„Der liebt diese
Frau abgöttisch…“ (Der Bergdoktor)
Abends läuft der
Bergdoktor im Fernsehen. Guckst du sonst nicht (kann man dich förmlich mit jagen,
mit dem Scheiß). Aber heute ist nichts anderes drauf und du hast auch keinen
Bock auf spanisches oder englisches Fernsehen. Also guckst du den Bergdoktor.
In der Not guckt der Teufel auch den Bergdoktor.
Die heutige Folge
handelt von dieser Frau, Lisa Koch, die diesen Typen heiraten will, Christian,
den Sohn einer reichen Hotelerbin mit einem Luxushotel in den Bergen und drei ebenso
luxuriösen in Hamburg. Oder so ähnlich, keine Ahnung. Doch dann verunglückt
Lisa beim Bergsteigen mit ihrem Verlobten und verletzt sich am Bein. Von Anfang
an verspürt der Bergdoktor, der der behandelnde Arzt ist, eine gewisse
Zuneigung für sie, kümmert sich rührend um seine Patientin. Aber als er sie in
ein anderes Krankenhaus zu einem Spezialisten bringen will, damit sie am
verletzten Bein operiert werden kann, geraten die beiden mit dem Auto in eine
Lawine. Durch den Aufprall verschlimmert sich bei der Frau eine bisher unentdeckte
Rückenmarksquetschung, so dass sie schließlich von der Hüfte abwärts gelähmt
ist. Im Krankenhaus will sie Selbstmord begehen, aber als der Bergdoktor sie
küsst und ihr seine Liebe gesteht, schöpft sie wieder neuen Lebensmut und
erzählt ihm die Geschichte ihrer Familie. Dass ihr Vater die Mutter wie
wahnsinnig geliebt hat, doch als sie starb möglicherweise Selbstmord begangen
hat.
„Man sagt, der hat
sich das Leben genommen, weil er den Tod seiner Frau nicht verkraftet hat“,
sagt die Mutter des Bergdoktors eines Abends zu ihm.
Währenddessen kann
ihr Verlobter sie aber nicht vergessen, obwohl sie sich im Krankenhaus von ihm
getrennt hat, weil sie nicht will, dass er nur aus Mitleid bei ihr bleibt. Aber
Christian, der Verlobte, entscheidet sich schließlich, um Lisa zu kämpfen und
kauft den alten Gasthof ihrer Eltern. Er stellt den Bergdoktor zur Rede und als
sogar sein Bruder über Lisas Verlobten sagt „Der Mann liebt diese Frau abgöttisch“,
sieht der Bergdoktor ein, dass er sich da in etwas verrannt hat und sich nicht die
Liebe der beiden zerstören kann. Am Ende kommen Lisa und Christian wieder
zusammen.
Aber der Satz,
dieser eine Satz der Mutter des Bergdoktors hallt in deinem Kopf nach: „Der
Mann liebt diese Frau abgöttisch!“
Hast du auch getan,
denkst du. Tust du noch immer. Hast es ihr aber nicht richtig gezeigt. Sie
nicht richtig behandelt. Nicht gut, wie Dreck.
Und dann kommt
auch der andere Satz wieder hoch, der der Mutter, wieder hoch ins Bewusstsein:
„Der Mann hat Selbstmord begangen, weil er den Tod seiner Frau nicht überwunden
hat…“
Und Christian
erklärt seiner Mutter seine Entscheidung für Lisa und den Gasthof ihrer Eltern,
indem er zu ihr sagt: „Aber es gibt nichts auf der Welt, was ich mehr wünsche
als das…“
Und du liegst hier
und heulst fast, fast wie an Heiligabend. Wo du wie ein Schlosshund geheult
hast, immer weiter, die Tränen gar nicht mehr aufhören wollten, nur weil du
diesen Fernsehfilm geguckt hast, mit Fritz Wepper. Mit Fritz Wepper! Wo er
diese alte Nervensäge und Ekel spielt,
das aber durch seine Liebe zu der Mutter seiner Mieter geläutert wird… Wie hast
du da geheult, an Heiligabend, allein im Bett, nachdem María gegangen war, zu
ihrer Mutter gegangen war, du sie noch mit zur Bahn begleitet hast, nicht
loslassen wolltest, nicht an Heiligabend, ihr Komplimente gemacht hast, sie
aber trotzdem gegangen ist, gehen musste, nachdem sie den Vormittag bei dir
verbracht hatte und auch ihre Mutter sehen wollte, musste, an Heiligabend
Und fast heulst du
genauso wie damals
Aber dann denkst
du plötzlich: Aber sie ist gegangen, wahrscheinlich zu einem anderen. Sie
konnte dich verlassen. Da gibt es einen Unterschied. Sie wollte dich nicht
mehr. Und die Tränen, das bisschen Pipi ist auf einmal wieder ganz trocken, wie
ausgetrocknet.
