Dienstag, 22. Dezember 2015

Es gibt keine Zufälle - oder doch?



20.12.15






Ich liebe Nadinita.
Aber sie liebt mich nicht.
Das ist ja die Scheiße.


***


Als er nachts aus der Spielhalle kommt, hat er mal wieder sowas von die Schnauze voll. Das kann man gar nicht in Worte fassen, was er fühlt. Er will einfach nur weg. Weg aus Bonn, weg aus Deutschland, weg von diesem Planeten. Er will einfach nur Ruhe haben. Und er ist wütend. Obwohl im Moment seine Enttäuschung überwiegt. Das ist nicht immer so. Seine Enttäuschung über ein total verkorkstes Jahr, das nicht enden will. Und selbst wenn es dann irgendwann in 11 Tagen endet, wird das neue bestimmt nicht besser. Das weiß er jetzt schon. Das Einzige, das passiert, ist, dass man älter wird. Man wird nicht klüger, das Leben wird nicht leichter und die Scheiß-Scheidung ebensowenig. Er fühlt sich wie ein Gefangener in diesem Land, in diesem Leben. Das ist nicht das, was er will. Was er sich vom Leben erwartet hat. Er will einfach nur weg. Am besten weit weg von diesem ganzen Schlamassel. So, wie Beckenbauer das damals gemacht hat, als er sich von seiner Frau getrennt hat und in die USA gegangen ist. Aber du bist nicht Beckenbauer! sagt er sich halb bitter, halb schmunzelnd.


Ich weiß.

Er schließt die Halle ab und geht nach links, die Straße am Bahnhof entlang, um vorne in die U-Bahn einzusteigen. Er guckt dann immer, ob er noch irgendwo Pfandflaschen finden kann. Peinlich, ich weiß, aber was macht man nicht alles Peinliches, wenn man getrennt ist. Ein paar Leute kommen ihm im Dunkeln entgegen, aber er guckt weiter nur auf den Boden. Letztens hat er hier zwei Flaschen à 25Cent gefunden. Ich weiß, das sind im Endeffekt nur 50 Cent, aber 50 Cent sind 50 Cent. Was für eine bestechende Logik!

Er kommt an der Tiefgarage vorbei, dann an der Durchfahrt zum Innenhof hinter den Geschäften geht. In der Durchfahrt steht ein Auto. Das allein wäre ja nichts Besonderes, aber es ist tatsächlich ein bordeauxfarbener Polo – genau so einer wie Nadine ihn hat. So einen hat er seit Wochen schon nicht mehr gesehen, obwohl er, immer wenn er einen Polo sieht, ganz genau hinschaut.

Das tut er jetzt auch, und bemerkt, dass das Nummernschild…Scheiße…das ist Nadines Auto! BN - ** -***. Eindeutig. Da gibt es überhaupt keine Zweifel.

Oder doch?

Was macht denn Nadines Auto hier in Tannenbusch?

Scheiße. Er guckt noch mal hin, liest die Nummer noch mal.

Ne, das ist Nadines Nummer.

Ach, du Scheiße…

Was macht denn Nadine hier. Er bleibt stehen. Vor dem Auto kniet ein Typ mit Wollmütze vor der offenen Beifahrertür. Er kniet vor einem Mädchen, das auf dem Beifahrersitz sitzt, mit den Beinen nach draußen. Der Typ sagt irgendwas, dass er nicht versteht. Dafür ist er zu weit weg. Er selbst steht immer noch vor dem Eingang der Durchfahrt und weiß nicht recht, was er tun soll. Aber das ist eindeutig Nadines Auto. Hier in Tannenbusch...

Komisch…

Hoffnungsschimmer wechseln sich in seinem Kopf mit Horrorvisionen ab. Und wer sind die zwei? Der Fahrersitz ist leer. Vielleicht ist ja der Typ der Fahrer.

Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und geht in die Durchfahrt, direkt auf das Auto und das seltsame Pärchen zu. Langsam geht er an den beiden vorbei, wirft einen flüchtigen Blick in das Innere des Autos. Aber da ist außer den beiden niemand. Nichts zu sehen,. Außer, dass die Scheibe auf der Beifahrerseite eingeschlagen worden ist und notdürftig mit gelbem Tape geflickt ist. Das sieht man ganz genau. Das war damals nicht so – als ich noch mit Nadine zusammen war. Als wir noch zusammen in diesem Auto gefahren sind. Sie neben mir. Ich kann auch nicht erkennen, ob das Kissen auf dem Fahrersitz liegt, das Nadine immer benutzt hat, weil sie zu klein war.

