Donnerstag, 15. September 2016

Schwulitäten














Am Vormittag ruft ihn sein Chef an. Das heißt nicht sein Chef, sondern der Leiter der Halle. Der „Hallenleiter“. Klingt irgendwie komisch. Wie Gauleiter. Aber der ist „nett“. Wirklich. Fast schon zu nett... Der weiß, was mit dir los ist. Bestimmt. Er will, dass er Sonntag einspringt. Für eine Kollegin, die krankgeschrieben ist.

„Jetzt hast du mich gestern gefragt, ob du Sonntag Dienst hast...", sagt er, "...jetzt hast du dir bestimmt schon was vorgenommen...“

Bestimmt. Wie zum Beispiel, die Wand anstarren. In Depressionen versinken. Deine Tochter (und deine Frau) vermissen. Dich erschießen. Ach so, von der Brücke springen hattest du auch noch vor. Vielleicht nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Zuerst nehme ich eine Überdosis Herztabletten, dann erschieße ich mich (mit welcher Waffe?), dann springe ich halbtot und mit Loch im Kopf (was für ein Versager du doch bist, du kannst dich doch nicht mal richtig erschießen!) und im Herzen (was für ein Versager du doch bist, du kannst das Leben noch nicht mal mehr genießen, jemand Neues finden) von der Brücke und am Ende (weil du hier natürlich auch versagst), gibst du auf und kehrst in deine leere Wohnung zurück, starrst die Wand an, vermisst deine Tochter und deine Frau, machst dir Sorgen, bis du nicht mehr kannst und versinkst dann in Depressionen (und vielleicht holst du dir noch zwischendurch einen runter, wenn du Bock hast oder geil bist oder Druck hast oder beides).


„Ne, das hat sich erledigt“, sagst du mysteriös.


Alles hat sich erledigt. Wie bei Raquel in Nosotras no somos como las demás von Lucía Etxebarria ist der Job auch für dich das Einzige, was dir noch geblieben ist. Raquel, deine literarische Lieblingsfigur. Eine Göttin, eine Heldin, eine Kämpferin der modernen Literatur. Die, die nach der Trennung von dem verheirateten Mann, mit dem sie eine kurze, aber intensive Affäre hatte, bei ihrem letzten Treffen zu ihm sagt (frei übersetzt): „Ich will wenigstens einen Kompromiss. Ich will, dass wenn man mich schon verlässt, man wenigstens dafür bezahlt; wenn man mir schon Leid zufügen muss, wenn man mich belügt und betrügt, wenn man mich verachtet, dass man wenigstens dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Ich habe die Nase voll davon, dass die Leute denken, ich sei nichts wert, dass ich nicht das Recht hätte, irgendwelche Forderungen zu stellen, dass es normal ist, dass man mir Versprechungen macht, die man nicht halten kann. Ich habe die Nase davon voll, immer den anderen recht zu geben. Ich werde nicht einfach so aufgeben, ohne mich zu wehren. Ohne, dass man mich wenigstens angehört hat. Du hattest nicht das Recht. Du hattest nicht das Recht...“

Und an einer anderen Stelle weiter unten noch hinzufügt: „Doch, Liebster, ich glaube, dass es dir gut geht, Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass du so viel geheult hast wie ich.“


Das hattest du dir sogar ausgedruckt und an die Tür gehängt. Mit gelbem Maler-Kreppband, da du kein Tesafilm hattest oder es im Chaos deiner Wohnung, deines Lebens nicht gefunden hast. Nicht gleich gefunden hast und aufgeben hast. Dann wieder abgehängt. Wegen deiner Tochter. Ist ja schließlich ihre Mutter, die Frau, die versucht, dich zu vernichten.


„Bringt das dich auch wirklich nicht in irgendwelche Schwulitäten?“, sagt Rudi am Telefon.


Schwulitäten?? Das wäre es jetzt. Ein schöner, entspannender Arschfick. Sich von fünf BBCs nehmen lassen. Sich fallen lassen. Wie Freddie Mercury in I want to break free. Oder selbst in haarige Ärsche eindringen. Näh! Bah! Lieber schon in unhaarige weibliche! Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen.


„Ich versuche mich eigentlich aus Schwulitäten rauszuhalten“, antwortest du.


Lesbitäten wären vielleicht was, was ich in Betracht ziehen würde…aber…

…von Frauen habe ich irgendwie die Schnauze voll. Woran das wohl liegt?!


„Das ist Sonntag früh, ne?!“


Die Kollegin hat nur Früh-Dienste. Aber selbst das ist ihm seit der Trennung sowas von egal.

„Ja.“

„Ne, ok, mache ich. Kein Problem.“

In fact, es würde mich in Schwulitäten bringen, wenn ich den Sonntag nicht machen würde. Dann hätte ich nämlich frei. Wäre frei. Vogelfrei. Die Arbeit ist das, was mir Leben gibt. Und Geld! Was mich am Leben hält. Während ich darauf warte, dass etwas passiert.  Ein Atomkrieg zum Beispiel. Oder eine Revolution. Oder der Tod deiner Ex (nur für den Anwalt: Das bin nicht ich, der das sagt, das ist mein fiktives Alter-Ego! Mein ficktives Alter Ego, hören Sie?! Schließlich ist das ganze Leben nicht viel mehr als eine Fiktion. Frei nach dem Motto: Wir machen uns was vor, manchmal ein ganzes Leben lang, und dann sterben wir.)

Dann meldet sich sogar noch meine Kollegin, übernimmt in ihrer vollkommen undominanten Art das Telefon und sagt: „Danke!“

„Kein Problem. Gute Besserung!“

Nichts zu danken. Ich habe zu danken. Sonst müsste ich die Wand anstarren, meine Frau und Tochter vermissen, mir Sorgen machen, bis es nicht mehr geht und am Ende doch (wieder) an Selbstmord denken. Da sind doch so ein paar Spielgäste die reinste Erholung…

„Mach ma sehn Euro!“

„Gerne!“

„Den kannst du auch gleich machen den Kaffee…lass dir Zeit.“

„Ne, den mach ich natürlich direkt!“

Schließlich bin ich getrennt. Von Frau und Tochter.

Von allen guten und nicht ganz so guten Geistern verlassen…