Auf dem Weg zur Arbeit liest
er Kämpfen von Karl Ove Knausgard und
denkt: Manchmal muss man das Leben einfach so beschreiben, wie es ist. So wie
das auch Knausgard in seinen Romanen macht. In Min Kamp. Und obwohl das auf Deutsch „Mein Kampf“ heißt und der sechste
und letzte Roman des Romanzyklus den Titel Kämpfen
trägt, geht es Knausgard nicht so sehr um den großen politischen oder
historischen Kampf, sondern mehr um den kleinen, alltäglichen „Überlebenskampf“.
Das heißt, dass das, was er
in seinen Büchern beschreibt, nicht der Kampf der Kulturen, sondern der so oft
übersehene Kampf des Alltags, der alltägliche Kampf ums „Überleben“ ist. Aber
vielleicht ist das auch irgendwie das Gleiche und der eine Kampf spiegelt den
anderen wieder, spiegelt sich im anderen wieder. Wer weiß... Vielleicht hat ja
die Dunkelheit, gegen die der „kleine Mann“ tagtäglich in den Kampf zieht, auch
etwas Politisches, etwas zutiefst Politisches. Denn indem er das „was ist“
beschreibt, rückt er die oft in Literatur und Kunst vergessenen, oft
übergangenen, „kleinen Leute“ und ihre
alltäglichen Sorgen in den Blickpunkt und das ist doch etwas zutiefst Demokratisches,
zutiefst Egalitäres. Die gibt es auch, diese Leute. Die haben ihre eigene
Wahrheit, die nicht mehr oder weniger wahrhaftig ist als die der anderen, der
üblichen Romanhelden. Vielleicht sogar ein bisschen wahrhaftiger…
Das, „was ist“ wie es ist beschreiben,
denkt er, in die Bahn einsteigend. So wie es ist. Wahrhaftig. Die Dinge so zu
schreiben, wie sie sind. Objektiv. Keine Meinungen, keine Gefühle, kein gar
nichts. Wie das Pärchen, das ihm in der Bahn auf dem Vierer gegenüber sitzt. Das
mittelaltrige Pärchen ihm gegenüber. Auf dem Weg ins hohe Alter, an der
Schwelle… Er trägt ein grau gewaschenes Polo-Shirt und eine dieser weißen
Shorts mit den Taschen an der Seite. Die Schläfen grau, aber das Haupthaar noch
ein bisschen schwarz. Schwarz-braun. Sie sitzt ihm auf dem Vierer gegenüber
(sie sind also verheiratet) hat braun gefärbte Haare, eine Brille und trägt eine
lange weiße Hose (das sind bestimmt die Reste eines ehemaligen Partner-Looks)
und einen blauen Cardigan, einen dieser Strick-Pullover. Sie reden nicht
Deutsch. Sondern irgendeine osteuropäische Sprache. So sehen sie auch aus.
Leicht osteuropäisch. Vielleicht polnisch oder russisch oder ukrainisch.
Rumänisch oder bulgarisch glaub ich nicht. Obwohl der Typ ziemlich braun ist.
So als wäre er gerade im Urlaub gewesen. Im Urlaub von Deutschland. Er guckt
nach links, die lange Reihe von Sitzen am Fenster entlang. Da sitzt ein junger
Araber mit Vollbart, der eine schwarze Trainingshose von Paris St. Germain mit
einem roten Streifen an der Seite anhat,
und passend dazu ein graues Sweatshirt mit blauen Streiten an der Seite.
Seine Schläfen sind bis auf die Haut kurzgeschoren und oben hat er kurze Haare.
Ein Kind kommt in den Gang gelaufen, mit seinen kleinen Füßchen, seinen kleinen
Schühchen. Seinen kleinen Beinchen, auf denen es sich bestimmt noch nicht allzu
lange aufrechthalten kann.
Das gibt doch Hoffnung. Bis
du an den Vater denkst, an den armen Vater denken musst, der vielleicht noch
gar nichts von seinem doch ziemlich möglichen, ziemlich wahrscheinlichen
Schicksal weiß…der einmal Unterhalt zahlen wird. Und kaum denkst du das, kommt
auch schon Mama. Unmöglich zu sagen, ob das eine Verlass-Mama ist. Das wird die
Zeit zeigen.
Ein weiteres Kind kommt fast
angelaufen. Es ist ein kleines Mädchen mit blond-braunen Haaren
und einem süßen kleinen Pferdeschwanz.
„Mama mitkommen!“, sagt es.
„Mama mitkommen!“
„Dann setze ich mich auf
Treppe.“
Es setzt sich auf die kleine
Treppe an der Tür.
„Ich geh nicht ohne Mama!“
Und dann, ein bisschen
später: „Mama…Papa…“
Wie alt die wohl sein mag?
Zwei? Anderthalb? So unschuldig, so süß…
Du erinnerst dich noch vage
an die Zeit, wo María auch noch so klein war.
„Ich weiß das nicht mehr,
das musst du mir sagen…“, hat sie letztens dazu gesagt.
Du denkst an dieses Zitat,
dass du eben gelesen hast. In „Kämpfen“. Wie ging das noch mal? Du blätterst
auf Seite 22 des Buches zurück. Da! Da steht:
Aber so war das mit Kindern, alles
vollzog sich in bestimmten Zeiträumen, und diese Perioden waren irgendwann zu
Ende. Bald waren sie erwachsen, und diejenigen, die sie als Kinder waren und
die ich geliebt hatte, würden fort sein. Ja, wenn ich Fotos sah, auf denen sie
nicht älter als ein Jahr waren, wurde ich manchmal traurig, weil es die, die
sie damals gewesen waren, schon jetzt nicht mehr gab.
Das ist das, was ist. Das
ist halt, wie es ist. Wie das halt so ist
Als du in Bonn an Gleis 2
ausgestiegen bist und in den Zug nach Bad Godesberg einsteigen willst, siehst
du eine Gruppe junger Frauen, Mädchen an dir vorbeiziehen, die alle irgendwie
feierlich gekleidet und auch irgendwie feierlich drauf sind. Die eine hat sogar
einen Schleier im Haar. Hey, ich weiß, was das ist. Aber wie nennt man das
nochmal? Ein Junggesellenabschied ist es ja nicht, das sind ja alles Frauen…
Auf Englisch heißt das hen do oder hen party, also Hennen-Party. Aber auf
Deutsch heißt das nicht so…
Die können auch schön feiern
denkst du, als die nicht ganz so begeisterte Nachhut an dir vorbeitrottet…die
können auch schön feiern, die ham ja nichts zu verlieren, als Frauen…denen geht
es ja nach der Hochzeit meist besser als vorher…
Die Dinge sind halt so wie
sie sind. Du musst lernen zu akzeptieren…