Montag, 29. Januar 2018

Yin und Yang













Der Wunsch zu heulen, einfach loszuheulen ist so stark, so ausgeprägt, so drängend, dass du nicht weißt, ob du es schaffst, ihm zu widerstehen. Du willst einfach nur losheulen, aber du tust es nicht. Nicht hier, nicht jetzt, obwohl du so gerne würdest…

Du hast heute sogar eine U-Bahn früher erwischt, so dass du schon um fünf nach eins in Bonn bist. Du guckst dich um, ob jemand hinter dir ist, ob jemand hinter dir ausgestiegen ist, hastest die Treppen der U-Bahn hoch, da wo die Penner schlafen, die Obdachlosen, am Hofgarten, und die Junkies sich einen Schuss setzen, vielleicht sogar den goldenen, neben der Treppe nach oben, aber heute sind da nur wenige Schlafsäcke links an der Wand, wo es runter Richtung Godesberg geht. Gehst schnell über den dunklen Vorplatz zum Hofgarten, das ist gefährlich hier, die verkaufen hier Drogen und tun sonst was, aber heute ist niemand hier, niemand zu sehen. Nur der leichte Nieselregen, die Nacht und du. Am Kaiserbrunnen vorbei, wo die Skater und Punks abhängen, aber auch hier niemand, außer Puste, du hast nur noch zwei Minuten, wenn um fünf nach wirklich ein Bus fährt, dann hast du nur noch zwei Minuten, aber als du endlich am Busbahnhof ankommst, siehst du, dass da kein Bus ist. Nur einer, die 640, aber der fährt auf die andere Rheinseite, glaub ich. Sonst nichts. Ein paar Araber, da hinten, am alten U-Bahn-Untergang, wo am Tag immer die Heroin-Abhängigen rumhängen, bei den Schildern mit den Busfahrplänen. Die reden voll laut, die beiden Araber. Warum reden die immer so laut? Ist das die Kultur? Du gehst an den roten, vom Regen ganz nassen Bänken entlang, weil du noch über 25 Minuten hast, aber du siehst nur eine Ratte, die vor dir weghuscht, aber dann sogar ein Stückchen, ein paar Meter parallel zu dir läuft, so als wolle sie dich auf deinem Weg begleiten. Du beobachtest das grau-braune, dreckig wirkende, relativ große Tier. Bah! Widerlich! Auf der anderen Seite des SWB-Gebäudes, in dem sich auch der Warteraum der Busfahrer und die Auskunft befindet, siehst du eine Taube, hast Angst, dass die Ratte noch irgendwo ist, dir vielleicht sogar über den Weg laufen könnte, dich angreifen könnte, was weiß ich. Aber die haben doch Angst vor Menschen. Aber wer weiß, wenn die sich in die Enge getrieben fühlt. Aber hier ist nur eine Taube, eine weiße, mit grauen Flecken, die seelenruhig vor dir herläuft, keine Angst hat. Ratten und Tauben sind die einzigen Tiere, die hier überleben, in diesem Drecksloch von Stadt. Wie hat das Mike Tyson in diesem Film mal gesagt: „Tauben sind die Ratten der Lüfte!“ Wieder lachen die Araber, reden. Über was lachen die eigentlich immer? Über die Welt? Über das Leben? Über Deutschland? Wenn die jetzt zu dir rüberkommen, hast du keinen, der dich verteidigen könnte, den hier ist keine Menschenseele. Und obwohl du am ganz anderen Ende des Busbahnhofs stehst, wären die ganz schnell hier, wenn die wollten… Da hast du keine Chance. Obwohl die bestimmt nicht rüberkommen, weil du aussiehst wie ein Penner, in deiner alten, löchrigen Armee-Jacke von Tom Taylor. Deiner alten, ebenso löchrigen No-Name-Trainingshose, die du wegen des Lochs im Schritt andersherum angezogen hast. Mit der Vorderseite nach hinten. Und die deswegen leicht durchhängt. Aber was soll ich denn anziehen, wenn ich nachts bei Wind und Wetter durch den Wald nach Hause laufen muss…?! Eine normale Jeans? Dann scheuerst du die nur wieder zwischen den Beinen durch. Wie viele Hosen du in deinem Leben schon durchgescheuert hast, unglaublich… Aber du hast eine Laptop-Tasche, die wäre vielleicht für die interessant, diese Scheiß-Wichser. Aber du hast ja noch das Messer. Das Küchenmesser in deiner Jacke. Das aber auch ziemlich spitz ist, ziemlich scharf. Wo sind wir nur hingekommen, in diesem Land…

