20.12.15
Ich liebe Nadinita.
Aber sie liebt mich nicht.
Das ist ja die Scheiße.
***
Als er nachts aus der
Spielhalle kommt, hat er mal wieder sowas von die Schnauze voll. Das kann man
gar nicht in Worte fassen, was er fühlt. Er will einfach nur weg. Weg aus Bonn,
weg aus Deutschland, weg von diesem Planeten. Er will einfach nur Ruhe haben. Und
er ist wütend. Obwohl im Moment seine Enttäuschung überwiegt. Das ist nicht
immer so. Seine Enttäuschung über ein total verkorkstes Jahr, das nicht enden
will. Und selbst wenn es dann irgendwann in 11 Tagen endet, wird das neue
bestimmt nicht besser. Das weiß er jetzt schon. Das Einzige, das passiert, ist,
dass man älter wird. Man wird nicht klüger, das Leben wird nicht leichter und
die Scheiß-Scheidung ebensowenig. Er fühlt sich wie ein Gefangener in diesem
Land, in diesem Leben. Das ist nicht das, was er will. Was er sich vom Leben
erwartet hat. Er will einfach nur weg. Am besten weit weg von diesem ganzen
Schlamassel. So, wie Beckenbauer das damals gemacht hat, als er sich von seiner
Frau getrennt hat und in die USA gegangen ist. Aber du bist nicht Beckenbauer!
sagt er sich halb bitter, halb schmunzelnd.
Ich weiß.
Er schließt die Halle ab und
geht nach links, die Straße am Bahnhof entlang, um vorne in die U-Bahn
einzusteigen. Er guckt dann immer, ob er noch irgendwo Pfandflaschen finden
kann. Peinlich, ich weiß, aber was macht man nicht alles Peinliches, wenn man
getrennt ist. Ein paar Leute kommen ihm im Dunkeln entgegen, aber er guckt
weiter nur auf den Boden. Letztens hat er hier zwei Flaschen à 25Cent gefunden.
Ich weiß, das sind im Endeffekt nur 50 Cent, aber 50 Cent sind 50 Cent. Was für
eine bestechende Logik!
Er kommt an der Tiefgarage
vorbei, dann an der Durchfahrt zum Innenhof hinter den Geschäften geht. In der
Durchfahrt steht ein Auto. Das allein wäre ja nichts Besonderes, aber es ist
tatsächlich ein bordeauxfarbener Polo – genau so einer wie Nadine ihn hat. So
einen hat er seit Wochen schon nicht mehr gesehen, obwohl er, immer wenn er
einen Polo sieht, ganz genau hinschaut.
Das tut er jetzt auch, und
bemerkt, dass das Nummernschild…Scheiße…das ist Nadines Auto! BN - ** -***.
Eindeutig. Da gibt es überhaupt keine Zweifel.
Oder doch?
Was macht denn Nadines Auto
hier in Tannenbusch?
Scheiße. Er guckt noch mal
hin, liest die Nummer noch mal.
Ne, das ist Nadines Nummer.
Ach, du Scheiße…
Was macht denn Nadine hier.
Er bleibt stehen. Vor dem Auto kniet ein Typ mit Wollmütze vor der offenen
Beifahrertür. Er kniet vor einem Mädchen, das auf dem Beifahrersitz sitzt, mit
den Beinen nach draußen. Der Typ sagt irgendwas, dass er nicht versteht. Dafür
ist er zu weit weg. Er selbst steht immer noch vor dem Eingang der Durchfahrt
und weiß nicht recht, was er tun soll. Aber das ist eindeutig Nadines Auto.
Hier in Tannenbusch...
Komisch…
Hoffnungsschimmer wechseln
sich in seinem Kopf mit Horrorvisionen ab. Und wer sind die zwei? Der
Fahrersitz ist leer. Vielleicht ist ja der Typ der Fahrer.
Er nimmt seinen ganzen Mut
zusammen und geht in die Durchfahrt, direkt auf das Auto und das seltsame
Pärchen zu. Langsam geht er an den beiden vorbei, wirft einen flüchtigen Blick
in das Innere des Autos. Aber da ist außer den beiden niemand. Nichts zu
sehen,. Außer, dass die Scheibe auf der Beifahrerseite eingeschlagen worden ist
und notdürftig mit gelbem Tape geflickt ist. Das sieht man ganz genau. Das war
damals nicht so – als ich noch mit Nadine zusammen war. Als wir noch zusammen
in diesem Auto gefahren sind. Sie neben mir. Ich kann auch nicht erkennen, ob
das Kissen auf dem Fahrersitz liegt, das Nadine immer benutzt hat, weil sie zu
klein war.
