Wenn ich einmal sterbe, möchte ich
eingeäschert werden, hörst du. Du bist jetzt für mich verantwortlich. Ich habe
niemanden außer dir. Keine Ahnung, ob deine schmalen Schultern das tragen
können, die Verantwortung, diese schwere Last, mein Gewicht, aber so ist es
eben…
Ich möchte im Höllenfeuer schmoren. Für
immer und ewig. Amen. Er lächelt.
Sie stehen an der Haltestelle und warten
auf den Bus. Ihren Bus. Er hat sie noch zum Bus gebracht. Weil er eh zur Bank
muss…
…und weil er das früher, bei Nadine,
auch immer so gemacht.
Merke: Die Tochter ist kein
Partnerersatz.
Ich weiß, du Muthafucka!
Muthafucka ist in diesem Zusammenhang
auch nicht gerade angebracht. Das ist viel zu eindeutig zweideutig.
Ok, ist gut. Ist ja gut.
Plötzlich sagt sie: Was soll ich machen,
in Kunst?
Einen Gesichtsausdruck musst du machen,
ne?!
Ja. Der will uns fotografieren. Wir
sollen etwas einstudieren. Der Päd…
Keine Ahnung, sagt er müde. Schrei
einfach. Ich würde einfach schreien…
wenn ich könnte
würde ich einfach schreien
Oder guck böse. Oder mach das. Er greift
sich mit dem Zeigefinger an die Tränensäcke und zieht sie nach unten. Dann
sieht das so schwarz aus, dadrunter. Das ist geil, das haben wir früher als Kinder
immer gemacht.
Irgendwie sieht sie voll nicht
begeistert aus. Von seinem Vorschlag.
Plötzlich hat sie eine Idee, sagt: Ich
decke einfach die eine Hälfte ab. Sie tut sich die Hand über die eine Hälfte
des Gesichts. So. Die mach ich schwarz. Das ist es. Und die andere lasse ich
offen.
Hey, ja genau! Das ist geil! Das ist doch mal ne gute Idee! Das ist sogar
tiefgründig. Geil
Das hat sie bestimmt aus dem Internet…
Wie bei einer gespaltenen Persönlichkeit.
Eine Seite in Dunkelheit gehüllt, die andere im Licht. Welche ist seine, welche
die ihrer Mutter? Die in der Dunkelheit oder die im Licht
Das ist gut. Echt!
Und schon kommen ihr Zweifel. Kaum hat
er gesagt, dass er die Idee gut findet, da kommen ihr auch schon wieder Zweifel.
Oder bildet er sich das nur (wieder) ein.
Wann musst du morgen in die Schule?
Normal.
Scheiße, dann sehe ich dich ja gar
nicht…
In Deutschland kann man nicht leben. Die
lassen dich nicht. Keine Chance. Die lassen dich nicht in Ruhe. Dabei wollte er
doch immer nur eins: Dass sie ihn in Ruhe lassen. Das hat er jetzt davon. Wenn
man in Ruhe gelassen werden will, wird man noch härter. Mit Eselpenis, wie sein
kurdischer Kunde sagen würde. Sein Kollege
Sind wir nicht alle Kollegen in
Deutschland
Ich sag dir das. Auch nicht in Berlin.
Geh nach Valencia. Oder nach Cádiz. Oder nach Madrid. Oder irgendwohin. Aber
bleib nicht in Deutschland. die lassen dich nicht
leben
Das ist ja schließlich deine Rolle als
Vater, ihr etwas fürs Leben mitzugeben.
Und schon kommt ihr Bus und sie ist weg.
Er auch. Ich bin wieder weg…
Er macht sich leicht schwankend und müde
auf den Weg zur Bank. Die Sonne scheint und trotzdem ist die Luft frisch, klar,
hier oben. Er war noch nie so nah daran, Alki zu werden, denkt er. Noch nie so
nah dran, seine Sorgen im Alkohol zu ertränken wie jetzt. Er hat sogar noch
eine Flasche Wein Zuhause… Die hat er schon über ein Jahr. Das letzte Mal hat
er an Neujahr getrunken. Wie ein Loch. An ihrem Jahrestag. Dem zwanzigsten.
Manchmal ist es zu hart, das Leben so zu
ertragen. Pur. Ohne alles
Ein Leben pur bitte… Nein, ohne Cola, nur
pur.