Als er näherkommt, hört er, wie das Mädchen „Nein“ sagt. So als wollte sie sagen: Das mach ich nicht! Fast heulend, fast flehentlich. Komisch. Der Typ, der vor ihr kniet ist ein Ausländer, einer dieser jungen Araber, die es hier in Tannenbusch zu Hauf gibt. Das Mädchen sieht deutsch aus, hat blonde Haare und einen kurzen Pony. Mehr sieht er nicht. Denn der Typ, der vor dem Mädchen auf dem Beifahrersitz kniet, guckt zu einen Moment lang ihm hoch, guckt ihn komisch an. Das Einzige, was er sehen kann, ist das außer den beiden niemand im Auto ist. Aber vielleicht guckt der auch nur so, weil sein Blick um die Uhrzeit bestimmt nicht so freundlich rüberkommt. Oder weil er so verdutzt, entgeistert guckt. So als hätte er einen Geist gesehen. Hat er ja auch! Jeden Moment erwartet er, dass Nadine lächelnd aus der Dunkelheit auftaucht. Aber obwohl er seinen Laptop dabei hat, ist es ihm im Endeffekt egal, wie der guckt. Ich bin hier in Tannenbusch, denkt er. Hier fuckt mich keiner ab. Außer vielleicht mein Chef. Er geht weiter, an dem Auto vorbei und tut so, als würde er gucken wollen, ob die andere Spielalle noch auf ist. Er entfernt sich ein paar Meter von dem Auto, guckt demonstrativ zum Rolltor der Spielhalle – von dem er natürlich ganz genau weiß, dass es um die Uhrzeit geschlossen ist – und kommt dann wieder zurück. Zurück zur Durchfahrt, in der das Auto steht. Er guckt sich das Auto ganz genau von hinten an. Das ist eindeutig das Auto von Nadine BN - ** - ***. Das ist ihre Nummer. 100%. Wie oft hat er bei seinen wenigen lächerlichen Stalkingversuchen genau nach dieser Nummer Ausschau gehalten. Er versucht zu erkennen, ob der hinten noch immer die gleichen Schäden an der Stoßstange hat. Da war eine Delle, wo sie den Unfall hatte.

Dann wäre es ganz klar ihr Auto.

Aber so sehr er sich auch anstrengt und unter dem wachsamen Auge des Typen anstrengen kann, er sieht nichts. Was bei dieser Dunkelheit nicht heißt, dass die Delle nicht da ist. Die ist bestimmt da. Er kommt wieder – in gebührendem Abstand an dem Auto und seinen beiden Insassen vorbei. Er guckt es sich an. Ein Fahrer ist nicht zu sehen. Nicht, dass…

Nein, das ist Quatsch!

Das kann ja gar nicht sein!

Nicht, dass sich Nadine hier irgendwo befindet. Sich irgendwo versteckt.

Tausende Gedanken schießen mir durch den Kopf, als er weitergeht. Was hat Nadine mit diesem komischen Pärchen zu tun? Oder warum fahren die ihr Auto? Hat sie es etwa verkauft? Warum sollte sie das tun, wenn sie noch TÜV hat? Oder wurde ihr das Auto geklaut? Denn warum ist die Scheibe der Beifahrertür kaputt?

Was wollte das Mädchen nicht? Und warum hat der Typ sie so bedrängt?

Oder ist das Ganze nur ein Zufall?

 Aber das war ihr Auto!

Es gibt keine Zufälle, denkt er spontan.

Es gibt keine Zufälle.

Wo hat er das noch mal gehört?

In diesem Mafia-Film, glaub ich.

Aber stimmt das auch?

Was macht ihr Auto hier, um diese Uhrzeit. Quasi vor seiner Haustür. Sie weiß ganz genau, dass er samstags immer Spätschicht hat.

Und wer sind diese beiden. Dieser komische Typ mit der Mütze, der das Mädchen zu irgendetwas überreden wollte, das es offensichtlich nicht wollte.

Mannomann, du wirst noch bekloppt, denkt er.

Aber das ist ihr Auto. Die gleiche Nummer. Das kann doch nicht sein. Am liebsten würde er zurückgehen und den Typen fragen, woher er das Auto hat. Wenn es seins ist. Aber stattdessen geht er weiter die Straße entlang zur U-Bahn. Trifft auf dem Weg noch diesen Typen, diesen reichen Araber, den er aus der Spielhalle kennt. Abu irgendwas. Er lächelt ihn schmierig an und sagt Hallo.

