Samstag, 17. Juni 2017

Grüne Lämpchen am Ende des Tunnels













In M. steigt er extra ganz hinten aus der Bahn aus. Dann brauch er nicht so weit zu laufen. Nur diesen langen Weg an den Gleisen entlang und dann über die Schranke. Die um diese Zeit sowieso nicht mehr zu geht. Neben ihm, hinter ihm steigen auch diese zwei Typen aus der Bahn. Ausländer, Araber glaub ich, keine Ahnung, ob das Flüchtlinge sind. So zwei junge Typen Anfang zwanzig, wenn überhaupt, mit Muskelshirts, aber ohne die dazugehörigen Muskeln. Aber das ist ja egal, in diesem Alter. Am Anfang will er sogar extra hinten rum gehen, durch die Unterführung, nur um denen aus dem Weg zu gehen, weil die ihm komisch vorkommen. Aber dann entscheidet er sich doch dafür, an ihnen vorbeizugehen. Die Faulheit siegt also am Ende. Oder die Dummheit?

Die beiden bleiben an den Gleisen, unter dem Pfeiler der geschlossenen Fußgängerbrücke stehen. Als er an ihnen vorbeigeht, macht der eine so Affengeräusche. Wie ein Tier. Scheiße. Wenn die ihm jetzt nachgehen…

Bis zum Bahnübergang sind es ungefähr 200 Meter. Kein anderer nimmt diesen Weg. Nur er. Scheiße. Wenn die mir jetzt hinterherkommen. Hier hört dich keiner schreien. Wenn du überhaupt dazu kommst zu schreien. Mit deinem Laptop und deinem dicken Portemonnaie, dass du auch noch dummerweise in der Gesäßtasche deiner Hose hast. Dafür sterbe ich, für den Laptop… Hast du letztens auf der Arbeit gesagt. Zu Yasir. Ganz großspurig. Aber auf der Arbeit hast du auch einen Alarmknopf. Und ein funktionierendes Telefon. Bist du auf dem alten Telefon deiner Tochter (das du bis auf weiteres mit dir führen musst, weil du blank wie der Arsch von Kim Kardashian bist) die Nummer der Polizei gewählt hast, bist du schon lange tot – es sei denn, du kannst sie zum Warten überreden. Hold on a sec, mate… Hier nicht, hier in freier Wildbahn, wo diese beiden menschlichen Tiere deine Angst förmlich riechen können. Dann musst du eben kämpfen, dich verteidigen. Du guckst du der leeren Bierflasche in der Seitentasche deines Rucksacks. 8 Cent sind 8 Cent. Vielleicht könntest du dich ja damit verteidigen. Vielleicht hat Gott dich die ja extra mitnehmen lassen. Vielleicht hat Gott ja einen Plan mit dir. Oder ist alles nur Zufall, nur ein einziger, brutaler Zufall? Du gehst schnell, extra schneller, damit du einen Vorsprung hast, sollten sie doch noch hinter dir herkommen. Im Moment tut sich zwar nichts, aber du weißt, dass sie dich im Ernstfall einholen würden. Du bist nicht dünn und wendig wie sie, du bist ein Brecher; der am Ende seinen Mann stehen und sich verteidigen muss. Du bist jetzt fast an der Schranke, fast am Bahnübergang und traust dich gar nicht, dich umzudrehen, um nachzugucken, ob die noch immer da stehen, unter den Stahlpfeilern, in sicherer Distanz? Das Einzige, was du machen kannst, ist, in die Nacht hineinzuhorchen. Wie ein Hase, mit seinen langen Ohren. Du gehst über die Schranke, über die breite Landstraße und, auf der anderen Seite angekommen, denkst du: Wenn die jetzt kommen und Ärger wollen, dann kriegen sie den ganzen Frust der letzten zwei Jahre, was sag ich, der letzten zehn Jahre, ab. Aber es ist leichter, das auf der Arbeit zu sagen, wo du gut behütet bist, da ist es leichter zu sagen: „Der soll ruhig kommen. Dann kriegt er die ganze Wut, die ganze Frustration ab, die sich in mir aufgestaut hat. Soll er ruhig kommen!“ Wahrscheinlich denkst du das eh nur, weil du jetzt ziemlich sicher sein kannst, dass sie dir nicht gefolgt sind. Kannst du das? Du bist mittlerweile beim Penny-Markt angekommen, gehst an dem Parkplatz entlang, denkst: Hier sind überall Häuser. Wenn die dir jetzt doch noch hinterherkommen, dann schreist du einfach wie bekloppt. Darin hast du ja Übung: Das hast du schließlich deine gesamte Jugend Zuhause gemacht. (Was sollen denn die Nachbarn denken – mir doch scheißegal! Ahhhhhhhh…) Dann gehst du irgendwo rein, in einen dieser Hauseingänge und klingelst an allen Klingen Sturm – solange, bis dir jemand aufmacht. Oder schreist mitten auf der Straße wie am Spieß. Aber meinst du, dass dir wirklich jemand aufmachen würde, hier, in dieser Seitenstraße, mitten in der Nacht in M.? Vielleicht würdest du gar nicht dazu kommen, hier Sturm zu klingeln… Du gehst an einer Toreinfahrt vorbei und denkst: Scheiße, hier könnte ich gar nicht klingeln. Wenn die jetzt kommen würden müsste ich erst mal zum nächsten Haus laufen. Mitsamt Laptop und Rucksack. Oder eben…kämpfen… Komm schon, du könntest das, nachdem du eben diesen feurigen Hähnchen-Döner vom Türken. Den Griechen gibt es ja nicht mehr. Der hatte richtig Feuer dahinter. Da fingst du an zu schwitzen wie ein Tier, in der Bahn. Das war dir schon peinlich, obwohl keiner bei dir auf/im Sechser saß. Wie ein Tier! Sollen sie doch kommen! Trotzdem gehst du zügig über die Hauptstraße unterhalb des Kreisels. Guckst dich noch ein letztes Mal um, siehst aber niemanden. Selbst im Schein der Straßenlaterne auf der Ecke nicht. Puh, das wäre geschafft!, denkst du, als du am Netto vorbeikommst. Die Jugendlichen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Hier in M. Keine KKM! KK-Mafia, mein fetter Arsch!