Als er näherkommt, hört er,
wie das Mädchen „Nein“ sagt. So als wollte sie sagen: Das mach ich nicht! Fast
heulend, fast flehentlich. Komisch. Der Typ, der vor ihr kniet ist ein
Ausländer, einer dieser jungen Araber, die es hier in Tannenbusch zu Hauf gibt.
Das Mädchen sieht deutsch aus, hat blonde Haare und einen kurzen Pony. Mehr
sieht er nicht. Denn der Typ, der vor dem Mädchen auf dem Beifahrersitz kniet,
guckt zu einen Moment lang ihm hoch, guckt ihn komisch an. Das Einzige, was er
sehen kann, ist das außer den beiden niemand im Auto ist. Aber vielleicht guckt
der auch nur so, weil sein Blick um die Uhrzeit bestimmt nicht so freundlich
rüberkommt. Oder weil er so verdutzt, entgeistert guckt. So als hätte er einen
Geist gesehen. Hat er ja auch! Jeden Moment erwartet er, dass Nadine lächelnd
aus der Dunkelheit auftaucht. Aber obwohl er seinen Laptop dabei hat, ist es
ihm im Endeffekt egal, wie der guckt. Ich bin hier in Tannenbusch, denkt er.
Hier fuckt mich keiner ab. Außer vielleicht mein Chef. Er geht weiter, an dem
Auto vorbei und tut so, als würde er gucken wollen, ob die andere Spielalle
noch auf ist. Er entfernt sich ein paar Meter von dem Auto, guckt demonstrativ
zum Rolltor der Spielhalle – von dem er natürlich ganz genau weiß, dass es um
die Uhrzeit geschlossen ist – und kommt dann wieder zurück. Zurück zur
Durchfahrt, in der das Auto steht. Er guckt sich das Auto ganz genau von hinten
an. Das ist eindeutig das Auto von Nadine BN - ** - ***. Das ist ihre Nummer.
100%. Wie oft hat er bei seinen wenigen lächerlichen Stalkingversuchen genau
nach dieser Nummer Ausschau gehalten. Er versucht zu erkennen, ob der hinten
noch immer die gleichen Schäden an der Stoßstange hat. Da war eine Delle, wo
sie den Unfall hatte.
Dann wäre es ganz klar ihr
Auto.
Aber so sehr er sich auch
anstrengt und unter dem wachsamen Auge des Typen anstrengen kann, er sieht
nichts. Was bei dieser Dunkelheit nicht heißt, dass die Delle nicht da ist. Die
ist bestimmt da. Er kommt wieder – in gebührendem Abstand an dem Auto und seinen
beiden Insassen vorbei. Er guckt es sich an. Ein Fahrer ist nicht zu sehen.
Nicht, dass…
Nein, das ist Quatsch!
Das kann ja gar nicht sein!
Nicht, dass sich Nadine hier
irgendwo befindet. Sich irgendwo versteckt.
Tausende Gedanken schießen
mir durch den Kopf, als er weitergeht. Was hat Nadine mit diesem komischen
Pärchen zu tun? Oder warum fahren die ihr Auto? Hat sie es etwa verkauft? Warum
sollte sie das tun, wenn sie noch TÜV hat? Oder wurde ihr das Auto geklaut?
Denn warum ist die Scheibe der Beifahrertür kaputt?
Was wollte das Mädchen
nicht? Und warum hat der Typ sie so bedrängt?
Oder ist das Ganze nur ein
Zufall?
Aber das war ihr Auto!
Es gibt keine Zufälle, denkt
er spontan.
Es gibt keine Zufälle.
Wo hat er das noch mal
gehört?
In diesem Mafia-Film, glaub
ich.
Aber stimmt das auch?
Was macht ihr Auto hier, um
diese Uhrzeit. Quasi vor seiner Haustür. Sie weiß ganz genau, dass er samstags
immer Spätschicht hat.
Und wer sind diese beiden.
Dieser komische Typ mit der Mütze, der das Mädchen zu irgendetwas überreden
wollte, das es offensichtlich nicht wollte.
Mannomann, du wirst noch
bekloppt, denkt er.
Aber das ist ihr Auto. Die gleiche Nummer. Das kann
doch nicht sein. Am liebsten würde er zurückgehen und den Typen fragen, woher
er das Auto hat. Wenn es seins ist. Aber stattdessen geht er weiter die Straße
entlang zur U-Bahn. Trifft auf dem Weg noch diesen Typen, diesen reichen
Araber, den er aus der Spielhalle kennt. Abu irgendwas. Er lächelt ihn
schmierig an und sagt Hallo.
