Im Zug von Meckenheim nach Bonn, abends nach der Arbeit, hat
er plötzlich die Sicherheit, dass sie jetzt, genau in diesem Moment, an ihn
denkt. Er spürt wie ihm urplötzlich Tränen in die Augen steigen, wie sein
Gesicht einen so verzweifelt-traurigen Ausdruck annimmt, dass er eigentlich
jetzt und hier zu heulen anfangen könnte. Hier, auf diesem Vierer, ganz vorne
in der Bahn, die durch die winterliche Dunkelheit rauscht. Der Gedanke daran,
dass sie jetzt, genau jetzt, auch an ihn denken könnte, zerreißt ihm das Herz,
die Seele, den Körper.
Innerlich wiederholt er es noch mal: Er hat die
Sicherheit, dass sie jetzt, genau in diesem Moment auch an ihn denkt. Fragen
Sie mich nicht, woher. Ich weiß es nicht, aber es gibt so Momente im Leben. Einzelne
Momente. Aber trotzdem: Warum denn gerade die „Sicherheit“. Das scheint ihm das
falsche Wort, der falsche Ausdruck zu sein. Sicherheit. Nein. Gewissheit. Das
ist besser: Er hat die Gewissheit, dass sie genau jetzt, in diesem Moment, zwei
Tage vor der Scheidung, auch an ihn denkt. Oder ist Sicherheit im Endeffekt
doch besser als Gewissheit? Etwas verlieht einem Sicherheit, etwas verleiht
einem Gewissheit oder gibt einem Gewissheit, das ist nicht dasselbe. Aber was
ist der Unterschied zwischen den beiden Wörtern? Sind das nicht letzten Endes
ohnehin nur leere Worte, die weder er noch sie mit Leben zu füllen vermag. Mit
Liebe
Draußen ist es dunkel und der Zug fährt weiter durch die
kalte Nacht. Er ist kaputt, total kaputt. Innerlich wie äußerlich. Körperlich
wie seelisch. Den Tränen nah, die nicht kommen wollen, die den Abgrund nicht zu
überwinden vermögen.
Und wenn das alles nur Quatsch ist? Und sie gar nicht an
ihn denkt? Gar nicht mehr an ihn denkt. Gedacht hat, schon seit langem nicht
mehr. Wenn er sich das nur wieder einbildet
und diese tiefe Traurigkeit, die ihn in solchen Momenten
überkommt, sein ganzes Wesen förmlich überschwemmt mit ihren schwarzen Wellen…was
ist, wenn das alles nur in seinen Gedanken so ist? In seinem Kopf?
Er liest gerade dieses Buch. Wo dieser 36-jährige Japaner,
der in seiner Jugend unzertrennlich mit vier anderen Jugendlichen (zwei Jungen
und zwei Mädchen) so eng befreundet war, dass er es nie überwunden hat, als sie
auf einmal, wie aus heiterem Himmel nichts mehr von ihm wissen wollten. Sich in
komplettes, eisernes Schweigen hüllten. Seitdem nie wieder mit ihm gesprochen
haben
Haruki Murakami. Die
Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki.
Eines Tages macht sich Tsukumu – so heißt der Mann aus
dem Buch – mit der Hilfe seiner Freundin Sara auf, um herauszufinden, warum
seine Freunde ihn damals so jäh haben fallengelassen, von einem Moment auf den
anderen. Er findet heraus, dass ihn Shiro, eins der Mädchen der Clique, damals vor
den anderen bezichtigt hat, sie während eines Aufenthaltes in seiner Wohnung
vergewaltigt zu haben und dass sie deswegen den Kontakt zu ihm abgebrochen
haben…
Der Vergewaltigung bezichtigt
Vielleicht liegt das ja an
dem Buch, dass er denkt beziehungsweise eben noch gedacht hat, dass Nadine
genau jetzt auch an ihn denkt. Vielleicht liegt das ja daran und er bildet sich
das alles nur ein. Vielleicht bildet er sich ja sein ganzes Leben nur ein.
Vielleicht ist das alles am Ende gar nicht real. Vielleicht gibt es da ja mehr,
von dem er nichts weiß
Es gibt mehr Dinge
zwischen Himmel und Erde
Mehr Dinge zwischen
Himmel und Hölle
als wir uns vorstellen können.