Der Wunsch zu
heulen, einfach loszuheulen ist so stark, so ausgeprägt, so drängend, dass du
nicht weißt, ob du es schaffst, ihm zu widerstehen. Du willst einfach nur
losheulen, aber du tust es nicht. Nicht hier, nicht jetzt, obwohl du so gerne
würdest…
Du hast heute
sogar eine U-Bahn früher erwischt, so dass du schon um fünf nach eins in Bonn
bist. Du guckst dich um, ob jemand hinter dir ist, ob jemand hinter dir
ausgestiegen ist, hastest die Treppen der U-Bahn hoch, da wo die Penner
schlafen, die Obdachlosen, am Hofgarten, und die Junkies sich einen Schuss
setzen, vielleicht sogar den goldenen, neben der Treppe nach oben, aber heute
sind da nur wenige Schlafsäcke links an der Wand, wo es runter Richtung
Godesberg geht. Gehst schnell über den dunklen Vorplatz zum Hofgarten, das ist
gefährlich hier, die verkaufen hier Drogen und tun sonst was, aber heute ist
niemand hier, niemand zu sehen. Nur der leichte Nieselregen, die Nacht und du.
Am Kaiserbrunnen vorbei, wo die Skater und Punks abhängen, aber auch hier
niemand, außer Puste, du hast nur noch zwei Minuten, wenn um fünf nach wirklich
ein Bus fährt, dann hast du nur noch zwei Minuten, aber als du endlich am
Busbahnhof ankommst, siehst du, dass da kein Bus ist. Nur einer, die 640, aber
der fährt auf die andere Rheinseite, glaub ich. Sonst nichts. Ein paar Araber,
da hinten, am alten U-Bahn-Untergang, wo am Tag immer die Heroin-Abhängigen
rumhängen, bei den Schildern mit den Busfahrplänen. Die reden voll laut, die
beiden Araber. Warum reden die immer so laut? Ist das die Kultur? Du gehst an
den roten, vom Regen ganz nassen Bänken entlang, weil du noch über 25 Minuten
hast, aber du siehst nur eine Ratte, die vor dir weghuscht, aber dann sogar ein
Stückchen, ein paar Meter parallel zu dir läuft, so als wolle sie dich auf
deinem Weg begleiten. Du beobachtest das grau-braune, dreckig wirkende, relativ
große Tier. Bah! Widerlich! Auf der anderen Seite des SWB-Gebäudes, in dem sich
auch der Warteraum der Busfahrer und die Auskunft befindet, siehst du eine
Taube, hast Angst, dass die Ratte noch irgendwo ist, dir vielleicht sogar über
den Weg laufen könnte, dich angreifen könnte, was weiß ich. Aber die haben doch
Angst vor Menschen. Aber wer weiß, wenn die sich in die Enge getrieben fühlt. Aber
hier ist nur eine Taube, eine weiße, mit grauen Flecken, die seelenruhig vor
dir herläuft, keine Angst hat. Ratten und Tauben sind die einzigen Tiere, die
hier überleben, in diesem Drecksloch von Stadt. Wie hat das Mike Tyson in
diesem Film mal gesagt: „Tauben sind die Ratten der Lüfte!“ Wieder lachen die
Araber, reden. Über was lachen die eigentlich immer? Über die Welt? Über das
Leben? Über Deutschland? Wenn die jetzt zu dir rüberkommen, hast du keinen, der
dich verteidigen könnte, den hier ist keine Menschenseele. Und obwohl du am
ganz anderen Ende des Busbahnhofs stehst, wären die ganz schnell hier, wenn die
wollten… Da hast du keine Chance. Obwohl die bestimmt nicht rüberkommen, weil
du aussiehst wie ein Penner, in deiner alten, löchrigen Armee-Jacke von Tom
Taylor. Deiner alten, ebenso löchrigen No-Name-Trainingshose, die du wegen des
Lochs im Schritt andersherum angezogen hast. Mit der Vorderseite nach hinten.
Und die deswegen leicht durchhängt. Aber was soll ich denn anziehen, wenn ich
nachts bei Wind und Wetter durch den Wald nach Hause laufen muss…?! Eine
normale Jeans? Dann scheuerst du die nur wieder
zwischen den Beinen durch. Wie viele Hosen du in deinem Leben schon durchgescheuert
hast, unglaublich… Aber du hast eine Laptop-Tasche, die wäre vielleicht für die
interessant, diese Scheiß-Wichser. Aber du hast ja noch das Messer. Das
Küchenmesser in deiner Jacke. Das aber auch ziemlich spitz ist, ziemlich scharf.