Was hat das zu bedeuten. Das ist bestimmt kein Zufall. Ist Nadine das Auto geklaut worden. Indem  die Täter die Scheibe eingeschlagen und es kurzgeschlossen haben. Wie im Film. Sowas gibt es nur im Film. Wer weiß. Hier in Tannenbusch. In Deutschland werden auch Autos geklaut. Oder hat sie es verkauft? Und wenn ja, warum? Hat sie kein Geld mehr? Oder ein neues Auto? Und warum treffe ich genau hier, um 1 Uhr nachts, quasi direkt vor meiner Arbeit in einer dunklen Durchfahrt auf ihr Auto? Das kann doch nicht sein…

Das kann doch kein Zufall sein.

Wie damals, einen Tag nach der Trennung, als er sich vorgenommen hat, ihr Auto zu finden, selbst wenn er in ganz Bonn danach suchen müsste…und es keine fünf Minuten, nachdem er in Kessenich, dem Stadtteil seiner Eltern, aus der Bahn ausgestiegen war, gefunden hatte. An einer Haltestelle, an der er seit Jahren nicht mehr ausgestiegen war. Einem Instinkt folgend. Einer Eingebung.

Zufall?

Oder etwas anderes…

Und das, wo er gerade beschlossen hatte, mit dem ganzen leidigen Thema abzuschließen, wegzugehen neu anzufangen. Da sah er ihr Auto. Unglaublich! Und plötzlich war alles wieder da, so als wäre es gestern passiert… so als könnte er tun und lassen, was er wollte, er würde sie nicht loswerden.

Hatten die ihr etwa das Auto geklaut. Oder was war da los. Und was machte der reiche Araber im Anzug, der ihn gegrüßt hatte, genau in diesem Moment da. Sollte das Mädchen etwa…?

„Wenn der in den Puff geht, dann will der bestimmt nicht nur, dass die ihm aus dem Koran vorlesen…“, hatte Rudolf gesagt.

Er hatte schon immer so einen Verdacht gehabt. Dass auf seiner Arbeit, mit seinen Kunden, diesen reichen Arabern, nicht alles mit rechten Dingen zugehen konnte. Das war der gleiche Verdacht, den er bei Nadine gehabt hatte. Sie hatte ihm ja auch keine Erklärungen gegeben. Nie. Da musste er ja verrückt werden. Sachen denken…

Und obwohl ihn die Gedanken nicht losließen nahm er an der Ecke zur Rathausstraße die Rolltreppe zur U-Bahn runter. Ohne zurückzugucken. Aber das war auch…

…komisch…

Komisch.

Komisch.

Ihm lief ein leichter Schauer über den Rücken. Was hatte das zu bedeuten. Das war ihr Auto. Und das hier.

Trotzdem guckte er auf dem Weg in die U-Bahn-Station in den Mülleimern nach Flaschen.
Komisch. Ihm ist ganz komisch. Dieses arme Mädchen, das in dem Auto saß. Das zu irgendetwas nein gesagt hat.

Und dieser Ausländer, der sie bekniet hat.

Was zu tun…?

Die eingeschlagene Scheibe, die nur notdürftig repariert worden ist…

Das war einmal Nadines Auto. Hatte Nadine etwa einen Unfall, oder was?! Hat sie das Fahren drangegeben?! Und fährt jetzt nur noch mit Bus und Bahn? Ein Job-Ticket hat sie ja.
Ist das ein Zufall, dass du das Auto gerade jetzt siehst? Dieses Auto verfolgt dich echt….
Oder hat sie es verkauft, hat jetzt ein anderes.

Ach, vergess es einfach. Du bist von ihr getrennt. Schon 9 Monate. Du hast jetzt gar nichts mehr mit ihr zu tun.

Deine Gedanken überschlagen sich förmlich. Er ist zwar in der U-Bahn-Station angekommen, aber als er auf dem Display sieht, dass er noch 9 Minuten hat, bis seine Bahn kommt, halten ihn keine zehn Pferde hier unten. Schnurstracks geht er auf der anderen Seite wieder hoch. Das reicht locker. Für eine weitere Runde. Was soll der Typ schon sagen, wenn er ihn noch mal sieht. Egal, ich drehe nur noch eine Runde. Weil ich noch Zeit hab, bis meine Bahn kommt. So kommt er praktisch wieder vor seiner Arbeit raus. Da, wo er eben auch so voller Enttäuschung losgegangen ist. Er nimmt die Rolltreppe nach oben und geht an der Spielhalle vorbei, in der er arbeitet. Geht wachsam, aber schnellen Schrittes, weiter, ohne darüber nachzudenken, was er macht, wenn das Auto immer noch dasteht. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wieder kommt er an dem dunklen Eingang zur Tiefgarage vorbei, diesem schwarzen Loch, vor dem er sonst immer ein bisschen Angst hat.
Heute hat er mehr Angst vor der Durchfahrt, die jetzt keine 20 Meter mehr entfernt ist.
Doch als er an ihr vorbeikommt, ist das Auto weg. Er guckt sich noch mal um, sozusagen zur Sicherheit, so als hätte es sich doch hier irgendwo versteckt, so als würde er nicht glauben, was er hier sieht.

