Sonntag, 7. Januar 2018

Der Bergdoktor

„Der liebt diese Frau abgöttisch…“ (Der Bergdoktor)









Abends läuft der Bergdoktor im Fernsehen. Guckst du sonst nicht (kann man dich förmlich mit jagen, mit dem Scheiß). Aber heute ist nichts anderes drauf und du hast auch keinen Bock auf spanisches oder englisches Fernsehen. Also guckst du den Bergdoktor. In der Not guckt der Teufel auch den Bergdoktor.



Die heutige Folge handelt von dieser Frau, Lisa Koch, die diesen Typen heiraten will, Christian, den Sohn einer reichen Hotelerbin mit einem Luxushotel in den Bergen und drei ebenso luxuriösen in Hamburg. Oder so ähnlich, keine Ahnung. Doch dann verunglückt Lisa beim Bergsteigen mit ihrem Verlobten und verletzt sich am Bein. Von Anfang an verspürt der Bergdoktor, der der behandelnde Arzt ist, eine gewisse Zuneigung für sie, kümmert sich rührend um seine Patientin. Aber als er sie in ein anderes Krankenhaus zu einem Spezialisten bringen will, damit sie am verletzten Bein operiert werden kann, geraten die beiden mit dem Auto in eine Lawine. Durch den Aufprall verschlimmert sich bei der Frau eine bisher unentdeckte Rückenmarksquetschung, so dass sie schließlich von der Hüfte abwärts gelähmt ist. Im Krankenhaus will sie Selbstmord begehen, aber als der Bergdoktor sie küsst und ihr seine Liebe gesteht, schöpft sie wieder neuen Lebensmut und erzählt ihm die Geschichte ihrer Familie. Dass ihr Vater die Mutter wie wahnsinnig geliebt hat, doch als sie starb möglicherweise Selbstmord begangen hat.

„Man sagt, der hat sich das Leben genommen, weil er den Tod seiner Frau nicht verkraftet hat“, sagt die Mutter des Bergdoktors eines Abends zu ihm.

Währenddessen kann ihr Verlobter sie aber nicht vergessen, obwohl sie sich im Krankenhaus von ihm getrennt hat, weil sie nicht will, dass er nur aus Mitleid bei ihr bleibt. Aber Christian, der Verlobte, entscheidet sich schließlich, um Lisa zu kämpfen und kauft den alten Gasthof ihrer Eltern. Er stellt den Bergdoktor zur Rede und als sogar sein Bruder über Lisas Verlobten sagt „Der Mann liebt diese Frau abgöttisch“, sieht der Bergdoktor ein, dass er sich da in etwas verrannt hat und sich nicht die Liebe der beiden zerstören kann. Am Ende kommen Lisa und Christian wieder zusammen.

Aber der Satz, dieser eine Satz der Mutter des Bergdoktors hallt in deinem Kopf nach: „Der Mann liebt diese Frau abgöttisch!“

Hast du auch getan, denkst du. Tust du noch immer. Hast es ihr aber nicht richtig gezeigt. Sie nicht richtig behandelt. Nicht gut, wie Dreck.
                                                                                                                                   
Und dann kommt auch der andere Satz wieder hoch, der der Mutter, wieder hoch ins Bewusstsein: „Der Mann hat Selbstmord begangen, weil er den Tod seiner Frau nicht überwunden hat…“

Und Christian erklärt seiner Mutter seine Entscheidung für Lisa und den Gasthof ihrer Eltern, indem er zu ihr sagt: „Aber es gibt nichts auf der Welt, was ich mehr wünsche als das…“

Und du liegst hier und heulst fast, fast wie an Heiligabend. Wo du wie ein Schlosshund geheult hast, immer weiter, die Tränen gar nicht mehr aufhören wollten, nur weil du diesen Fernsehfilm geguckt hast, mit Fritz Wepper. Mit Fritz Wepper! Wo er diese alte Nervensäge und  Ekel spielt, das aber durch seine Liebe zu der Mutter seiner Mieter geläutert wird… Wie hast du da geheult, an Heiligabend, allein im Bett, nachdem María gegangen war, zu ihrer Mutter gegangen war, du sie noch mit zur Bahn begleitet hast, nicht loslassen wolltest, nicht an Heiligabend, ihr Komplimente gemacht hast, sie aber trotzdem gegangen ist, gehen musste, nachdem sie den Vormittag bei dir verbracht hatte und auch ihre Mutter sehen wollte, musste, an Heiligabend