Wo sind wir nur hingekommen, in diesem Land…
Du bist so
beklommen, fühlst dich so beklommen, du möchtest einfach nur losheulen,
schluchzen, es rauslassen, es alles rauslassen, all das Leid und die
Traurigkeit, die Frustration…aber du beherrschst dich. Wie immer. Wie schon
dein ganzes Leben lang. Du beherrschst dich oder du lässt dich gehen. Du willst
nicht mehr kämpfen. Wofür denn auch? Aber du wirst es tun, es wieder tun, schon
morgen früh wieder. Der Bus kommt. Endlich, denn es ist ziemlich kalt hier
draußen. Und du musst noch durch den Wald, später. Aber du hast dich zu früh
gefreut. Denn der Busfahrer macht selbst bei dieser Kälte die Tür nicht früher
auf, geht stattdessen nach hinten und setzt sich auf einen dieser seitlichen Dreiersitze,
mit dem Rücken zu den in der Kälte stehenden Fahrgästen. Was für ein Arschloch!
Das sind alles Arschlöcher, Busfahrer! Alles Arschlöcher. Wichser und
Hurensöhne. Fünf Minuten vor der Abfahrt sitzt er da und tippt seelenruhig auf
seinem Handy rum. Dann müssen die sich auch echt nicht wundern, wenn manche
Leute böse oder aggressiv werden, wenn die sich so verhalten. Solche
Arschlöcher sind. Als er dann doch noch aufmacht, keine Minute vor der
Abfahrtszeit, riecht es im Bus leicht nach Alkohol. Ist er das? Ist der das? Ich hoffe doch nicht, ich will
noch nicht sterben. Und auch heulen willst du nicht mehr, denkst du, als du
dich hinsetzt. Du willst ihm das zurückgeben, ihnen, den Leuten, die dich
abfucken, allen, die dich jemals abgefuckt haben, du willst es ihnen
zurückgeben, diese Scheiße, die sie machen, die sie dir antun. Weil sie
Egoisten sind, weil du ihnen egal bist, weil sie Arschlöcher sind. Mit oder
ohne Gewalt, du willst Rache. Egal wie. Dies ist keine Zeit zum Heulen. Du hast
keine Zeit zum Heulen. Es ist nass und kalt und du musst noch
durch den Wald nach Hause laufen. Dir bleibt gar keine Zeit zum Heulen. Du hast
dir extra dafür Stephen King aufs Handy gespielt. It. Mal sehen, wie das im Wald kommt, im Dunkeln, in der
Dunkelheit. Bestimmt! It. Ist das
nicht diese Macht, die ihre Gestalt wechseln kann? Aber so was gibt es gar
nicht. Es nur diese Welt, die unendlich grausamer ist als alle dunklen Mächte zusammen.
In ihrer Normalität, ihrer alltäglichen Gleichgültigkeit, ihrem fehlenden Mitgefühl,
ihrer kompletten Empathielosigkeit…
***
Am nächsten Abend,
als du nach der Arbeit im Dunkeln an der Haltestelle in Bonn stehst und mit
María telefonierst, denkst du: Wir trauern so um die Arschlöcher, die uns
verlassen, dass wir ganz vergessen, wer noch da ist. Im Hier und Jetzt. In
diesem beschissenen Hier und Jetzt, das aber noch lange nicht hoffnungslos ist.
Nadine ist tot,
aber sie ist noch da! María ist noch da!
Eine Wärme
durchfährt mich nach dem Telefonat. Eine Liebe. Ist mir scheißegal, ob das
jetzt jemand kitschig findet, aber es ist schön, dass sie wieder da ist. Meine
Tochter! Es ist so schön, ihre Stimme zu hören! Und das Schlimmste ist: Ich
glaube, sie freut sich auch, wieder bei dir zu sein. Oh Gott, ich klinge schon
wie Eminem. Vielleicht hat dieses Leben, dieses beschissene, verfickte Leben ja
doch irgendeinen Sinn…
Und bald ist auch
schon Karneval, da werde ich mir sowas von die Kante geben…
Paint the fucking town red!
“Hi. Hi!”
“Halloo”,
antwortet sie mit dieser leicht pikaresk klingenden Stimme.
„Bist du zu
Hause?“
„Ich trage gerade
die Sachen hoch…“
„Das ist gut!
Gutes Training! Gut für die Arme!“
„Und? Hat
gereicht, das Geld?“
„Ja, ganz knapp.
Fast nicht.“
„Okay, ich komme
gleich nach Hause!“
„Wann?“
„Weiß ich nicht,
eine halbe Stunde, eine Stunde. Ich bin noch in Bonn.“
„OK, ich trage das
gerade hoch.“
„OK, bis dann
Schatz, ne…“
Für sie würde ich
töten, denkst du.
Hast du damals bei
Nadine auch gesagt.