In den Innenhof selbst – mit seinem recht weitläufigen, kleinen Park geht er nicht hinein. Später wird er das bereuen.

Aber es steht nicht mehr da. Es ist gefahren. Während er in der U-Bahn war. Scheiße, Mann. Aber was hätte ich schon tun sollen. Den Fahrer fragen, von wem er das Auto hat. Nachts um eins, in Tannenbusch?!Was wär schon dabei herausgekommen. Etwas, das ihn auf noch weitere Gedanken gebracht hätte. Und noch mehr Gedanken sind das Letzte, was er jetzt braucht.

Immer wieder mischt sich zwischen seine Gedanken eine Frage: Und wenn das seine Tochter war, die der Typ bekniet hat? Aber die war doch blond. Und wenn das eine Perücke war…? Aber er hätte doch seine Tochter im Dunkeln erkannt…

…oder nicht?

Quatsch.

Blödsinn.

Am Ende bleibt ihm nichts anderes übrig, als wieder nach unten zu gehen und die U-Bahn nach Bonn zu nehmen.

Und keiner sagt mir, was wirklich Sache ist, denkt er, als er in der U-Bahn sitzt, aus Sicherheitsgründen direkt hinter der Fahrerkabine.

Irgendwo an der Museumsmeile steigen zwei junge Typen zu und setzen sich neben ihn. Der eine - der mit dem Kappy – erzählt dem anderen, was er macht, wenn er nach Hause kommt:

„Bei Gott, ich werd nur hola, hola sagen und dann direkt in mein Zimmer gehen.“

HOLA?????

„Ich war mit Carlos in der Stadt…“

Jetzt weiß ich, warum er hola sagt. Aber er redet wie ein Türke oder Araber. Aber Türken und Araber sagen nicht hola.

Boah, für heute hab ich echt die Schnauze voll von Zufällen.

 „…ich fick die…“

„…lass mal mit Timo Playsi zocken…“

Der Rest der Fahrt verläuft ereignislos. Keine Zufälle mehr. Zum Glück.

Aber kaum ist er in der Bonner Innenstadt ausgestiegen und läuft nichtsahnend in Richtung Busbahnhof, kommt ihm eine Gruppe junger Männer – diesmal deutscher Herkunft – entgegen, die laut reden, lachen. Der eine sagt: „Und dann meinte der: Du kannst auch Nein sagen! Und dann das Mädchen: Ja dann: NEIN!“

Was ist Zufall? Werde ich bekloppt oder gibt es einen Grund? Einen Grund für all das? Oder ist all das nur das Produkt eines letztendlich sinnlosen Universums?

In dem Zufälle passieren, aber keine Bedeutung haben. Von keinerlei Bedeutung sind.
Ich glaube nicht an Zufälle. Und gleichzeitig denke ich, dass das ganze Leben ein einziger Zufall ist.

Oder ist es das nicht?

Wenn ich nicht wüsste, dass es keine Matrix gibt, würde ich mich jetzt echt fühlen wie in der Matrix.

Trotzdem: Irgendwas ist da faul. Aber das wusste ich ja schon immer. Das hatte ich ja schon immer geahnt.

Du hättest die ja wohl erkannt, wenn das deine Tochter gewesen wäre. Mit ihrem Freund. Von dem sie dir noch nichts erzählt hat. Ganz die Mutter. Bestimmt hättest du das gemerkt. Die war zwar auch relativ klein, aber blond. Eindeutig. So eindeutig wie das ihr Auto war. Und wenn sie eine Perücke aufhatte…? Warum sollte sie eine Perücke tragen…? Wenn sie in Gefahr war und du nichts gemacht hast…? Sie noch nicht mal erkannt hast…? Du erkennst doch aus zwei Meter Entfernung deine Tochter… So blind bist selbst du nicht…

Oder?

Fuck. I’m cracking up. Somebody help me. Please.

Boah, ich brauche echt Urlaub. Hab aber kein Geld. Besonders jetzt nicht, wo ich getrennt bin…