Wie in Schottland damals. Da hat er gelebt. Da ist er in Bars gegangen,
hat gesoffen, geheult, gelebt. Warum macht er das hier eigentlich nicht? Weil
das mehr als fünfzehn Jahre her ist und jetzt schon fast 40 ist. 40 sind keine
24 mehr. Im Kopf schon. Im Kopf bleibt man jung. Nur der Körper...
…wie er diesem Mädchen, dieser Schottin,
einfach so den Whisky weggetrunken hat. Im Waterhole.
Dem Wasserloch. So hieß die Studentenkneipe da. Die war immer voll, jeden
Abend. Bis zwölf Uhr. Oder hat er den Whiskey Paulina weggetrunken? Oder
beiden. Auf jeden Fall hat er diese blonde Schottin bequatscht, dass sie zu der
Spanierin, ja, der mit den kurzen Haaren, rübergeht und der sagt, dass er sie
liebt. Dass er sie immer noch liebt. Und die hat das echt gemacht. Die hat das
für einen Witz gehalten. Diese Festlandeuropäer, und besonders diese Deutschen,
die sind doch eh alle ein bisschen seltsam. Am Ende hat ihn Paulina dann
weggezogen von der Schottin. Weil er peinlich war? Oder weil sie gemerkt hat,
dass er ziemlich gut bei der ankam, mit seinem schwarzen, britischen Humor und
seinem südländischen Aussehen. Vielleicht stand die ja auch insgeheim auf ihn…
Damals ist er auch einer Frau
hinterhergelaufen. Wie heute. Aber wenigstens hatte er Spaß dabei. Wenn er
nicht gerade die Wände hochgegangen ist…
Dieses eine Jahr in Schottland; das war
vielleicht echt das einzige Jahr in seinem Leben, wo er gelebt hat, wo er
richtig gelebt hat.
Nur heute ist er gute 15 Jahre älter,
nur ein paar Monate von40 entfernt.
Man ist nie zu alt.
Man ist so alt wie man sich fühlt.
Ach, fick dich doch!
150-160, aber rüstig.
Morgens lief das mit Brangelina im
Fernsehen. Die haben sich getrennt, Brad Pitt und Angelina Jolie. Mit sechs
Kindern! Wenn die sich schon trennen, diese Stars, die alles haben, scheinbar,
was für eine Chance habe ich dann? Wenn sogar denen ihre Ehe nicht hält? Der
Westen schafft sich ab und die Scheidungsanwälte bringen vorher noch ihr
Vermögen in Sicherheit. Vor ihren Frauen. Oder Männern. Er hatte immer gedacht,
die Ehe der beiden würde ewig dauern. Obwohl es Gerüchte gab…
Er hatte immer gedacht, seine Ehe würde
ewig dauern, er könne ewig so weiterleben. Arm, aber glücklich. Pobre pero feliz. Wie die Indios das in
Ecuador das auf die Autos schreiben.
Aber die Realität sieht anders aus. Die
Realität sieht immer anders aus
So wie bei diesem Typen aus Bonn, von
dem er heute gelesen hat. Dem „Tattoo-Killer“, der eher aussah wie ein
tätowierter Freddie Mercury. Mit seinem Clone-Schnäuzer und der runden
Sonnenbrille (bestimmt ein Foto aus besseren Zeiten).Der angeblich seine Ex und
seinen Sohn ermordet haben soll. In einem ganz normalen Block in Duisdorf, wo
er früher mit Nadine gewohnt hat. Den haben sie erwischt. In einem Puff in
Duisdorf. 15,000 € hatte er mitgehen lassen. Angeblich soll er spielsüchtig
sein und die Hälfte schon wieder verspielt haben. Ein „Familiendrama“ hieß es.
Heißt es immer, in der Presse, wenn der Vater mordet. Fast nie die Mutter. Oder
wenn, dann gibt sie nur ihr Einverständnis.
Nadine steht auf Familiendramen.
Später, vor dem Spiegel, als er sich
rasiert, denkt er: Du musst das alles nicht immer so negativ sehen. Es gibt
immer eine Lösung, im Leben. Es gibt immer eine Lösung. Solange man lebt
Nichts ist unmöglich