In M. steigt er extra ganz hinten
aus der Bahn aus. Dann brauch er nicht so weit zu laufen. Nur diesen langen Weg
an den Gleisen entlang und dann über die Schranke. Die um diese Zeit sowieso
nicht mehr zu geht. Neben ihm, hinter ihm steigen auch diese zwei Typen aus der
Bahn. Ausländer, Araber glaub ich, keine Ahnung, ob das Flüchtlinge sind. So
zwei junge Typen Anfang zwanzig, wenn überhaupt, mit Muskelshirts, aber ohne
die dazugehörigen Muskeln. Aber das ist ja egal, in diesem Alter. Am Anfang
will er sogar extra hinten rum gehen, durch die Unterführung, nur um denen aus
dem Weg zu gehen, weil die ihm komisch vorkommen. Aber dann entscheidet er sich
doch dafür, an ihnen vorbeizugehen. Die Faulheit siegt also am Ende. Oder die
Dummheit?
Die beiden bleiben an den
Gleisen, unter dem Pfeiler der geschlossenen Fußgängerbrücke stehen. Als er an
ihnen vorbeigeht, macht der eine so Affengeräusche. Wie ein Tier. Scheiße. Wenn
die ihm jetzt nachgehen…
Bis zum Bahnübergang sind es
ungefähr 200 Meter. Kein anderer nimmt diesen Weg. Nur er. Scheiße. Wenn die
mir jetzt hinterherkommen. Hier hört dich keiner schreien. Wenn du überhaupt
dazu kommst zu schreien. Mit deinem Laptop und deinem dicken Portemonnaie, dass
du auch noch dummerweise in der Gesäßtasche deiner Hose hast. Dafür sterbe ich,
für den Laptop… Hast du letztens auf der Arbeit gesagt. Zu Yasir. Ganz
großspurig. Aber auf der Arbeit hast du auch einen Alarmknopf. Und ein
funktionierendes Telefon. Bist du auf dem alten Telefon deiner Tochter (das du
bis auf weiteres mit dir führen musst, weil du blank wie der Arsch von Kim
Kardashian bist) die Nummer der Polizei gewählt hast, bist du schon lange tot –
es sei denn, du kannst sie zum Warten überreden. Hold on a sec, mate… Hier nicht, hier in freier Wildbahn, wo diese
beiden menschlichen Tiere deine Angst förmlich riechen können. Dann musst du
eben kämpfen, dich verteidigen. Du guckst du der leeren Bierflasche in der
Seitentasche deines Rucksacks. 8 Cent sind 8 Cent. Vielleicht könntest du dich
ja damit verteidigen. Vielleicht hat Gott dich die ja extra mitnehmen lassen.
Vielleicht hat Gott ja einen Plan mit dir. Oder ist alles nur Zufall, nur ein
einziger, brutaler Zufall? Du gehst schnell, extra schneller, damit du einen
Vorsprung hast, sollten sie doch noch hinter dir herkommen. Im Moment tut sich
zwar nichts, aber du weißt, dass sie dich im Ernstfall einholen würden. Du bist
nicht dünn und wendig wie sie, du bist ein Brecher; der am Ende seinen Mann
stehen und sich verteidigen muss. Du bist jetzt fast an der Schranke, fast am
Bahnübergang und traust dich gar nicht, dich umzudrehen, um nachzugucken, ob
die noch immer da stehen, unter den Stahlpfeilern, in sicherer Distanz? Das
Einzige, was du machen kannst, ist, in die Nacht hineinzuhorchen. Wie ein Hase,
mit seinen langen Ohren. Du gehst über die Schranke, über die breite Landstraße
und, auf der anderen Seite angekommen, denkst du: Wenn die jetzt kommen und
Ärger wollen, dann kriegen sie den ganzen Frust der letzten zwei Jahre, was sag
ich, der letzten zehn Jahre, ab. Aber es ist leichter, das auf der Arbeit zu
sagen, wo du gut behütet bist, da ist es leichter zu sagen: „Der soll ruhig
kommen. Dann kriegt er die ganze Wut, die ganze Frustration ab, die sich in mir
aufgestaut hat. Soll er ruhig kommen!“ Wahrscheinlich denkst du das eh nur,
weil du jetzt ziemlich sicher sein kannst, dass sie dir nicht gefolgt sind.
Kannst du das? Du bist mittlerweile beim Penny-Markt angekommen, gehst an dem Parkplatz
entlang, denkst: Hier sind überall Häuser. Wenn die dir jetzt doch noch
hinterherkommen, dann schreist du einfach wie bekloppt. Darin hast du ja Übung:
Das hast du schließlich deine gesamte Jugend Zuhause gemacht. (Was sollen denn
die Nachbarn denken – mir doch scheißegal! Ahhhhhhhh…) Dann gehst du irgendwo
rein, in einen dieser Hauseingänge und klingelst an allen Klingen Sturm –
solange, bis dir jemand aufmacht. Oder schreist mitten auf der Straße wie am
Spieß. Aber meinst du, dass dir wirklich jemand aufmachen würde, hier, in
dieser Seitenstraße, mitten in der Nacht in M.? Vielleicht würdest du gar nicht
dazu kommen, hier Sturm zu klingeln… Du gehst an einer Toreinfahrt vorbei und
denkst: Scheiße, hier könnte ich gar nicht klingeln. Wenn die jetzt kommen
würden müsste ich erst mal zum nächsten Haus laufen. Mitsamt Laptop und
Rucksack. Oder eben…kämpfen… Komm schon, du könntest das, nachdem du eben
diesen feurigen Hähnchen-Döner vom Türken. Den Griechen gibt es ja nicht mehr. Der hatte richtig Feuer dahinter. Da fingst du an zu schwitzen wie ein
Tier, in der Bahn. Das war dir schon peinlich, obwohl keiner bei dir auf/im
Sechser saß. Wie ein Tier! Sollen sie doch kommen! Trotzdem gehst du zügig über
die Hauptstraße unterhalb des Kreisels. Guckst dich noch ein letztes Mal um,
siehst aber niemanden. Selbst im Schein der Straßenlaterne auf der Ecke nicht.
