, so ein schlechtes Gewissen auflasten. Das machte doch keinen Sinn – und das wussten sie auch tief drinnen. Tief in ihrem dunklen Inneren wussten sie das.

Bis heute kapiert er das nicht. Selbst seine Schwester, die bestimmt nicht prüde oder verklemmt ist, hat zu ihm gesagt „Das ist auch ein bisschen deine liebe Frau schuld.“ Also ist er nicht allein, weiß Gott nicht ganz allein in seiner Meinung, dass man nicht Nacktbaden geht, vor allen Dingen nicht mit Kindern. „Wenn man auf die Frau, also auf Nadines Schwester, dann kann man die doch allein einladen, da brauch man bestimmt nicht ihre 10-jährige Tochter, die sich bestimmt auch schämt, sich so vor fremden polnischen Bauarbeitern zu entblößen.“ Er sagt es sich immer wieder und weiß tief drinnen, dass er Recht hat. Oh, wie ich meine eigenen ostpreußischen Vorfahren verfluche, wie ich wünschte, ich könnte diesen Teil meiner Familie aus meinem Stammbaum entfernen. Egal wie oft er es all die Jahre gedreht und gewendet hat, es immer wieder hochgeholt hat, immer wieder, es ist un bleibt nicht normal. Für ihn zumindest nicht. Vielleicht für seine Eltern, diese Kinder der Siebziger, diese Generation, die er wie keine andere verachtet. Was für eine verschwendete Generation! Wie hat das dieser Typ in dem Film mal gesagt. Wir leben wie in den Siebzigern, nur ohne Illusionen. Die verbieten den deutschen Nackten, sich an der Grenze zu zeigen, bauen Zäune auf, um ihre katholischen Kinder vor dem bösen deutschen FKK-Strand zu schützen. Und was machen ihre alten abgehalfterten Männer, sobald sie die deutsche Grenze überqueren. Mit jungen – Nadine war damals erst Anfang 30, ihre Schwester nicht wesentlich älter – Frauen mit Kindern nackt baden. Geil, ne?! Besonders, wenn man das als Vater von seiner Tochter hören muss. Wie alt war sie da? Vier? Andere Väter, die hätten…

Aber du rufst nur wütend ihre Schwester an, die dich noch doof anmacht.  Du bist all die Jahre der Doof, der alles weiß, es aus dem Mund seiner eigenen Tochter gehört hat, während die vor Rafael so tun als wär nichts passiert. Als wärst du derjenige, der die angeschissen hat, bei der Polizei. Wer macht denn sowas? Du weißt es nicht, echt nicht. Wie oft hattest du deswegen Streit. Und die nie. Der Rafael, der Mann ihrer Schwester. Wie oft. Ist der getrennt. Wenn der das wüsste, wäre er es. Hundertpro. Zumindest wäre er nicht mehr so cool, so toll, ein so toller Gockel. Manche Männer sind so – Zeigefinger für Körpergröße in die Höh und Daumen für Penisgröße in der Waagerechten – und manche so – Daumen für Körpergröße in die Höh und Zeigefinger für Penisgröße in der Waagerechten (wenn Sie es selbst mal ausprobieren werden Sie wissen, was er meint! Was Rafael damals meinte. Er hätte ihn da schon rausschmeißen sollen. Mindestens rausschmeißen. Wenn nicht, sogar…

Das war Rafael und er wollte ihm damit sagen, dass er den Größeren hat, obwohl er nur von so kleiner Statur ist.

Er hätte ihm den Mittelfinger zeigen sollen und ihm ihn dann ungespitzt in den Arsch rammen sollen…

Aber er hat nichts dergleichen getan. Aus Rücksicht auf Nadine. Und, wie hat sie es ihm gedankt?! Mit einer Trennung. Während Rafael und Mandy auf nette, glückliche Familie machen. Und seine Familie zerschossen ist, getrennt, auseinandergerissen. Die ham alles und er nichts. Wie immer. Aber er ist es gewöhnt nichts zu haben. Wie hat das sein Vater immer gesagt, früher, als er ein Kind war: „Mach die Augen zu, dann siehst du, was du hast!“ Wie meinte er das bloß?!

Und überhaupt: Was sind das für Leute, die es riskieren, dass eine illegale Mutter mit ihrem Kind in den Knast muss? In was für Kreisen verkehrte Nadine da und ihre Schwestern da. Schon allein bei dem Gedanken dreht sich ihm der Magen um. Aber er ist der Böse gewesen immer.

Und wie hat Slainté auf seinen wütenden Anruf reagiert? Ihm gesagt, dass sie nicht ihre Schwester sei, dass er mit ihr nicht so umspringen kann. Die wurde auch noch frech. Kein Unrechtsbewusstsein. Und er war der Böse. Wie bei seiner Mutter früher. Immer der Böse. Obwohl alle insgeheim wussten, dass er Recht hatte.

Wenn er heute – wo er getrennt ist – an damals denkt, kommen ihm sogar noch mehr Zweifel. Vielleicht stimmt ja Nadines Geschichte von ihrem Vorleben in Deutschland auch nicht. Dass sie nur putzen gegangen ist. Bei den Bekannten kann man sich das eigentlich gar nicht vorstellen. Dass die das nicht ausnutzen. Wenn zwei junge, knackige Ecuadorianerinnen illegal in Deutschland sind, ohne Deutsch zu sprechen.

Es gibt vieles das er sich heute mit jedem Tag schwerer vorstellen kann.

Und die Slainté mit diesem Typen, diesem Rudolf. Und was seine Mutter über den gesagt hat. Und was seine Mutter überhaupt so vom Stapel lässt, bei dem einen Mal, dem einen freudschen Versprecher, der ihm schon gereicht hat. Ich glaube nicht an Freud, aber sowas sagt doch keine normale Person. Kein normaler Mensch. Die Siebziger Jahre eben. Die haben definitiv ihre Spuren hinterlassen. Und nicht im positiven Sinne. Diese Heuchler, die das Böse ihrer Väter wegdrückten, um sich freier Liebe (seine Eltern sind seit guten 45 Jahren verheiratet) zu widmen. Diese Lügner, die kein Verständnis für die Trauer und das Leid ihrer Eltern zeigen konnten, nur, weil sie Nazis waren. Dabei war sein eigener genauso rechts oder vielleicht noch rechter, weil er die Gräuel des Krieges eben nicht miterlebt hat, weil er zwar im zerbombten, aber gut behüteten Deutschland aufgewachsen ist. Aber vielleicht bin ich ja genauso ein Heuchler. Bestimmt sogar. Aber wenigstens weiß ich, dass mein Leben mein großer Krieg ist. Wie konnten auch die Kinder einer Generation werden, die ihre Väter verstoßen hat. Und was kann groß aus deren Enkelkindern werden? Also aus ihm. Er entkommt der Heuchelei auch nicht, aber ich glaube, er ist gewillter das zuzugeben. Aber vielleicht war sein Vater damals genauso gewillt, das zuzugeben. Und so zerschießt sich Europa seine Werte. Und wann kommen sie zurück? Wer weiß, vielleicht mit seinen Kindern. Wer weiß das schon? Oder sind diese Werte für immer verloren? Genau wie Europa? Genau wie Europa