Und fast heulst du genauso wie damals

Aber dann denkst du plötzlich: Aber sie ist gegangen, wahrscheinlich zu einem anderen. Sie konnte dich verlassen. Da gibt es einen Unterschied. Sie wollte dich nicht mehr. Und die Tränen, das bisschen Pipi ist auf einmal wieder ganz trocken, wie ausgetrocknet.

Wie hast du das heute zu María gesagt: „Deine Mutter liebt mich nicht mehr…ich hab keinen Bock mehr hier zu bleiben…“

Das war nicht gut, was soll sie denken?!

Aber wenn sie auch alle Gefühle hinter dem Berg hält, nie sagt, was sie denkt.

Gestern hatte ich Streit mit ihr. Weil so zwei Spacken in der Bahn, hinter uns, einfach Fotos von ihr gemacht haben. So zwei Jugendliche. Obwohl ich daneben saß. Araber. Oder Türken. Und ich hab mich voll aufgeregt. Und dann hat sie sich voll aufgeregt. Aber über mich. Ich meine, die machen einfach so Handy-Fotos von meiner Tochter und ich nenne die nur, sage nur hijos de puta und schon bin ich der Böse. Und dann wurde ich richtig sauer, habe Sachen gesagt, die ich hier nicht wiederholen kann. Denn dann werde ich in diesem ach so freien Land noch gesperrt. Auf jeden Fall wurde sie noch wütender und ich ging einfach ohne tschüs zu sagen zur Bahn zurück, während sie zum Training ging.

Aber das hat mich auch geärgert, wie sie gesagt hat: „Ist doch egal. Dürfen die nicht machen, was die wollen?!“

Aber das, was du gesagt hast, war auch unter aller Sau, wirklich. Rassistisch, menschenverachtend, antisemitisch.

Und dann hast du auch noch gesagt: „Ich darf doch auch nicht machen, was ich will…“

Und die benehmen sich hier wie die Axt im Walde. Ohne Respekt. Dein Vater neben dir.

Sie ist wie ich. Deswegen kloppen wir uns auch immer wie die Kesselflicker. Ich sehe das, jetzt, sie vielleicht auch, instinktiv. Und genau deshalb liegen wir uns immer so in den Haaren. Es ist schwer genug, mich selbst zu ertragen, so wie ich bin, geschweige denn noch jemand wie ich. Vielleicht war Nadine ja auch wie ich. Obwohl, nicht so sehr wie meine Tochter. Die ist ja auch meine Tochter.

Deswegen zitterst du heute, denkst, sie kommt nicht mehr, bleibt bei ihrer Mutter, gehst in ihr Zimmer und guckst, was sie noch hier gelassen hat. Hast Angst, dass sie keinen Bock mehr auf dich hat. Aber anrufen willst du sie auch nicht. Sie muss auch akzeptieren, dass du eine eigene Meinung hast. Du kannst ja nicht immer die Klappe halten, nur um ihr zu gefallen. Und du willst nicht, dass diese Doofs, diese…ihre Fotos auf ihrem Handy haben. Du gehst ja auch nicht hin und fotografierst einfach so fremde Frauen. Was für Wichse…

Aber du hättest nicht so ausfallend werden sollen…

Und dann werde ich doch noch schwach und rufe sie an. Nein, nicht sie. Sie nicht, sondern meine Tochter. María. Um zu fragen, wann sie kommt.

Und es klingelt tatsächlich…
…und sie geht tatsächlich dran…

„Hi.“

„Hi.“

„Ich bin noch im McDonald’s, weil meine Bahn erst um vier nach fährt…“

„Ach so…
…soll ich dich abholen…“

„Wenn du willst…“

„Okay, mach ich!“ Zu schnell! Zu schnell, du Idiot! Aber egal, Mann! Es geht um Familie, Mann, da darf man das!

