“Ninety-nine per cent of traditional English literature
concerns people who never have to worry about money
at all. We always seem to be watching or reading about
emotional crises among folk who live in a world of
great fortune both in matters of luck and money; stories
and fantasies about rock stars and film stars, sporting
millionaires and models; jet-setting members of the
aristocracy and international financiers.”
― James Kelman
Morgens wacht er auf und hat
Kopfschmerzen. Richtige Kopfschmerzen. Hatte er schon öfters in letzter Zeit.
Ist ja auch kein Wunder. Bei dieser ganzen Scheiße. Lief ja diese Woche sogar
im Fernsehen. Ärmer Menschen sterben früher. Dass die das überhaupt gebracht
haben, im Ersten wundert mich, denkt er. Im deutschen Lügenfernsehen. Das sich
mehr um Trump schert als um die eigenen Leute. Trump ist dies, Trump ist das,
Trump macht dies, Trump macht das, nur um nicht sagen zu müssen: Was macht denn
Merkel oder Schulz. Oder keine Ahnung, welche der anderen Witzfiguren. Was
machen die denn für die Leute. Die normalen Leute. Die arm sind. Und früher
sterben. Nichts. Nichts außer Gelaber und dumme Sprüche. Nichts. Wir müssen uns
ja um Trump kümmern. Das ein Trump auch hier Erfolg hätte, schert die nicht.
Das sehen die nicht. Das wollen die
nicht sehen. Genau wie die Wohnungsnot, die Flüchtlingskrise, die
Dumping-Löhne. Solange Trump noch in Amerika regiert, ist das ja wichtiger.
Aber das Trump genau aus dieser Unruhe entstanden ist…das hat doch alles nichts
mit nichts zu tun. Hauptsache von eigenen Problemen ablenken, denkt er, während
er wieder mal an einem Obdachlosen in der Tannenbuscher "City" vorbeikommt. Der vom
Wachdienst, der sieht das. Der hat recht. Der ist ein guter Mann. Wie er so
todmüde nachts durch Tannenbusch schlendert. Und versucht, dem Chaos Einhalt zu
gebieten. Der sagt das auch, das mit dem Obdachlosen an der Ecke. Mitte 30.
„…da kümmert sich keiner
drum.“
Während er an seiner Theke
steht und keinen Kaffee will, weil er sonst gar nicht mehr schlafen kann. Mit
seinem immer länger werdenden Bart sieht er fast aus wie ein Philosoph. Noch
ein Beruf, der obsolet geworden ist: der des Philosophen. Die Deutschen wollen
keine Philosophen mehr. Nachdem wir mal führend waren, in diesem Bereich. Wie
in vielen anderen. Ein Deutscher hat gesagt: „Gott ist tot!“ Ein Deutscher hat
vom Sein und Seinsverlust gesprochen. Aber das will ja keiner mehr hören. Davon
will ja keiner mehr wissen.
Er hört sich das an, das
Arme früher sterben und rechnet sich die Jahre aus, die er noch hat. So viele sind
es dann doch nicht mehr, denkt er. Lieber nicht drüber nachdenken. Denken ist
sowieso nicht mehr angesagt. Nachdenken noch weniger. Das wird bald bestimmt
abgeschafft. Das Fühlen haben die schon lange abgeschafft oder an die Soaps
delegiert. Wenn im Fernsehen einer stirbt, werden wir traurig, heulen sogar, an
den Obdachlosen in der U-Bahn fahren wir vorbei. Und wenn sie sterben, umso
besser: Dann müssen wir sie nicht mehr jeden Tag auf dem Weg von und zur Arbeit
ertragen. Das ist dann doch zu nah an „zu Hause“, too close to the bone, das ist nicht so weit weg wie Putin oder
Trump. Bei denen erwartet man das ja. Aber doch nicht hier, im (schlechten)
Gewissen der Welt. Also fragt er sich – während der Bericht über den Typen mit
den kaputten Knien, der raucht und trinkt, und mit seiner Einschätzung, dass er