Wie hast du das
heute zu María gesagt: „Deine Mutter liebt mich nicht mehr…ich hab keinen Bock
mehr hier zu bleiben…“
Das war nicht gut,
was soll sie denken?!
Aber wenn sie auch
alle Gefühle hinter dem Berg hält, nie sagt, was sie denkt.
Gestern hatte ich
Streit mit ihr. Weil so zwei Spacken in der Bahn, hinter uns, einfach Fotos von
ihr gemacht haben. So zwei Jugendliche. Obwohl ich daneben saß. Araber. Oder
Türken. Und ich hab mich voll aufgeregt. Und dann hat sie sich voll aufgeregt.
Aber über mich. Ich meine, die machen einfach so Handy-Fotos von meiner Tochter
und ich nenne die nur, sage nur hijos de
puta und schon bin ich der Böse. Und dann wurde ich richtig sauer, habe
Sachen gesagt, die ich hier nicht wiederholen kann. Denn dann werde ich in
diesem ach so freien Land noch gesperrt. Auf jeden Fall wurde sie noch wütender
und ich ging einfach ohne tschüs zu sagen zur Bahn zurück, während sie zum
Training ging.
Aber das hat mich
auch geärgert, wie sie gesagt hat: „Ist doch egal. Dürfen die nicht machen, was
die wollen?!“
Aber das, was du
gesagt hast, war auch unter aller Sau, wirklich. Rassistisch, menschenverachtend,
antisemitisch.
Und dann hast du
auch noch gesagt: „Ich darf doch auch nicht machen, was ich will…“
Und die benehmen
sich hier wie die Axt im Walde. Ohne Respekt. Dein Vater neben dir.
Sie ist wie ich.
Deswegen kloppen wir uns auch immer wie die Kesselflicker. Ich sehe das, jetzt,
sie vielleicht auch, instinktiv. Und genau deshalb liegen wir uns immer so in
den Haaren. Es ist schwer genug, mich selbst zu ertragen, so wie ich bin, geschweige
denn noch jemand wie ich. Vielleicht war Nadine ja auch wie ich. Obwohl, nicht
so sehr wie meine Tochter. Die ist ja auch meine Tochter.
Deswegen zitterst
du heute, denkst, sie kommt nicht mehr, bleibt bei ihrer Mutter, gehst in ihr
Zimmer und guckst, was sie noch hier gelassen hat. Hast Angst, dass sie keinen
Bock mehr auf dich hat. Aber anrufen willst du sie auch nicht. Sie muss auch
akzeptieren, dass du eine eigene Meinung hast. Du kannst ja nicht immer die
Klappe halten, nur um ihr zu gefallen. Und du willst nicht, dass diese Doofs,
diese…ihre Fotos auf ihrem Handy haben. Du gehst ja auch nicht hin und
fotografierst einfach so fremde Frauen. Was für Wichse…
Aber du hättest
nicht so ausfallend werden sollen…
Und dann werde ich
doch noch schwach und rufe sie an. Nein, nicht sie. Sie nicht, sondern meine Tochter. María. Um zu fragen, wann sie
kommt.
Und es klingelt
tatsächlich…
…und sie geht
tatsächlich dran…
„Hi.“
„Hi.“
„Ich bin noch im
McDonald’s, weil meine Bahn erst um vier nach fährt…“
„Ach so…
…soll ich dich
abholen…“
„Wenn du willst…“
„Okay, mach ich!“
Zu schnell! Zu schnell, du Idiot! Aber egal, Mann! Es geht um Familie, Mann, da
darf man das!