Also twittere ich noch ein bisschen böse zu #Dobrindt (ist man in Deutschland jetzt schon böse, wenn man gegen den Strom twittert??), ziehe mir dann die alte Tarnjacke an (mit der schwarzen Mütze in der Tasche) und gehe los. Nehme neben der Tür noch einen Schirm mit. Den von der Musikschule, haha. Trete vor die Tür und stelle fest, dass es nicht (mehr) regnet. Scheiße, was ist das denn?! Das muss das erste Mal in den letzten sieben Tag sein. Also war der Schirm unnötig. Egal, ich wollte nett sein. Ein Gentleman. Nachdem sie gestern den Grobian, den Oger kennengelernt hat. Das Tier, das Tier in dir. Obwohl: Das Tier in dir kennt sie nicht, das kennst du vielleicht selber nicht richtig.

Dann wird es Zeit…

Es ist ja auch so viel passiert, in letzter Zeit, da kann man seine 18-jährige Tochter ja auch mal abholen…

Man darf heute gar nichts mehr, als Mann. Als deutscher Mann… Alles ist direkt irgendwie suspekt…

Du gehst den Weg am Penny vorbei, siehst aber, dass die Schranke schon unten ist. Der Scheiß-Gegenzug! Den hattest du vergessen. Also gehst du, rennst schon fast, um nicht zu spät zu kommen, die Schienen entlang in Richtung Unterführung. Komme pünktlich auf der anderen Seite an. Gucke zur Sicherheit noch mal auf den Plan, vor dem ein junger Typ mit Käppi steht.

„Tschuldigung“, sagst du, als er nicht aus dem Weg geht. Dann geht er doch noch weg. Will ich ihm auch geraten haben…

Ich suche die Zeit auf dem Plan, obwohl ich weiß, wann der Zug kommt. Um 22:33.

„Der kommt in ein paar Minütchen…“, sagt der Typ mit dem Käppi.

„Okay…danke…“, sagst du leise, fast nicht hörbar.

Gehst in die Mitte, wo die Unterführung ist. Hinter dem Geländer. Er folgt dir.

Willst du jetzt hinter mir hergehen, oder was?!

Dann bleibt er stehen. Und du stellst dich ans Geländer. Befingerst deine Jacke, die beiden Brusttaschen. Links spürst du das spitze, kleine rote Lineal, das du mal bei der Rentenberatung bekommen hast. Und rechts das kleine Küchenmesser. Nur ein normales Küchenmesser. Mit kurzer Klinge. Dafür kann dir keiner was…

Das braucht man heutzutage in Deutschland. Obwohl du es noch nie gebrauchen musstest…

(Fantasien von Hunden, die dich beißen und die du damit abwehrst, von Wildschweinen, geistern dir durch den Kopf…aber es hilft auch gegen menschliche Tiere…)

Und dann kommt auch schon der Zug. Und eine Frau steigt aus, verabschiedet sich von jemand, einem Schwarzen und du denkst zuerst, es ist María. Aber sie ist es nicht. Sie kommt weiter hinten, sagt Hallo. Sieht müde aus.

„Ich war chinesisch essen…“, sagt sie, als wir die Unterführung hochgehen.

„Aha. Und, was hat der Arzt gesagt?“

Sie zögert einen Moment, sagt dann: „Ich hab einen krummen Rücken.“

„Ich auch! Das kenn ich…
…dann ist das ja gut, dass du Fitness machst…“

„Ja, aber ich war heut bei McFit und das war so schrecklich. So viele Leute. Und so Schlampen. Die haben mit Schminke trainiert. Und Pädos und alles…“

„Echt?!“ Du sagst nichts. Es ist besser, wenn dich bedeckt hältst. Immer neutral bleiben, zu nichts einen Kommentar abgeben…


Zu Hause geht sie direkt ins Bett und du hast das Gefühl, dass sie dich vermissen wird, morgen, wenn sie wieder zu ihrer Mutter geht. Fürs Wochenende. Dass sie auch ein bisschen traurig ist, morgen nicht mehr bei dir zu sein. Das ist auch, und besonders für sie nicht leicht, diese Scheiße, diese ganze Scheiße…