Sonntag, 17. April 2016

Erbeben in Ecuador


17.04.16





Er sitzt mal wieder nichts ahnend auf der Arbeit – was soll er auch sonst machen, außer Arbeit ist ihm ja nicht viel geblieben. Schaut ganz unschuldig auf die Seite der Bild. Nur, um nachzugucken, wie es in Hamburg steht. Weil er so dumm war – wieder mal – die Wahrheit zu sagen. Das darf man in Deutschland nicht. Nicht erst seit Böhmermann, sondern schon länger nicht. Ich nehme mal an so ungefähr seit den Siebzigern. Können aber auch die Sechziger gewesen sein. Eigentlich lustig: Die Generation, die mit den ganzen Lügen aufräumen wollte, ist am Ende die verlogenste. Wer zuletzt lacht…

Aber lachen darf man bald auch nicht mehr…

Wo war er noch mal? Es gibt heutzutage so viele kleine und mittelgroße Ablenkungen, da ist es schwer den Faden zu behalten. Ach ja: Er guckt nach, wie es in Hamburg steht. Und hat ein berechtigtes schlechtes Gewissen. Weil er zu dem Kunden gesagt hat, dass er will – er als Bayern-Fan –, dass Dortmund gewinnt. Damit die Bayern bloß nicht zu sehr an der Tabellenspitze enteilen. Damit die „heiß“ bleiben, hat er gestern noch zu ihm gesagt. Aber er ist Hamburg-Fan. Und dummerweise sind seine Wünsche leider einmal in Erfüllung gegangen. Sonst nie, aber bei so einem Scheiß schon. Unglaublich! Dankeschön! Wer auch immer für die Wünsche verantwortlich ist, Dankeschön!

Jetzt steht es 2:0 für Dortmund und er hat seinen Schlamassel. Auch sein anderer Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Nämlich, dass Aubameyang kein Tor schießt. Damit Lewandowski Torschützenkönig wird. Obwohl er den auch nicht mag. Eigentlich mag er niemanden. Außer seine Tochter. Und die Tittentante von gestern Abend – nein, nur Spaß, bitte nicht verklagen!

Er hat gerade das spanische Radio angeschaltet, als plötzlich etwas passiert. Scheiße, das kann doch nicht sein. Doch nicht in seinem Leben. Ne, du hast dich geirrt. Bestimmt.

Ne, hab ich nicht.

Es ist ja auch nicht so, dass mit ihm was passiert. Er sitzt weiter wie versteinert in seinem Aquarium und wechselt Geld. Im Westen nichts Neues. Aber die Welt steht ja nicht still. Nur, weil er permanent stillsteht. Denn es ist heute wirklich etwas Interessantes passiert. Etwas wirklich Interessantes. Dabei hatte er die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass noch mal was passiert. Was Interessantes. Und normalerweise schaut er ja nicht in die Eilmeldungen der Bild. Da steht dann meist sowas wie „Kim Kardashian abermals an Arsch operiert“. Oder „Dieter Bohlen schon wieder ausgeraubt – Ex hat Alibi!“. Oder „Böhmermann darf verklage werden“. Aber lassen wir das lieber. Wir wollen ja nicht, dass uns das gleiche Schicksal ereilt. Oder?! Denk dran: Du bist nicht Eminem! Was das kostet, so eine Klage!

Aber heute steht da was echt Interessantes. Komplett mit Rechtschreibfehler. Etwas, das seine Pupillen sich radikal erweitern lässt. Nämlich: „Ecuador: Todteszahl nach Erdbeben steigt auf 233.“

Hä, was ist das denn? Liest er richtig? Oder ist das eine optische Täuschung, hervorgerufen durch schlechtes Essen, Trennung und zu viel Sport? Dadurch, dass er heute den Abfluss mit Chlor gereinigt hat? Ist er etwa high? Von Chlor? Chlorgas? Was lesen seine übermüdeten Augen denn da?

Aber nein: Es stimmt tatsächlich! Es hat ein Erdbeben in Ecuador gegeben. Geil! Wie geil ist das denn? Bitte, bitte in Ambato! Bitte, bitte, denkt er, in den Millisekunden, die die Seite braucht, um sich aufzubauen.

Scheiße, das war an der Küste.

Scheiße.

Die armen Opfer.

Obwohl: Vielleicht ist ja ihre Schwester unter ihnen! Die wohnt ja an der Küste.