Puh, das wäre geschafft!, denkst du, als du am Netto vorbeikommst. Die
Jugendlichen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Hier in M. Keine KKM!
KK-Mafia, mein fetter Arsch!
Fast bist du sogar ein
bisschen enttäuscht, haha. Dass du keine Chance hattest, deine angeschlagene
Männlichkeit in dieser lauen Sommernacht endlich mal unter Beweis zu stellen.
Ihnen den Kopf abzureißen und in ihren Hals zu pissen, diesen…
Um etwa zehn nach zwei
schließt er endlich die Wohnungstüre auf und ist Zuhause. Endlich! Doch kaum
ist er zur Tür rein, da fängt es in seinem Körper auch schon heftig an zu
drücken. Das hat er öfters. Kaum ist er da, muss er auch schon auf Klo. Aber
vorher noch schnell die Computertasche in Reichweite bringen, den Stuhl vor der
Kloschüssel in Stellung bringen und…das Internet einstöpseln – und das alles
mit zusammengekniffenen Arschbacken. Schließlich muss er ja noch nach seinem
Blog gucken. Doch dann sieht er plötzlich, dass das mit dem Internet gar nicht
mehr nötig ist. Denn alle grünen Lämpchen am Router leuchten bereits.
Komisch…ich könnte schwören…
…dass ich das heute
Nachmittag, als ich gegangen bin, ausgemacht hab. Um Strom zu sparen. Definitiv.
Da hab ich sogar noch daran gedacht, dass sich die Uhr am Herd nicht ausstellen
lässt und dadurch Tag und Nacht Strom frisst. Zwar nur kleine Mengen, aber das
läppert sich. Er ist sich fast 100%ig sicher, dass er den Internet-Stecker
rausgezogen hat. Oder war jemand hier? In seiner Abwesenheit? Werde ich langsam
etwa bekloppt? Er guckt sich um, bemerkt aber nichts Auffälliges. Außer das
Internet. Das hat er doch ausgemacht. Aber María hat doch gar keinen Schlüssel
– zumindest nicht für die Wohnungstür. Oder? Und wenn sie ihn nachgemacht hat?
Nein, das ist doch ein Sicherheitsschlüssel, den kann man doch gar nicht so
einfach, gar nicht so ohne Weiteres nachmachen lassen. Dazu brauch man doch die
Erlaubnis des Eigentümers. Oder nicht? Keine Ahnung.
…und wenn ihre Mutter den
nachgemacht hat. Und hier extra das Internet angelassen hat, um ihn in den
Wahnsinn zu treiben… Wie nennt man das noch mal in der Psychologie…? Gaslighting. Ja, Gaslighting, das ist es! Das kommt von irgendeinem Film, in dem ein
Verbrecher tatsächlich seine Ehefrau in den Wahnsinn treiben will oder treibt,
indem er permanent an ihrer Wahrnehmung zweifelt, Dinge verstellt
beziehungsweise absichtlich verlegt, ein ausgeschaltetes Router in der
Abwesenheit des Ex-Mannes wieder einschaltet etc… Oder eben die Existenz des
Gaslichtes, das Bella (was für ein schöner Name!) in dem Theaterstück sieht,
bezweifelt. Gaslighting eben. So
nennt man das in der Psychologie. Indem man dem Opfer, das wie er eh schon ein
bisschen labil ist, langsam den Glauben an die Dinge, so wie sie sind, an die
Realität selbst, nimmt.
Oder ist das doch nur Paranoia. Paranoia hervorgerufen durch die Realität seiner Trennung, die
sich nicht mit seinem Wunschdenken, seinen Sehnsüchten in Einklang bringen
lässt Es kann ja auch sein, dass er tatsächlich
vergessen hat, das Router auszuschalten, obwohl er sich felsenfest sicher
war, es ausgeschaltet zu haben. Um Strom zu sparen. Weil er Strom sparen will.
Weil er Strom sparen muss. Vergisst man dann so etwas? So etwas Wichtiges? Wenn
man die ganze Zeit daran denkt? Wenn man sogar noch an die ständig tickende Uhr
im Herd denkt?
Ich werd bekloppt, ich werd
langsam echt bekloppt, denkt er als er die grünen Lämpchen des Routers im
Dunkeln leuchten sieht.
Das ist ja hier fast schon
wie im großen Gatsby, wie das grüne Licht, das Gatsby meint auf der anderen
Seite des Sundes wahrzunehmen und das er mit seiner Geliebten, aber für immer
verlorenen Daisy assoziiert. Genau wie mit den beiden Typen eben. War das etwa
auch nur die Sehnsucht nach Gewalt, nach einem Befreiungsschlag – im wahrsten
Sinne des Wortes –, der Licht in das Dunkel seines Leben bringt…
…Morgen
laufen wir schneller, strecken die Arme weiter aus und einen schönen Tages, so
kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom. Und unablässig treibt es uns
zurück in die Vergangenheit…
Sie ist noch geblieben,
während ‒‒‒‒‒‒‒ schon weg ist.