Was hat das zu bedeuten. Das
ist bestimmt kein Zufall. Ist Nadine das Auto geklaut worden. Indem die Täter die Scheibe eingeschlagen und es
kurzgeschlossen haben. Wie im Film. Sowas gibt es nur im Film. Wer weiß. Hier
in Tannenbusch. In Deutschland werden auch Autos geklaut. Oder hat sie es
verkauft? Und wenn ja, warum? Hat sie kein Geld mehr? Oder ein neues Auto? Und
warum treffe ich genau hier, um 1 Uhr nachts, quasi direkt vor meiner Arbeit in
einer dunklen Durchfahrt auf ihr Auto? Das kann doch nicht sein…
Das kann doch kein Zufall
sein.
Wie damals, einen Tag nach
der Trennung, als er sich vorgenommen hat, ihr Auto zu finden, selbst wenn er
in ganz Bonn danach suchen müsste…und es keine fünf Minuten, nachdem er in
Kessenich, dem Stadtteil seiner Eltern, aus der Bahn ausgestiegen war, gefunden
hatte. An einer Haltestelle, an der er seit Jahren nicht mehr ausgestiegen war.
Einem Instinkt folgend. Einer Eingebung.
Zufall?
Oder etwas anderes…
Und das, wo er gerade
beschlossen hatte, mit dem ganzen leidigen Thema abzuschließen, wegzugehen neu
anzufangen. Da sah er ihr Auto. Unglaublich! Und plötzlich war alles wieder da,
so als wäre es gestern passiert… so als könnte er tun und lassen, was er
wollte, er würde sie nicht loswerden.
Hatten die ihr etwa das Auto
geklaut. Oder was war da los. Und was machte der reiche Araber im Anzug, der
ihn gegrüßt hatte, genau in diesem Moment da. Sollte das Mädchen etwa…?
„Wenn der in den Puff geht,
dann will der bestimmt nicht nur, dass die ihm aus dem Koran vorlesen…“, hatte
Rudolf gesagt.
Er hatte schon immer so
einen Verdacht gehabt. Dass auf seiner Arbeit, mit seinen Kunden, diesen
reichen Arabern, nicht alles mit rechten Dingen zugehen konnte. Das war der
gleiche Verdacht, den er bei Nadine gehabt hatte. Sie hatte ihm ja auch keine
Erklärungen gegeben. Nie. Da musste er ja verrückt werden. Sachen denken…
Und obwohl ihn die Gedanken
nicht losließen nahm er an der Ecke zur Rathausstraße die Rolltreppe zur U-Bahn
runter. Ohne zurückzugucken. Aber das war auch…
…komisch…
Komisch.
Komisch.
Ihm lief ein leichter
Schauer über den Rücken. Was hatte das zu bedeuten. Das war ihr Auto. Und das
hier.
Trotzdem guckte er auf dem
Weg in die U-Bahn-Station in den Mülleimern nach Flaschen.
Komisch. Ihm ist ganz
komisch. Dieses arme Mädchen, das in dem Auto saß. Das zu irgendetwas nein
gesagt hat.
Und dieser Ausländer, der
sie bekniet hat.
Was zu tun…?
Die eingeschlagene Scheibe,
die nur notdürftig repariert worden ist…
Das war einmal Nadines Auto.
Hatte Nadine etwa einen Unfall, oder was?! Hat sie das Fahren drangegeben?! Und
fährt jetzt nur noch mit Bus und Bahn? Ein Job-Ticket hat sie ja.
Ist das ein Zufall, dass du
das Auto gerade jetzt siehst? Dieses Auto verfolgt dich echt….
Oder hat sie es verkauft,
hat jetzt ein anderes.
Ach, vergess es einfach. Du
bist von ihr getrennt. Schon 9 Monate. Du hast jetzt gar nichts mehr mit ihr zu
tun.
Deine Gedanken überschlagen
sich förmlich. Er ist zwar in der U-Bahn-Station angekommen, aber als er auf
dem Display sieht, dass er noch 9 Minuten hat, bis seine Bahn kommt, halten ihn
keine zehn Pferde hier unten. Schnurstracks geht er auf der anderen Seite
wieder hoch. Das reicht locker. Für eine weitere Runde. Was soll der Typ schon
sagen, wenn er ihn noch mal sieht. Egal, ich drehe nur noch eine Runde. Weil
ich noch Zeit hab, bis meine Bahn kommt. So kommt er praktisch wieder vor
seiner Arbeit raus. Da, wo er eben auch so voller Enttäuschung losgegangen ist.
Er nimmt die Rolltreppe nach oben und geht an der Spielhalle vorbei, in der er
arbeitet. Geht wachsam, aber schnellen Schrittes, weiter, ohne darüber
nachzudenken, was er macht, wenn das Auto immer noch dasteht. Aber dafür ist
jetzt keine Zeit. Wieder kommt er an dem dunklen Eingang zur Tiefgarage vorbei,
diesem schwarzen Loch, vor dem er sonst immer ein bisschen Angst hat.
