William Shakespeare
"Wer kann die Wahrheit schon ertragen?"
Marius Müller Westernhagen
"Wer kann die Wahrheit schon ertragen?"
Marius Müller Westernhagen
Nachts wache ich
auf und will die Wahrheit. Ich hab eh kaum geschlafen. Erst lief da die SOKO
Leipzig mit so einem spannenden Prostitutionsfall und dann ein ein wenig
verwirrender dänischer Film mit einem Typen, der von dem früheren
Mafia-Klienten seines Vaters, der wie er Anwalt war, verfolgt wird.
Aber selbst danach
kann ich noch nicht schlafen. Und selbst nachdem ich mir mit Mühe und Not einen
runtergeholt habe, klappt es nicht. Ich drehe und wende mich, aber die Hüfte
oder die Eier tun mir weh und so finde ich keine richtige Position.
Und irgendwann um
vier oder fünf gebe ich dann auf. Dann scheiß doch drauf. Dann schlaf ich eben
am Vormittag. Zur Arbeit muss ich eh erst um halb drei.
Dieses Leben ist es nicht wert, denke ich, dieses eben voller Schmerzen und Ungewissheit.
Und irgendwann
kommt in dir der Wunsch hoch, endlich die Wahrheit herauszufinden. Die Wahrheit
über Nadines Trennung von dir. Damit du wenigstens einen Abschluss finden
kannst, Und ein neues Leben, vielleicht sogar im Ausland. Damit du endlich das
findest, was man im Englischen closure nennt.
Egal, ob sie jetzt mit einem Neuen zusammen ist oder lesbisch geworden ist oder
was auch immer sie zu der Trennung bewegt hat, alles ist besser als diese
Ungewissheit, dieses Nicht-Wissen. Obwohl im Internet auch steht, dass man sich
auch selbst einen Abschluss geben kann, funktioniert das bei dir nicht. So
nicht. Das machst du doch schon seit drei Jahren. Du musst jetzteinen
Schlussstrich ziehen, indem du endlich rausfindest, was damals wirklich
passiert ist. Da ist doch irgendwas, das spürst du. Die ist nicht einfach so
gegangen, weil sie keinen Bock mehr hatte, da gab es noch einen Grund. Du
willst nicht mehr belogen werden. Beschwiegen
Oder war die echt
in ihren Schwager verliebt. Und hat dich wegen ihm verlassen, weil er aus
Barcelona zurück nach Bonn gekommen ist… Oder ist sie mit dem Typen von der
Arbeit zusammengekommen, dem Sohn ihrer Chefin, der, der Spanisch konnte, aber
trotzdem sich nicht „getraut“ hat mit ihr zu sprechen. Schon allein das klingt
verdächtig. Wo die Mutter beziehungsweise ihre Chefin einmal gesagt hat, dass
sie dem seine spanische Freundin nicht mochte, dass ihre eine Latina als
Schwiegertochter lieber wäre. So eine wie sie? Die wird sich umgucken. Oder
waren es einfach ihre Schwestern, die immer wieder auf sie eingeredet
haben, die ihn sowieso schon immer gehasst haben, bis sie schließlich
nachgegeben hat…
Und wieder dreht
sich das Endlos-Gedankenkarussell. Und genau um dieses endlich zu beenden,
endlich zur Ruhe zu kommen, braucht er jetzt die Wahrheit. Wie bei Conchita damals. Wo Nadine gesagt hat: „Die ist ja blöd, dass die dir das erzählt
hat!“ Und damit impliziert hat, dass sie dir nie so etwas erzählen würde… Und
schon kommen dir Zweifel. Wer kann die Wahrheit schon vertragen. Und: Was hat
die Wahrheit dir schon gebracht? Aber trotzdem: Du brauchst die Wahrheit, das
weißt du instinktiv, dass du nur so abschließen kannst…
Nur so ein neues
Leben beginnen kannst. Ohne sie…
Das einzige
Problem ist: Du weißt noch nicht, wie du an die Wahrheit kommen wirst…