Donnerstag, 12. Januar 2017

Dankbarkeit und Schuld










Wenn überhaupt, dann kann man das nur als ein Gefühl der Dankbarkeit beschreiben. Er flog nach Ecuador und heiratete sie, weil er ihr dankbar war. Das mag jetzt komisch klingen, aber das ist, glaub ich, das, was einer echten Erklärung am nächsten kommt. In Ermangelung einer echten Erklärung…

Dankbar wofür aber?

Ich weiß es auch nicht genau. Weil sie mich liebte, obwohl mich noch nie jemand geliebt hatte, vorher…weil sie die Einzige war, die jemals vermocht hatte, mir ein Gefühl der Liebe, der Geborgenheit, der Zugehörigkeit zu geben…weil sie mich aus meinem Elternhaus befreit hatte, rausgeholt hatte…weil ich selbst nicht die Kraft dafür gehabt hatte, hätte…oder weil sie mir die schwere Last der Jungfräulichkeit von den Schultern genommen hatte, die ich all die Jahre, seit ich 15 war und das erste Mal Sara in der Schule in die Augen geguckt hatte, mit mir rumgetragen hatte…

Aurélie, so klappt das nie. Du erwartest viel zu viel. Die Deutschen flirten sehr subtil.

Durch sie hatte es bei dir am Ende doch noch geklappt…

Und manchmal denkst du sogar: Weil sie dich vor dem Selbstmord bewahrt hat. So was Ähnliches hast du damals echt gedacht, den sicheren Selbstmord wärst du weiter in dieser Umgebung, diesem Umfeld geblieben. In diesem Elternhaus. Gefangen

Nicht so klar vielleicht, aber das war schon die Richtung, in die du gedacht hast: Was hättest du gemacht, hättest du sie nicht kennengelernt?

Also dachtest du, du schuldest ihr was. Du bist ihr noch was schuldig. Weil sie dich wieder aufgebaut hat, nachdem dich die Schule und die Familie so runtergerissen und kleingehalten hatten, all die Jahre. Sie hat dir geholfen und jetzt musst du ihr auch helfen. Jetzt, wo sie ein Problem hat, wo sie von der Polizei erwischt und ausgewiesen wurde. Illegal in Deutschland. Kein Mensch ist illegal. Was für ein heuchlerischer Slogan. Ich wette, die die das sagen, die sind noch nie einem Illegalen begegnet. Aber du konntest etwas tun. Konntest sie heiraten

Obwohl du vorher, als der Bundeswehr-Pfarrer da angerufen hatte, im Gefängnis, und dich gefragt hatte, ob du sie heiraten wolltest, das sei die einzige Möglichkeit, nein gesagt hattest.

Und jetzt sagt sie nein, in 7 Tagen. Noch nicht mal mehr 7 Tagen

„Wollen Sie sie heiraten…?“

Du hattest sie gehen lassen. Und später, keine zwei Monate später, bereutest du es schon wieder. Hingst ihr immer noch im Gedanken nach. Hingst immer noch an ihr. So wie jetzt.

Und bist nach Ecuador geflogen…nachdem du „Zuhause“ rausgeflogen warst – wieder einmal – und bei Rafael und Slainté untergekommen warst. (Das hast du auch später vergessen, jedes Mal, wo du mal wieder eifersüchtig auf deinen Schwager warst, dass er dir damals sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte…) Flogst also nach Ecuador und überlegtest vier Wochen hin und her (das war auch unfair ihren Gefühlen gegenüber, ihr gegenüber, das hatte sie auch nicht verdient, obwohl sie mit dem Bruder ihres Schwager vor deinen Augen geflirtet hatte, auf dem Dorftanz, dem baile), überlegtest, ob du sie wirklich heiraten solltest und sagtest schließlich drei Tage vor Abflug ja. Ja, ich will. Sí, quiero.

Und heute will sie eben nicht mehr. Oder sagt sie auch auf dem letzten Drücker noch ja? Sí, se puede…sí, se puede…

Sagtest ja, noch nicht mal für eine Hochzeit angemessen gekleidet, in einem schwarzen Polo-Shirt und einer beigefarbenen Jeans. Mit zum Schwur erhobener Hand (auf dem Foto, das deine Mutter dann fand).

Wie kann so eine Beziehung glücklich machen, wie kann aus ihr jemals so was erwachsen wie Zufriedenheit? Eine Ehe, die auf so wackligen, tönernen Füßen steht?

Kann sie nicht

Oder doch?

War sie aber doch irgendwie. Glücklich. Mit einem Hauch Verklärung, Glorifizierung, Idealisierung der Vergangenheit. War sie glücklich, war sie jemals glücklich… Oder fühlte sie sich genauso benutzt wie du jetzt…?

Wie sehr sie doch irgendwie glücklich, das merkst du, das merkt man immer erst hinterher. Jetzt, wo sie weg ist…

Wo sie für immer weg ist…

Wo die Scheidung in nicht mal mehr 7 Tagen ansteht…

Vielleicht hat sie ja jemand gefunden, der sie wirklich liebt...so, wie sie ist…

Ein bisschen gönnst du es ihr vielleicht sogar, nach all den Jahren mit dir, den neunzehn Jahren, um genau zu sein…

Für immer weg…

So ist das Leben. Wer zu spät kommt, wir gefickt. In den Arsch und ohne Gummi. Oder mit Noppengummi. Mit dickem Gummischlauch, in den Arsch, immer tiefer hinein in die Scheiße