Er geht von der Halle zum Bäcker. Plötzlich kommt ihm
dieser Kunde entgegen, Zuerst erkennt er ihn gar nicht. Dann muss er es doch,
denn er spricht ihn an, deutet auf seinen Körper und sagt irgendwas, was er
nicht versteht. Selbst beim dritten Mal.
Irgendwas mit „Merzen.“
Und immer wieder deutet er auf seinen Bauch. Hab ich etwa
vergessen, den Hosenstall zuzumachen, eben auf dem Klo, denkt er.
Aber dann versteht er ihn doch noch. Er meint „Schmerzen“!
Nicht „Merzen“.
„Was ist los?“ fragt er. „Hast du Schmerzen?“
„Nein“, antwortet er dem Kunden verdutzt. „Warum?“
„Weil du gehst so…“ Er macht einen schwankenden Gang
nach.
Echt?
Ne, eigentlich ist alles in Ordnung. So in Ordnung wie
das eben nun mal sein kann, auf dieser Welt, in diesem Leben.
Nein, ich habe keine Schmerzen. Ich bin nur heute Morgen neun Kilometer durch den Wald gelaufen…ich werde doch nicht ein Humpeln entwickeln…
Wie meine Mutter… die hat es auch an der Hüfte.
Doch dann, als er weitergeht, denkt er: Das passiert mir
immer wieder. Das sich die Leute irgendwas aussuchen, irgendeine äußerliche
Besonderheit und dann fragen, was mit ihm los sei. Keine Ahnung warum. Weil sie
ihm helfen wollen? Weil sie ihn runtermachen wollen? Oder vielleicht, weil die
Leute einfach so sind? Weil sie andere runtermachen müssen, um sich selber
besser zu fühlen. Eine Eigenschaft, die besonders in Deutschland weit
verbreitet zu sein scheint.
Er selbst macht das nie. Da könnte jemand blutend vor ihm
stehen, leichenblass, er würde ihn nicht noch extra darauf hinweisen. Ja, ok,
vielleicht nicht ganz so schlimm, aber trotzdem…
Aber vielleicht machen die das auch genau deswegen.
Nämlich weil er es nie macht. Weil die sich bei ihm in Sicherheit wägen. Vor
einem Gegenangriff. Ihn kann man ja kritisieren. Ihm seinen Gang, seine
Gesichtsfarbe, seine Frisur vorwerfen. Er macht ja sowieso nichts…
Und irgendwie stimmt das auch. Aber echt! Wie der alte
Mann, der ihm jedes Mal sagt, dass er das ja bewundern würde…wie er das
schafft, trotz Bauch, obwohl er
kräftig ist, von Ippendorf bis nach Tannenbusch zu laufen. In der Psychologie nennt man das passiv
aggressiv. Man kleidet etwas Negatives in ein vermeintliches Kompliment, das
aber bei näherem Hinsehen gar keins ist, sondern das genaue Gegenteil: eine Beleidigung.
Wie letztens der Typ, der ihm mit einem vermeintlich besorgtem
Lächeln mitteilte: „Du bist aber blass heute! …richtig käsig. Echt!“
Und wenn er dann was Ehrliches sagt, nämlich zum Beispiel „Du siehst auch
nicht aus wie das blühende Leben“, dann ist er der Böse. Weil das ja nur
„lieb“ gemeint war. Doch nur „nett“ gemeint war. Klar! Und das obwohl der Typ
vorher noch gesagt hat, dass er eine Gesichtsfarbe hätte wie das „eiskalte
Händchen“ aus der Addams Family. Und dann noch gelacht hat über seinen
exquisiten Humor, seine Subtilität, seine…was weiß ich. Aber war ja alles nicht
so gemeint…
Er ist da ja viel zu sensibel. Förmlich hypersensibel.
Ein kleines Sensibelchen, inklusive dickem Bauch (vom vielen „gutgemeinte-Anmerkungen-und-Witzeleien-in-sich-Hineinfressen“) und käsiger Gesichtsfarbe.
Aber wenn du das wirklich nur „nett“ (was für ein Wort
beziehungsweise Unwort) gemeint hast, warum hast du dann nicht gefragt, ob wirklich alles in Ordnung ist, ob ich
mich nicht erst einmal hinsetzen wolle, anstatt hier an der Theke für dich
Kaffee zu machen und deinen Witzen auf Kosten der Mindestlohn-Angestellten zu
lauschen, die noch nicht mal besonders witzig sind. Aber natürlich kann der auf
Mindestlohn beschäftigte sich ja nicht wehren, weil er genau hier steht, hinter
der Theke und du ja der „König“ Kunde bist. Es sei denn er rotzt, kackt, pisst dir
in den Kaffee. Er geht runter auf Klo, steckt sich den Finger ganz tief in
seinen seit mindestens drei Tagen nicht mehr geduschten Arsch (es ist ja Winter
und viel zu kalt zum täglichen Duschen!), ohne sich die Hände zu waschen. Oder
er geht runter auf Klo und holt sich einen runter, indem er dabei an deine Frau
oder deine Tochter denkt und macht dir dann einen Kaffee (auch zum Händewaschen
ist das Wasser unten im Keller viel zu kalt!). Oder, wenn du ihn wirklich abfuckst…
…die Freuden des kleinen Mannes. Der sich um Kunden wie
dich kümmern muss und sich (vermeintlich) nicht wehren kann, weil du ja der
König Kunde bist. Und glauben Sie mir: Die meisten meiner Körperflüssigkeiten
sind nicht halb so blass wie mein Gesicht…wenn du weißt, was ich meine…
Oder bist du wirklich nur zu sensibel und das ist einfach
nur ein Spiel. Eine Art Spiel, bei dem man den anderen testet, sozusagen seine
Verteidigungsbereitschaft austestet, um zu sehen…
…um was zu sehen?
So wie Putin das immer mal wieder mit dem Westen, mit der
Nato macht, indem er Flugzeuge absichtlich in den Flugraum einzelner Länder eindringen
lässt, um zu sehen, ob und wie schnell sie abgefangen werden. Ist das also
normales menschliches Verhalten? Einfach mal antesten, wie der reagiert… Wenn er
mich danach in Grund und Boden redet oder zurückschießt, muss ich in Zukunft
eben ein bisschen vorsichtiger sein, aber wenn er nichts macht, kann ich weiter machen?
Die Frage ist: Warum spielt er nach den Regeln, während
sich keiner sonst dranhält?
Und genau in diesem Moment kommt der Afrikaner rein,
lacht wie Eddie Murphy und sagt: „Du bist immer nur am Geldzählen, wenn ich
dich sehe…bist du nervös oder was?!“
Aber keine Angst: Letztens hat er zurückgeschlagen: Da
hat er zu dem alten Mann, der ihn mal wieder auf seine Plauze oder Plät („Glatze“
für nicht Ringländer) angesprochen hat, gesagt: „Du bist aber blass heute? Bist
du krank? Hast du niedrigen Blutdruck? Oder geht es langsam dem Ende zu? Setz
dich erst mal… Beruhig dich erst mal…
Nein, nur Spaß! Wir machen doch alle nur Spaß… Besonders
hier, in der deutschen Spaß- und Juxgesellschaft…