Nach der Arbeit trinkt er
noch einen Kaffee und kramt sein Handy aus der Innentasche der Jacke. Um Two by Two zu hören. Nicholas Sparks hat
ihn immer noch in seinem Bann, mit seinen gefühlvollen, immer ein bisschen
schnulzigen Romanen, die aber einfach die Seite runter zu fließen scheinen. Wie
Butter. Diese Woche hat er auch endlich The
Notebook bekommen, das vermeintlich beste Buch von Sparks, wenn man dem
Internet-Ranking glaubt. Was er nicht so wirklich tut, aber dann doch irgendwie
wieder… Wie immer.
Auf einmal hat er neben dem
Handy noch etwas anderes zwischen den Fingern. Da ist noch was in dieser engen
Innentasche, die glaub ich extra für Handys gemacht ist. Es fühlt sich glatt an. Er zieht es raus und
guckt es sich an. Eine Karte… Der Kalender! Ja, das ist der
Kalender. Von María. Von früher. Als sie noch im Kindergarten war... Oder schon
in der Schule?
Ja; der war ja in der Jacke.
In der Lederjacke. Und da man die nicht waschen kann, nur reinigen (was du auch
nie machst), ist er immer noch da. Den trage ich jetzt schon ewig mit mir rum. Ein
paar Jahre bestimmt schon. Du guckst ihn dir genauer an. Da steht 2005/2006.
Unter dem Bild. Auf dem sie ein bisschen schüchtern, ein bisschen keck in die
Kamera lächelt. Mit leicht geöffnetem Mund. Fast schwarze, rund geschnittene halblange
Haare und große braune Augen. Sie war schon immer total fotogen. Er weiß noch,
damals in Aberdeen, in Schottland, als er abends draußen vor dem Englischen
Seminar vor der Telefonstelle stand, mit seiner Frau und seiner Tochter, und da
tatsächlich Lucía Etxebarria vorbeikam. Mit einer Freundin. Die spanische
Schriftstellerin! Kein Witz! Die war das echt, das kann man auch in den Büchern
von der nachlesen, dass die damals in Aberdeen war. Die hat da sogar
Vorlesungen gehalten und alles. Aber damals wusste er noch gar nicht richtig,
wer das eigentlich war. Dass das eine Schriftstellerin war, ok, das wusste er,
aber nicht, dass ihre Bücher irgendwann mal so einen wichtigen Platz in seinem
Leben einnehmen würden, dass sie einmal die Bücher seiner Trennung sein würden,
davon hatte er keine Ahnung. Dass er Raquel einmal so lieben würde. Also
interessierte er sich nicht weiter für sie, als er sie aus der Tür des
Englischen Seminars kommen sah. Im Regent Building. Ich glaub, da war das. Er
interessierte sich nicht für sie, bis sie María sah und sagte: „¡Qué niña más maja!“ „Was für ein
hübsches Kind!“ Die sagen nicht bella oder
linda, wie die Latinos, sondern maja. Das war so geil, das hat er bis
heute nicht vergessen. Lucía Etxebarria! Das war echt Lucía Etxebarria! Die
seine Tochter hübsch fand! Unglaublich, ey!
Er guckt sich das Foto an.
2005/2006. Boah, wie lange das her ist. So viel Zeit. Da war sie fünf? Oder
sechs? Nein, wenn das 2005/2006 war, dann war sie da schon sechs. Bestimmt.
Wenn nicht sogar sieben. 1999 geboren, im März. Sie lächelt ihn an. Schüchtern,
aber auch ein bisschen kokett. Mit diesen großen Augen. Ein hübsches Kind. Ein
so hübsches Kind. Das würde der Lena gefallen. Seiner Schülerin. María mit
ihren schwarzen Haaren. Ihrem leicht braunen Teint. Unglaublich
Das einzig Vernünftige, was ich
je in meinem Leben zustande gebracht habe
Deine Tochter
so süß so schön so klein
so verletzlich so unschuldig
sie wird immer deine Tochter
sein
she has taught you what love means
She has taught you the meaning of love
Sie hat dir beigebracht, was
Liebe ist
Sie hat dich gelehrt, was
Liebe ist
dich, den Unbelehrbaren
She’s
taught you love
du sagst es immer wieder,
innerlich, denkst es immer wieder
Deine kleine Tochter…
…die jetzt gar nicht mehr so
klein ist. Aber immer noch süß. Die fast schon 18 Jahre alt ist. Diesen Monat,
diesen Monat wird sie 18…
(wie die Zeit vergeht)
Sie hat dir gezeigt, was es
heißt zu lieben
Sie und ihre Mutter
Jetzt ist nur noch sie da
Aber die Liebe ist immer
noch da
dieses Gefühl
diese süßsaure Traurigkeit
dieses Leben
Warum hast du nicht schon
damals mehr Zeit mit ihr verbracht? Dich mehr um sie gekümmert? Sie stärker
beachtet? Wie schön sie ist…denkt er, als er über den Parkplatz am Rheinbacher
Bahnhof geht. Zur Bäckerei.
Aber egal: Ich kann die
Vergangenheit ändern, aber sie ist noch da. Das Jetzt kann ich ändern,
beeinflussen
Jetzt kann ich ein guter
Vater sein. Jetzt muss ich ein guter Vater sein. Der Rest ist egal. Vorbei. Aus
und vorbei. Für immer.
Aber sie ist noch da