Am Vormittag ruft ihn sein Chef an. Das
heißt nicht sein Chef, sondern der Leiter der Halle. Der „Hallenleiter“.
Klingt irgendwie komisch. Wie Gauleiter. Aber der ist „nett“. Wirklich. Fast
schon zu nett... Der weiß, was mit dir los ist. Bestimmt. Er will, dass er
Sonntag einspringt. Für eine Kollegin, die krankgeschrieben ist.
„Jetzt
hast du mich gestern gefragt, ob du Sonntag Dienst hast...", sagt er, "...jetzt hast du dir
bestimmt schon was vorgenommen...“
Bestimmt.
Wie zum Beispiel, die Wand anstarren. In Depressionen versinken. Deine Tochter
(und deine Frau) vermissen. Dich erschießen. Ach so, von der Brücke springen
hattest du auch noch vor. Vielleicht nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Zuerst nehme ich eine Überdosis Herztabletten, dann erschieße ich mich (mit welcher
Waffe?), dann springe ich halbtot und mit Loch im Kopf (was für ein Versager du
doch bist, du kannst dich doch nicht mal richtig erschießen!) und im Herzen (was für
ein Versager du doch bist, du kannst das Leben noch nicht mal mehr genießen,
jemand Neues finden) von der Brücke und am Ende (weil du hier natürlich auch
versagst), gibst du auf und kehrst in deine leere Wohnung zurück, starrst die
Wand an, vermisst deine Tochter und deine Frau, machst dir Sorgen, bis du nicht
mehr kannst und versinkst dann in Depressionen (und vielleicht holst du dir
noch zwischendurch einen runter, wenn du Bock hast oder geil bist oder Druck
hast oder beides).
„Ne,
das hat sich erledigt“, sagst du mysteriös.
Alles
hat sich erledigt. Wie bei Raquel in Nosotras
no somos como las demás von Lucía Etxebarria ist der Job auch für dich das
Einzige, was dir noch geblieben ist. Raquel, deine literarische Lieblingsfigur.
Eine Göttin, eine Heldin, eine Kämpferin der modernen Literatur. Die, die nach
der Trennung von dem verheirateten Mann, mit dem sie eine kurze, aber intensive
Affäre hatte, bei ihrem letzten Treffen zu ihm sagt (frei übersetzt): „Ich will wenigstens einen Kompromiss. Ich
will, dass wenn man mich schon verlässt, man wenigstens dafür bezahlt; wenn man
mir schon Leid zufügen muss, wenn man mich belügt und betrügt, wenn man mich
verachtet, dass man wenigstens dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Ich habe die Nase voll
davon, dass die Leute denken, ich sei nichts wert, dass ich nicht das Recht
hätte, irgendwelche Forderungen zu stellen, dass es normal ist, dass man mir
Versprechungen macht, die man nicht halten kann. Ich habe die Nase davon voll,
immer den anderen recht zu geben. Ich werde nicht einfach so aufgeben, ohne mich
zu wehren. Ohne, dass man mich wenigstens angehört hat. Du hattest nicht das
Recht. Du hattest nicht das Recht...“
Und
an einer anderen Stelle weiter unten noch hinzufügt: „Doch, Liebster, ich glaube, dass es dir gut geht, Ganz ehrlich, ich
glaube nicht, dass du so viel geheult hast wie ich.“
Das
hattest du dir sogar ausgedruckt und an die Tür gehängt. Mit gelbem
Maler-Kreppband, da du kein Tesafilm hattest oder es im Chaos deiner Wohnung,
deines Lebens nicht gefunden hast. Nicht gleich gefunden hast und aufgeben
hast. Dann wieder abgehängt. Wegen deiner Tochter. Ist ja schließlich ihre
Mutter, die Frau, die versucht, dich zu vernichten.
„Bringt
das dich auch wirklich nicht in irgendwelche Schwulitäten?“, sagt Rudi am Telefon.
Schwulitäten??
Das wäre es jetzt. Ein schöner, entspannender Arschfick. Sich von fünf BBCs
nehmen lassen. Sich fallen lassen. Wie Freddie Mercury in I want to break free. Oder
selbst in haarige Ärsche eindringen.
Näh! Bah! Lieber schon in unhaarige weibliche! Aber woher nehmen, wenn nicht
stehlen.
„Ich
versuche mich eigentlich aus Schwulitäten rauszuhalten“, antwortest du.
Lesbitäten
wären vielleicht was, was ich in Betracht ziehen würde…aber…
…von
Frauen habe ich irgendwie die Schnauze voll. Woran das wohl liegt?!
„Das
ist Sonntag früh, ne?!“
Die
Kollegin hat nur Früh-Dienste. Aber selbst das ist ihm seit der Trennung sowas
von egal.
„Ja.“
„Ne,
ok, mache ich. Kein Problem.“
In
fact, es würde mich in Schwulitäten bringen,
wenn ich den Sonntag nicht machen würde. Dann hätte ich nämlich frei. Wäre
frei. Vogelfrei. Die Arbeit ist das, was mir Leben gibt. Und Geld! Was mich am
Leben hält. Während ich darauf warte, dass etwas passiert. Ein Atomkrieg zum Beispiel. Oder eine
Revolution. Oder der Tod deiner Ex (nur für den Anwalt: Das bin nicht ich, der
das sagt, das ist mein fiktives Alter-Ego! Mein ficktives Alter Ego, hören Sie?! Schließlich ist das ganze Leben
nicht viel mehr als eine Fiktion. Frei nach dem Motto: Wir machen uns was vor, manchmal ein ganzes Leben lang, und dann sterben wir.)
Dann
meldet sich sogar noch meine Kollegin, übernimmt in ihrer vollkommen
undominanten Art das Telefon und sagt: „Danke!“
„Kein
Problem. Gute Besserung!“
Nichts
zu danken. Ich habe zu danken. Sonst müsste ich die Wand anstarren, meine Frau
und Tochter vermissen, mir Sorgen machen, bis es nicht mehr geht und am Ende
doch (wieder) an Selbstmord denken. Da sind doch so ein paar Spielgäste die
reinste Erholung…
„Mach
ma sehn Euro!“
„Gerne!“
„Den
kannst du auch gleich machen den Kaffee…lass dir Zeit.“
„Ne,
den mach ich natürlich direkt!“
Schließlich
bin ich getrennt. Von Frau und Tochter.
Von
allen guten und nicht ganz so guten Geistern verlassen…