Aber nein: Das war oben, im Norden. Fast an der Grenze zu Kolumbien. Wohnt da nicht auch irgendjemand? Wo hat die eigentlich keine „Familie“?

Aber so richtig zielsicher ist das trotzdem nicht, wie er auf der Karte feststellen muss. An der Küste. Und es wird sogar ein Tsunami erwartet. Er kriegt den Mund nicht mehr zu. Während er sich hier langweilt müssen die Menschen andernorts um ihr Leben bangen. Um ihre Existenz. Das Leben ist schon unfair. Oder wie das Grönemeyer sagt: „Das Leben ist nicht fair.“ Punkt. Kein Ausrufezeichen.

Ein Erdbeben! Geil!

In freudiger Erwartung und zugleich leicht verängstigt – vor wem hat er eigentlich Angst? – geht er auf der Seite wieder nach oben. Zu dem Foto, das ein Haus zeigt, das nicht nur stark beschädigt ist, sondern auch stark in Schieflage geraten ist. Geil! Das heißt, traurig! So traurig! Die Welt ist wahrhaft aus den Fugen geraten. Erst Böhmermann und jetzt ein Erdbeben in Ecuador. Was kommt als nächstes? Mutti tritt zurück?

Nicht, dass das…

…nein, bist du doof, das ist an der Küste!

Das ist nicht ihr Haus.

Sieht aber so aus.

Das ist nicht lustig.

Wenn er das jetzt schreiben würde, dann würde das nahe an die Schmähkritik rücken.

Aufpassen!

Lass mir doch die Illsuionen. Es ist auch so schön rosa gestrichen. Genau wie ihr Haus.

Aber das ist es nicht.

Scheiße.

Ist das traurig. 233 Tote.

Die werden nie nach Deutschland kommen können und deutsche Männer heiraten und verlassen können

Das Leben ist nicht fair.

Fast ist er versucht, ihr eine SMS zu schreiben.

Eine Schmäh-SMS. Aber das darf er doch nicht. Das macht man doch nicht – nicht nur wegen der juristischen Konsequenzen, sondern überhaupt…

Eine SMS, in der neben Schweigen nur ein Wort steht: Terremoto.

(das ist erst der Anfang…)

Er holt sein Handy hervor, starrt auf das Display. Näh, dann wird sie nachher noch abergläubisch. Die Arme. Das wollen wir doch nicht. Und er auch nicht. Natürlich nicht.

Wir haben ja eine Tochter zusammen. Da macht man so was doch nicht. Was sollen denn die Nachbarn denken?! Meine chinesischen Nachbarn. Die heute im Garten waren, während ich bei offenem Fenster am Pinkeln war. (Es sind die kleinen Freuden im Leben…)

Aber das ist wirklich ein bisschen unheimlich, wenn man so darüber nachdenkt. Das ist nämlich genau das, was er seiner Tochter immer gesagt hat. Natürlich nur im Gedanken, nicht in echt (der Feind liest mit!). Er hat schon immer gesagt: Ich wünsche mir ein Erdbeben. Der Stärke 10,0. Mit Epizentrum in Ambato. Dieses war zwar ein bisschen off the mark (am Ziel vorbei) und ein bisschen zu schwach mit 7,8, aber…

Aber er hat das doch nicht ernst gemeint. Da oben versteht aber echt einer keinen Spaß. Nicht, dass da…sitzt. Nein,

Vielleicht sollte er seiner Tochter eine SMS schreiben. Terremoto. Ja. „Ja“ heißt auf Spanisch übrigens „ha“, so wie in „ha, ha“. Zweimal „ha“ ist hämisch, während dreimal „ha“ fröhlich ist (oder wie war das noch mal?). Ganz unschuldig fragen: Hi María, hast du von dem Erdbeben gehört…

Boah, wie oft hat er das aus Wut gedacht. Ein Erdbeben in Ecuador, das wär es jetzt.

Bestimmt denkt María jetzt auch an mich. Ohne ihrer Mutter was zu sagen.Oder spätestens, wenn sie davon hört.

Morgen kommt sie eh. Da werd ich sie fragen. Nein! Das wär nicht fair.