Fast bist du sogar ein bisschen enttäuscht, haha. Dass du keine Chance hattest, deine angeschlagene Männlichkeit in dieser lauen Sommernacht endlich mal unter Beweis zu stellen. Ihnen den Kopf abzureißen und in ihren Hals zu pissen, diesen…

Um etwa zehn nach zwei schließt er endlich die Wohnungstüre auf und ist Zuhause. Endlich! Doch kaum ist er zur Tür rein, da fängt es in seinem Körper auch schon heftig an zu drücken. Das hat er öfters. Kaum ist er da, muss er auch schon auf Klo. Aber vorher noch schnell die Computertasche in Reichweite bringen, den Stuhl vor der Kloschüssel in Stellung bringen und…das Internet einstöpseln – und das alles mit zusammengekniffenen Arschbacken. Schließlich muss er ja noch nach seinem Blog gucken. Doch dann sieht er plötzlich, dass das mit dem Internet gar nicht mehr nötig ist. Denn alle grünen Lämpchen am Router leuchten bereits. Komisch…ich könnte schwören…

…dass ich das heute Nachmittag, als ich gegangen bin, ausgemacht hab. Um Strom zu sparen. Definitiv. Da hab ich sogar noch daran gedacht, dass sich die Uhr am Herd nicht ausstellen lässt und dadurch Tag und Nacht Strom frisst. Zwar nur kleine Mengen, aber das läppert sich. Er ist sich fast 100%ig sicher, dass er den Internet-Stecker rausgezogen hat. Oder war jemand hier? In seiner Abwesenheit? Werde ich langsam etwa bekloppt? Er guckt sich um, bemerkt aber nichts Auffälliges. Außer das Internet. Das hat er doch ausgemacht. Aber María hat doch gar keinen Schlüssel – zumindest nicht für die Wohnungstür. Oder? Und wenn sie ihn nachgemacht hat? Nein, das ist doch ein Sicherheitsschlüssel, den kann man doch gar nicht so einfach, gar nicht so ohne Weiteres nachmachen lassen. Dazu brauch man doch die Erlaubnis des Eigentümers. Oder nicht? Keine Ahnung.

…und wenn ihre Mutter den nachgemacht hat. Und hier extra das Internet angelassen hat, um ihn in den Wahnsinn zu treiben… Wie nennt man das noch mal in der Psychologie…? Gaslighting. Ja, Gaslighting, das ist es! Das kommt von irgendeinem Film, in dem ein Verbrecher tatsächlich seine Ehefrau in den Wahnsinn treiben will oder treibt, indem er permanent an ihrer Wahrnehmung zweifelt, Dinge verstellt beziehungsweise absichtlich verlegt, ein ausgeschaltetes Router in der Abwesenheit des Ex-Mannes wieder einschaltet etc… Oder eben die Existenz des Gaslichtes, das Bella (was für ein schöner Name!) in dem Theaterstück sieht, bezweifelt. Gaslighting eben. So nennt man das in der Psychologie. Indem man dem Opfer, das wie er eh schon ein bisschen labil ist, langsam den Glauben an die Dinge, so wie sie sind, an die Realität selbst, nimmt.

Oder ist das doch nur ParanoiaParanoia hervorgerufen durch die Realität seiner Trennung, die sich nicht mit seinem Wunschdenken, seinen Sehnsüchten in Einklang bringen lässt Es kann ja auch sein, dass er tatsächlich vergessen hat, das Router auszuschalten, obwohl er sich felsenfest sicher war, es ausgeschaltet zu haben. Um Strom zu sparen. Weil er Strom sparen will. Weil er Strom sparen muss. Vergisst man dann so etwas? So etwas Wichtiges? Wenn man die ganze Zeit daran denkt? Wenn man sogar noch an die ständig tickende Uhr im Herd denkt?

Ich werd bekloppt, ich werd langsam echt bekloppt, denkt er als er die grünen Lämpchen des Routers im Dunkeln leuchten sieht.

Das ist ja hier fast schon wie im großen Gatsby, wie das grüne Licht, das Gatsby meint auf der anderen Seite des Sundes wahrzunehmen und das er mit seiner Geliebten, aber für immer verlorenen Daisy assoziiert. Genau wie mit den beiden Typen eben. War das etwa auch nur die Sehnsucht nach Gewalt, nach einem Befreiungsschlag – im wahrsten Sinne des Wortes –, der Licht in das Dunkel seines Leben bringt…


…Morgen laufen wir schneller, strecken die Arme weiter aus und einen schönen Tages, so kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom. Und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit…






Sie ist noch geblieben, während ‒‒‒‒‒‒‒ schon weg ist.