Montag, 4. April 2016

Das ist dein Leben








An einem Sonntagmorgen sitzt er auf der Arbeit in seinem Kabuff und denkt: Ja genau, das ist dein Leben.

Das heißt, er denkt es nicht, sondern es schallt aus dem Radio.

Ja genau, das ist dein Leben…

…du wirst es nie verstehen

Echt nicht. Deutsche sind so langweilig.

Es liegt nicht am Text. Nein, der Text ist gut, könnte von ihm sein. Es ist nicht der Text. Es ist diese Stimme, diese Tonlage. Der – wer auch immer das ist – singt fast so als könnte man trotz des Textes das Leben verstehen. Oder so als wär ihm das egal, als würde er nicht daran glauben, das man das Leben nicht verstehen kann. Nicht rationalisieren kann. Oder wäre von seinem eigenen Text gelangweilt. Würde doch an die Objektivierbarkeit des Lebens glauben. Trotz dem, was er sagt. Ach, was weiß ich denn. Auf jeden Fall ist was faul im Staate Deutschland.

            wahrscheinlich hast du genau die gleiche Tonlage, wenn du sprichst

Bestimmt.

Du brauchst etwas Neues. Du wirst hier nicht mehr glücklich.

Ja, das ist dein Leben

Er sitzt im Kassenhäuschen und macht die Kasse. Es ist noch kein Kunde in der „Halle“, denn es ist noch nicht neun. Es ist ein Sonntagmorgen und

das ist dein Leben

Das läuft jetzt nicht mehr. Zum Glück. Das ist ja nicht auszuhalten (fast so wie dein Leben). Nein, jetzt läuft: Somewhere over the rainbow. Boah, geil, ohne Worte, wirklich. Oder doch: Fucking hell.

Somewhere…over the rainbow…

Das ist so typisch für Deutschland. wir sind hier alle wahrscheinlich schon zu Lebzeiten ein bisschen over the rainbow. Wir waren mal Jenseits von Gut und Böse und jetzt sind wir eben over the rainbow. Schon lange. Immerhin hatten wir über 70 Jahre, um zu üben, um dieses Gefühl zu kultivieren. Uns zu kultivieren.

Radio Bonn-Rhein-Sieg ist so typisch für Deutschland.

Er geht auf die Seite des „Schaufensters“, der kostenlosen Zeitung, die jede Woche einen Super-Zehner in Bonn in Umlauf bringt. Diese Woche ist der immerhin 2525 € wert. Immerhin. Aber r hat ihn nicht in der Kasse.

Auf dem Cover der anderen kostenlosen Zeitung im Raum Bonn, der „Wochenende“, ist ein Tierschädel abgebildet. Von einer Kuh oder einer Antilope, was weiß ich. Wie im Wilden Westen. Zumindest der Westen stimmt ja, obwohl der weiße Schädel in Deutschland eher nach Todestrieb als nach Wilder Westen aussieht.

Der natürlich total lockere, total entspannte, total vernünftige Sprecher. Faselt irgendetwas von einem Vivarium. In Dusiburg?

Familienkarte für

leckt mich am Arsch!


Oder ist das nicht nur in Deutschland so, sondern überall?

In der gesamten „Westlichen Welt“?

Aber in Deutschland ist das schon besonders ausgeprägt, das muss man schon sagen. Diese Objektivität, diese Rationalität, diese Vernunft, diese Lockerheit und so weiter. Die man nur schwer zu fassen kriegt. Wir hatten – wie gesagt – über 70 Jahre, um sie zu perfektionieren. Um uns auf eine höhere Ebene menschlicher Existenz zu heben

…von der wir nun herabgucken, auf all die anderen dort unten im Tal. Im Tal der Tränen.

Plötzlich kommt ihm dieser Gedanke: Ich weiß jetzt, dass ich das überleben werde.[1]

Aber ist das genug?


Wenig später füllt sich die „Halle“ langsam mit Menschen, die entweder versuchen ihre innere Leere – die bestimmt nicht nur in Deutschland vorkommt, aber hier doch stärker ausgeprägt ist – wegzuspielen oder wegzusurfen.

Ein Stammkunde kommt an die Theke. Der Hamburg-Fan. Der ist nett. Er zeigt nach draußen zum Bahnhof auf der anderen Straßenseite und sagt: „Den nehm ich gleich auch, den Zug, den Zug nach Ahrbrück. Hier in Bonn ist ja nichts los. Ist ja total tot hier. In Ahrbrück…“

„Echt…? Das ist mehr los…?“

„Ja, viel mehr.“

Wenn selbst der mit seinen 60 Jahren sagt, dass in Bonn nichts los ist, was soll er dann sagen. Mit seinen 25 Jahren, haha.

Wenn selbst in Ahrbrück (laut Wikipedia 1.218 Einwohner, Stand 03.04.16 – wir wollen ja korrekt sein) mehr los ist als in Bonn (309.869 Einwohner – ibid. [Korrekt, ey, Bruder, immer korrekt, Bruder!]), dann… (bitte vervollständigen!).


Diese Tante kommt rein. Diese Deutsche. Die, die nie Trinkgeld gibt. Aber irgendwas hat. Die, die er vielleicht auch „ficken“ würde.

Ach, lüg doch nicht!

Ok, ok: Die er im Moment ganz sicher „ficken“ würde.

Ficken, bumsen, blasen…

Die, an die er gedacht hat, als er sich letztens auf der Toilette einen runtergeholt hat.

Irgendwas muss die ja haben…


Keine Ahnung, was es ist.


Morgen gibt’s Frikadellen. Fickadellen. Fikdellen in der Pfanne. Auf Toast. Vielleicht sogar mit Käse. Butterkäse.


[1] „Überleben“ bedeutet in diesem Kontext etwa soviel wie „Der würde wahrscheinlich sogar den Atomkrieg überleben.“