nur ungefähr 70 Jahre alt war, wahrscheinlich goldrichtig liegt – im Fernsehen
läuft: Warum zeigen die das überhaupt? Die Journalisten, die von
Enthüllungsjournalisten der Wahrheit zu Sprachrohren der Politik geworden zu
sein scheinen. Warum bringen die noch solchen Berichte? Wollen die etwa doch etwas
ändern? Wollen die etwa doch eine Revolution? Oder – immerhin ist "Schadenfreude"
ein deutsches Wort, das sogar seinen Weg ins Englische gefunden hat – wollen die
noch Salz in die Wunde streuen. Die fühlen diese Armut nämlich nicht. Die
verdienen 10.000 im Monat und werden über 90 oder gar 100 Jahre alt. Wollen die
die Armen noch weiter ausgrenzen, mit dem medialen Finger auf sie zeigen, die
Armen, die die AfD wählen und sich noch nicht mal, nicht mehr, von Schulz täuschen
lassen? Wollen die sagen: Seid ihr wirklich so? Wollt ihr wirklich so sein? Wie
diese Shows bei RTL, mit der Polizei und so weiter, die immer wieder Recht und
Ordnung herstellt? Hartz-IV-TV? Ist das Armuts-Voyeurismus? Beim Ersten? Oder
Angstmache? Damit sich die Leute weiter nur um sich selbst kümmern, um ihr eigenes
Überleben? Und nicht die anderen sehen? Sind das etwa die letzten Züge der
medialen 68er-Bewegung, die postuliert, dass wir uns nur alle schön um uns
selbst, um unseren eigenen Arsch kümmern müssen, dann wird schon alles gut?
Unsere Individualität ausleben müssen: Zwischen Apple und Samsung, Pepsi und
Coca Cola, Nike und Adidas, Aldi und Lidl?
Aber egal: Er selbst ist ja
auch nicht besser. Er macht ja auch nichts für „die Armen“. Für andere. Er leidet
ja auch nur für sich selbst. Und außerdem ist er ja in gut 30 Jahren eh weg,
wenn er so bleibt, wie er ist. So arm, so ausgegrenzt, so sich nur um sich
selbst drehend. Dann ist das Problem auch gelöst. Und bei den Kopfschmerzen,
die er heute hat, löst sich das Problem vielleicht sogar wesentlich früher…
Und außerdem: Wer will schon
ewig leben?
Oder wie Herr Baden, der ein
Haus in einem ruhigen Vorort hat und früher bei der Telekom groß im Geschäft
war, ihm das einmal gesagt hat, als er nach der Trennung total am Boden zerstört
war und sich bei ihm ausgeheult hat: „Willst du wirklich SO noch 30 Jahre
weiterleben? SO WIE JETZT?“ So kaputt? So leidend? So arm? So perspektivlos?
Das ist die Frage
Sein oder Nichtsein.
Heidegger oder Shakespeare
Merkel oder Trump
Oder gibt es vielleicht doch
eine Alternative?
Wahrscheinlich sagen die
auch noch (oder denken es zumindest): Wer früher stirbt, ist länger tot!
Er kriecht aus seinem alten
Doppelbett, dessen andere Seite schon lange leer ist, trinkt einen Schluck Cola
Zero aus der Plastikflasche, geht in die Küche und macht sich einen
Käse-Salami-Mayonnaise-Wrap mit Butter, dann noch einen…
Er ist ja selbst dran
schuld, ich weiß.
„Du bist ja selbst dran
schuld!“
„Jeder ist seines eigenen
Glückes Schmied!“
„Dann lass doch mal diesen
Scheiß aus dem Leib. Die Cola und so…“
...würde sein Vater sagen. Sein
Vater, der 50 Jahre als Kfz-Mechaniker geschuftet hat, geraucht hat, flaschenweise
Cola gesoffen hat und dann für 1600€ in Rente gegangen ist, einer Rente, von
der er sich noch nicht mal eine vernünftige Wohnung leisten werden kann, wenn
er irgendwann mal aus seiner Wohnung raus muss. „Eigenbedarf“ nennt sich so
was. Aber vielleicht wird er die nächste Wohnung ja gar nicht mehr brauchen.
Nach seinem zweifachen Bypass…
Obwohl seine Lebenserwartung
etwas über dem arbeitslosen Möbelpacker beim Morgenmagazin liegen dürfte…