Also twittere ich
noch ein bisschen böse zu #Dobrindt (ist man in Deutschland jetzt schon böse,
wenn man gegen den Strom twittert??), ziehe mir dann die alte Tarnjacke an (mit
der schwarzen Mütze in der Tasche) und gehe los. Nehme neben der Tür noch einen
Schirm mit. Den von der Musikschule, haha. Trete vor die Tür und stelle fest,
dass es nicht (mehr) regnet. Scheiße, was ist das denn?! Das muss das erste Mal
in den letzten sieben Tag sein. Also war der Schirm unnötig. Egal, ich wollte
nett sein. Ein Gentleman. Nachdem sie gestern den Grobian, den Oger
kennengelernt hat. Das Tier, das Tier in dir. Obwohl: Das Tier in dir kennt sie
nicht, das kennst du vielleicht selber nicht richtig.
Dann wird es Zeit…
Es ist ja auch so
viel passiert, in letzter Zeit, da kann man seine 18-jährige Tochter ja auch
mal abholen…
Man darf heute gar
nichts mehr, als Mann. Als deutscher Mann… Alles ist direkt irgendwie suspekt…
Du gehst den Weg
am Penny vorbei, siehst aber, dass die Schranke schon unten ist. Der
Scheiß-Gegenzug! Den hattest du vergessen. Also gehst du, rennst schon fast, um
nicht zu spät zu kommen, die Schienen entlang in Richtung Unterführung. Komme
pünktlich auf der anderen Seite an. Gucke zur Sicherheit noch mal auf den Plan,
vor dem ein junger Typ mit Käppi steht.
„Tschuldigung“,
sagst du, als er nicht aus dem Weg geht. Dann geht er doch noch weg. Will ich
ihm auch geraten haben…
Ich suche die Zeit
auf dem Plan, obwohl ich weiß, wann der Zug kommt. Um 22:33.
„Der kommt in ein
paar Minütchen…“, sagt der Typ mit dem Käppi.
„Okay…danke…“,
sagst du leise, fast nicht hörbar.
Gehst in die
Mitte, wo die Unterführung ist. Hinter dem Geländer. Er folgt dir.
Willst du jetzt
hinter mir hergehen, oder was?!
Dann bleibt er
stehen. Und du stellst dich ans Geländer. Befingerst deine Jacke, die beiden
Brusttaschen. Links spürst du das spitze, kleine rote Lineal, das du mal bei
der Rentenberatung bekommen hast. Und rechts das kleine Küchenmesser. Nur ein
normales Küchenmesser. Mit kurzer Klinge. Dafür kann dir keiner was…
Das braucht man
heutzutage in Deutschland. Obwohl du es noch nie gebrauchen musstest…
(Fantasien von
Hunden, die dich beißen und die du damit abwehrst, von Wildschweinen, geistern
dir durch den Kopf…aber es hilft auch gegen menschliche Tiere…)
Und dann kommt
auch schon der Zug. Und eine Frau steigt aus, verabschiedet sich von jemand,
einem Schwarzen und du denkst zuerst, es ist María. Aber sie ist es nicht. Sie
kommt weiter hinten, sagt Hallo. Sieht müde aus.
„Ich war
chinesisch essen…“, sagt sie, als wir die Unterführung hochgehen.
„Aha. Und, was hat
der Arzt gesagt?“
Sie zögert einen
Moment, sagt dann: „Ich hab einen krummen Rücken.“
„Ich auch! Das
kenn ich…
…dann ist das ja
gut, dass du Fitness machst…“
„Ja, aber ich war
heut bei McFit und das war so schrecklich. So viele Leute. Und so Schlampen.
Die haben mit Schminke trainiert. Und Pädos und alles…“
„Echt?!“ Du sagst
nichts. Es ist besser, wenn dich bedeckt hältst. Immer neutral bleiben, zu
nichts einen Kommentar abgeben…
Zu Hause geht sie
direkt ins Bett und du hast das Gefühl, dass sie dich vermissen wird, morgen,
wenn sie wieder zu ihrer Mutter geht. Fürs Wochenende. Dass sie auch ein
bisschen traurig ist, morgen nicht mehr bei dir zu sein. Das ist auch, und
besonders für sie nicht leicht, diese Scheiße, diese ganze Scheiße…