Du bist so beklommen, fühlst dich so beklommen, du möchtest einfach nur losheulen, schluchzen, es rauslassen, es alles rauslassen, all das Leid und die Traurigkeit, die Frustration…aber du beherrschst dich. Wie immer. Wie schon dein ganzes Leben lang. Du beherrschst dich oder du lässt dich gehen. Du willst nicht mehr kämpfen. Wofür denn auch? Aber du wirst es tun, es wieder tun, schon morgen früh wieder. Der Bus kommt. Endlich, denn es ist ziemlich kalt hier draußen. Und du musst noch durch den Wald, später. Aber du hast dich zu früh gefreut. Denn der Busfahrer macht selbst bei dieser Kälte die Tür nicht früher auf, geht stattdessen nach hinten und setzt sich auf einen dieser seitlichen Dreiersitze, mit dem Rücken zu den in der Kälte stehenden Fahrgästen. Was für ein Arschloch! Das sind alles Arschlöcher, Busfahrer! Alles Arschlöcher. Wichser und Hurensöhne. Fünf Minuten vor der Abfahrt sitzt er da und tippt seelenruhig auf seinem Handy rum. Dann müssen die sich auch echt nicht wundern, wenn manche Leute böse oder aggressiv werden, wenn die sich so verhalten. Solche Arschlöcher sind. Als er dann doch noch aufmacht, keine Minute vor der Abfahrtszeit, riecht es im Bus leicht nach Alkohol. Ist er das? Ist der das? Ich hoffe doch nicht, ich will noch nicht sterben. Und auch heulen willst du nicht mehr, denkst du, als du dich hinsetzt. Du willst ihm das zurückgeben, ihnen, den Leuten, die dich abfucken, allen, die dich jemals abgefuckt haben, du willst es ihnen zurückgeben, diese Scheiße, die sie machen, die sie dir antun. Weil sie Egoisten sind, weil du ihnen egal bist, weil sie Arschlöcher sind. Mit oder ohne Gewalt, du willst Rache. Egal wie. Dies ist keine Zeit zum Heulen. Du hast keine Zeit zum Heulen. Es ist nass und kalt und du musst noch durch den Wald nach Hause laufen. Dir bleibt gar keine Zeit zum Heulen. Du hast dir extra dafür Stephen King aufs Handy gespielt. It. Mal sehen, wie das im Wald kommt, im Dunkeln, in der Dunkelheit. Bestimmt! It. Ist das nicht diese Macht, die ihre Gestalt wechseln kann? Aber so was gibt es gar nicht. Es nur diese Welt, die unendlich grausamer ist als alle dunklen Mächte zusammen. In ihrer Normalität, ihrer alltäglichen Gleichgültigkeit, ihrem fehlenden Mitgefühl, ihrer kompletten Empathielosigkeit…

***

Am nächsten Abend, als du nach der Arbeit im Dunkeln an der Haltestelle in Bonn stehst und mit María telefonierst, denkst du: Wir trauern so um die Arschlöcher, die uns verlassen, dass wir ganz vergessen, wer noch da ist. Im Hier und Jetzt. In diesem beschissenen Hier und Jetzt, das aber noch lange nicht hoffnungslos ist.

Nadine ist tot, aber sie ist noch da! María ist noch da!

Eine Wärme durchfährt mich nach dem Telefonat. Eine Liebe. Ist mir scheißegal, ob das jetzt jemand kitschig findet, aber es ist schön, dass sie wieder da ist. Meine Tochter! Es ist so schön, ihre Stimme zu hören! Und das Schlimmste ist: Ich glaube, sie freut sich auch, wieder bei dir zu sein. Oh Gott, ich klinge schon wie Eminem. Vielleicht hat dieses Leben, dieses beschissene, verfickte Leben ja doch irgendeinen Sinn…

Und bald ist auch schon Karneval, da werde ich mir sowas von die Kante geben…

Paint the fucking town red!

“Hi. Hi!”

“Halloo”, antwortet sie mit dieser leicht pikaresk klingenden Stimme.

„Bist du zu Hause?“

„Ich trage gerade die Sachen hoch…“

„Das ist gut! Gutes Training! Gut für die Arme!“

„Und? Hat gereicht, das Geld?“

„Ja, ganz knapp. Fast nicht.“

„Okay, ich komme gleich nach Hause!“

„Wann?“

„Weiß ich nicht, eine halbe Stunde, eine Stunde. Ich bin noch in Bonn.“

„OK, ich trage das gerade hoch.“

„OK, bis dann Schatz, ne…“








Für sie würde ich töten, denkst du.


Hast du damals bei Nadine auch gesagt.