Heute hat er mehr Angst vor
der Durchfahrt, die jetzt keine 20 Meter mehr entfernt ist.
Doch als er an ihr
vorbeikommt, ist das Auto weg. Er guckt sich noch mal um, sozusagen zur
Sicherheit, so als hätte es sich doch hier irgendwo versteckt, so als würde er
nicht glauben, was er hier sieht.
In den Innenhof selbst – mit
seinem recht weitläufigen, kleinen Park geht er nicht hinein. Später wird er
das bereuen.
Aber es steht nicht mehr da.
Es ist gefahren. Während er in der U-Bahn war. Scheiße, Mann. Aber was hätte
ich schon tun sollen. Den Fahrer fragen, von wem er das Auto hat. Nachts um
eins, in Tannenbusch?!Was wär schon dabei herausgekommen. Etwas, das ihn auf
noch weitere Gedanken gebracht hätte. Und noch mehr Gedanken sind das Letzte,
was er jetzt braucht.
Immer wieder mischt sich
zwischen seine Gedanken eine Frage: Und wenn das seine Tochter war, die der Typ
bekniet hat? Aber die war doch blond. Und wenn das eine Perücke war…? Aber er
hätte doch seine Tochter im Dunkeln erkannt…
…oder nicht?
Quatsch.
Blödsinn.
Am Ende bleibt ihm nichts
anderes übrig, als wieder nach unten zu gehen und die U-Bahn nach Bonn zu
nehmen.
Und keiner sagt mir, was
wirklich Sache ist, denkt er, als er in der U-Bahn sitzt, aus
Sicherheitsgründen direkt hinter der Fahrerkabine.
Irgendwo an der Museumsmeile
steigen zwei junge Typen zu und setzen sich neben ihn. Der eine - der mit dem
Kappy – erzählt dem anderen, was er macht, wenn er nach Hause kommt:
„Bei Gott, ich werd nur hola, hola sagen und dann direkt in mein
Zimmer gehen.“
HOLA?????
„Ich war mit Carlos in der
Stadt…“
Jetzt weiß ich, warum er hola sagt. Aber er redet wie ein Türke
oder Araber. Aber Türken und Araber sagen nicht hola.
Boah, für heute hab ich echt
die Schnauze voll von Zufällen.
„…ich fick die…“
„…lass mal mit Timo Playsi
zocken…“
Der Rest der Fahrt verläuft
ereignislos. Keine Zufälle mehr. Zum Glück.
Aber kaum ist er in der
Bonner Innenstadt ausgestiegen und läuft nichtsahnend in Richtung Busbahnhof,
kommt ihm eine Gruppe junger Männer – diesmal deutscher Herkunft – entgegen,
die laut reden, lachen. Der eine sagt: „Und dann meinte der: Du kannst auch
Nein sagen! Und dann das Mädchen: Ja dann: NEIN!“
Was ist Zufall? Werde ich
bekloppt oder gibt es einen Grund? Einen Grund für all das? Oder ist all das
nur das Produkt eines letztendlich sinnlosen Universums?
In dem Zufälle passieren,
aber keine Bedeutung haben. Von keinerlei Bedeutung sind.
Ich glaube nicht an Zufälle.
Und gleichzeitig denke ich, dass das ganze Leben ein einziger Zufall ist.
Oder ist es das nicht?
Wenn ich nicht wüsste, dass
es keine Matrix gibt, würde ich mich jetzt echt fühlen wie in der Matrix.
Trotzdem: Irgendwas ist da
faul. Aber das wusste ich ja schon immer. Das hatte ich ja schon immer geahnt.
Du hättest die ja wohl
erkannt, wenn das deine Tochter gewesen wäre. Mit ihrem Freund. Von dem sie dir
noch nichts erzählt hat. Ganz die Mutter. Bestimmt hättest du das gemerkt. Die
war zwar auch relativ klein, aber blond. Eindeutig. So eindeutig wie das ihr Auto war. Und wenn sie eine Perücke
aufhatte…? Warum sollte sie eine Perücke tragen…? Wenn sie in Gefahr war und du
nichts gemacht hast…? Sie noch nicht mal erkannt hast…? Du erkennst doch aus zwei
Meter Entfernung deine Tochter… So blind bist selbst du nicht…
Oder?
Fuck.
I’m cracking up. Somebody help me. Please.
Boah, ich brauche echt
Urlaub. Hab aber kein Geld. Besonders jetzt nicht, wo ich getrennt bin…