Donnerstag, 9. März 2017

Ein hübsches Kind...











Nach der Arbeit trinkt er noch einen Kaffee und kramt sein Handy aus der Innentasche der Jacke. Um Two by Two zu hören. Nicholas Sparks hat ihn immer noch in seinem Bann, mit seinen gefühlvollen, immer ein bisschen schnulzigen Romanen, die aber einfach die Seite runter zu fließen scheinen. Wie Butter. Diese Woche hat er auch endlich The Notebook bekommen, das vermeintlich beste Buch von Sparks, wenn man dem Internet-Ranking glaubt. Was er nicht so wirklich tut, aber dann doch irgendwie wieder… Wie immer.

Auf einmal hat er neben dem Handy noch etwas anderes zwischen den Fingern. Da ist noch was in dieser engen Innentasche, die glaub ich extra für Handys gemacht ist. Es fühlt sich glatt an. Er zieht es raus und guckt es sich an. Eine Karte… Der Kalender! Ja, das ist der Kalender. Von María. Von früher. Als sie noch im Kindergarten war... Oder schon in der Schule?

Ja; der war ja in der Jacke. In der Lederjacke. Und da man die nicht waschen kann, nur reinigen (was du auch nie machst), ist er immer noch da. Den trage ich jetzt schon ewig mit mir rum. Ein paar Jahre bestimmt schon. Du guckst ihn dir genauer an. Da steht 2005/2006. Unter dem Bild. Auf dem sie ein bisschen schüchtern, ein bisschen keck in die Kamera lächelt. Mit leicht geöffnetem Mund. Fast schwarze, rund geschnittene halblange Haare und große braune Augen. Sie war schon immer total fotogen. Er weiß noch, damals in Aberdeen, in Schottland, als er abends draußen vor dem Englischen Seminar vor der Telefonstelle stand, mit seiner Frau und seiner Tochter, und da tatsächlich Lucía Etxebarria vorbeikam. Mit einer Freundin. Die spanische Schriftstellerin! Kein Witz! Die war das echt, das kann man auch in den Büchern von der nachlesen, dass die damals in Aberdeen war. Die hat da sogar Vorlesungen gehalten und alles. Aber damals wusste er noch gar nicht richtig, wer das eigentlich war. Dass das eine Schriftstellerin war, ok, das wusste er, aber nicht, dass ihre Bücher irgendwann mal so einen wichtigen Platz in seinem Leben einnehmen würden, dass sie einmal die Bücher seiner Trennung sein würden, davon hatte er keine Ahnung. Dass er Raquel einmal so lieben würde. Also interessierte er sich nicht weiter für sie, als er sie aus der Tür des Englischen Seminars kommen sah. Im Regent Building. Ich glaub, da war das. Er interessierte sich nicht für sie, bis sie María sah und sagte: „¡Qué niña más maja!“ „Was für ein hübsches Kind!“ Die sagen nicht bella oder linda, wie die Latinos, sondern maja. Das war so geil, das hat er bis heute nicht vergessen. Lucía Etxebarria! Das war echt Lucía Etxebarria! Die seine Tochter hübsch fand! Unglaublich, ey!

Er guckt sich das Foto an. 2005/2006. Boah, wie lange das her ist. So viel Zeit. Da war sie fünf? Oder sechs? Nein, wenn das 2005/2006 war, dann war sie da schon sechs. Bestimmt. Wenn nicht sogar sieben. 1999 geboren, im März. Sie lächelt ihn an. Schüchtern, aber auch ein bisschen kokett. Mit diesen großen Augen. Ein hübsches Kind. Ein so hübsches Kind. Das würde der Lena gefallen. Seiner Schülerin. María mit ihren schwarzen Haaren. Ihrem leicht braunen Teint. Unglaublich

Das einzig Vernünftige, was ich je in meinem Leben zustande gebracht habe

Deine Tochter

so süß           so schön       so klein         
so verletzlich            so unschuldig

sie wird immer deine Tochter sein

she has taught you what love means

She has taught you the meaning of love

Sie hat dir beigebracht, was Liebe ist

Sie hat dich gelehrt, was Liebe ist

dich, den Unbelehrbaren

She’s taught you love

du sagst es immer wieder, innerlich, denkst es immer wieder

Deine kleine Tochter…

…die jetzt gar nicht mehr so klein ist. Aber immer noch süß. Die fast schon 18 Jahre alt ist. Diesen Monat, diesen Monat wird sie 18…

(wie die Zeit vergeht)

Sie hat dir gezeigt, was es heißt zu lieben

Sie und ihre Mutter


Jetzt ist nur noch sie da

Aber die Liebe ist immer noch da

dieses Gefühl

diese süßsaure Traurigkeit

dieses Leben

Warum hast du nicht schon damals mehr Zeit mit ihr verbracht? Dich mehr um sie gekümmert? Sie stärker beachtet? Wie schön sie ist…denkt er, als er über den Parkplatz am Rheinbacher Bahnhof geht. Zur Bäckerei.

Aber egal: Ich kann die Vergangenheit ändern, aber sie ist noch da. Das Jetzt kann ich ändern, beeinflussen

Jetzt kann ich ein guter Vater sein. Jetzt muss ich ein guter Vater sein. Der Rest ist egal. Vorbei. Aus und vorbei. Für immer.

Aber sie ist noch da