Das Leben ist nicht fair

Aber was erwartet Nadine denn. Ich werd jetzt bestimmt nicht heuchlerisch sagen. Das hab ich nicht gewollt. So tun als ob. Wie soll ich es denn auch gewollt haben?! Gewollt schon, aber gewillt nicht. Wer kann sich schon ein Erdbeben bestellen, wie eine Pizza. Das ist doch nicht meine Schuld. Bin ich denn an allem schuld?! Das geht ja gar nicht. Das wäre ja…

Blasphemie. Und das geht erst recht nicht

Ne, das stimmt schon. Wir müssen da einfach mal die Kirche ein bisschen im Dorf lassen. Ich wollte schließlich ein Erdbeben, bei dem sich die Erde wie ein Höllenschlund auftut und das ganze Land verschluckt. Dass zwischen Kolumbien und Peru ein Riesenloch klafft, das mal ein Land war. Und? Ist es so eins geworden? Nein! Also…

Trotzdem freue ich mich wie ein Schneekönig. Über das Leid anderer. Den Tod anderer.

Tu das nicht! Lass das sein! Fass das nicht an! Sag einfach NEIN!

So was tut man ja auch nicht, würde deine Mutter sagen. Und auch dein Vater. Die gleichen Eltern, die ihren einzigen Sohn in der größten Krise seines Lebens eiskalt auf die Straße geschmissen haben. Die gleichen…

Denen es scheißegal war, ob der von der Brücke springt oder nicht

Wär er doch mal gesprungen, dann hätten sie ihn endgültig abstempeln können. Als verrückt. So ist das schon schwieriger. Aber nicht für seine Mutter. Und für seinen Vater erst recht nicht. Das hat der gar nicht nötig.

Aber ein Arschloch bin ich schon. Da haben sie schon so ein bisschen Recht, denkt er, vor Freude und Erregung lächelnd. So ein Erdbeben kompensiert doch einiges. Das ist fast so gut wie der knapp gewordene Sex. Ach, was sage ich da: Allemal besser als der Sex mit Nadine.

Oder doch nicht?! Ach, scheiß doch drauf, dann hab ich eben keinen Sex.

Jetzt werden die bestimmt wieder sammeln, in der spanischen Kirche in Bonn. Für die Erdbebenopfer. Und ihre „Familien“. Da wäre ich gerne dabei. Da wäre ich gerne Mäuschen. Eine Kirchenratte. Dick und groß wie Katzen, stand gestern in der Bild. War allerdings in London. Ja, die Bild bildet. Besonders die Leserkommentare. Aber die haben die ja jetzt abgestellt, in diesem, unserem (noch)n freien Land.

Sie werden alle so tun, als ob das ihnen nicht komplett am Arsch vorbeiginge. Und eine 10-Cent-Münze (weil mal wieder kein kleineres Geld da war!) und einen abgelutschten Knochen in den Sammelkorb in der Kirche werfen. Und sich gut fühlen, beim Fußball. Nur du wirst anders denken. Du wirst der Einzige sein, dem das wirklich nicht am Arsch vorbeigeht. Aber du kannst ja auch nichts spende, als katzengroße Kirchenratte.

Das ist schon komisch. Mal warten, ob María morgen was sagt. Lass sie ruhig mal kommen. Du musst nicht immer mit der Tür ins Haus fallen.


…und das, wo du heute dachtest, deinen Schwager, den lieben Rafael – den du anders als Nadine nicht heiß, sondern eiskalt hasst – gesehen zu haben. Der, mit dem sie damals was hatte. Eine innige Beziehung zu ihrer „Familie“. Dem Mann ihrer Schwester. Der jeden Tag zum Duschen und zum Essen und zum…kam (nur, falls sie das noch nicht wussten). An der Haltestelle in Ippendorf. Aber vielleicht war das auch jemand anders. Du hast ihn ja schließlich jahrelang nicht mehr gesehen. Bestimmt ist er gealtert

sein Penis geschrumpft. Sein Riesending

…aber ein Latino war das auf jeden Fall. So ein Indio. Wie Rafael. Du dachtest schon jetzt wollte er dir endgültig an den Kragen. Für den netten Brief, den du seiner Familie hast zukommen lassen (nein, das war kein Schmähbrief, sondern ein Liebesbrief; an seine Schwester, seinen Bruder…)

Komische Zufälle gibt’s: Da wünscht man sich Erdbeben und sieht seinen Schwager an der Haltestelle.


So langsam begreife selbst ich es: Hass ist stärker als Gleichgültigkeit


Und genau in diesem schreit einer der Kommentatoren auf Radio Nacional España Goooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooool