Samstag, 25. November 2017

Anruf seines Vaters














Auf einmal, im Bus, hat er ein komisches Gefühl. Er greift sich an die Hose. Ja, das ist sein Handy: Da ruft ihn jemand an… Er guckt auf das Display und kann seinen Augen kaum glauben. Da steht Bert. Scheiße, was ist das denn? Warum ruft der denn an? Er guckt noch mal auf das Display, um sich ganz sicher zu sein, aber natürlich ist er es. Scheiße. Es klingelt noch ein paar Mal (das heißt, es klingelt ja gar nicht, sondern vibriert nur) und dann ist Ruhe. Tatsache! Das war sein Vater! Was will der denn?! Keine Ahnung, aber da geh ich ganz sicher nicht dran. Vor allen Dingen nicht hier, im Bus. Eigentlich nirgendwo, nicht nach dem letzten Mal. Ich bin doch nicht blöd. 

 

Er guckt noch mal auf das Display seines Telefons und sieht, dass er eine SMS bekommen hat. Öffnet sie ängstlich, aber es ist nur eine Benachrichtigung, dass eine Nachricht für ihn vorliegt. Scheiße. Aber auch die wird er sich nicht anhören: nicht jetzt, nicht später, nie. Obwohl er schon neugierig ist, was sein Vater zu sagen hat. Aber wenn er wirklich was zu sagen hat, etwas Wichtiges, dann wird er sowieso bei ihm auf der Arbeit anrufen. Die Nummer hat er nämlich auch noch von früher. Auf der Arbeit muss er drangehen. Wenn sein Vater mehrmals anruft sowieso. So wie letztens. Das weiß er noch. Wo sein Vater auch erst – genau wie heute an einem Samstag – es bei ihm auf dem Handy probiert hat und dann später bei ihm auf der Arbeit angerufen hat. So als sei es etwas Wichtiges. So als sei etwas passiert. Und er sich die ganze Zeit bekloppt gemacht hat, wunders was passiert sein könnte; ohne natürlich den Mut aufzubringen, ihn anzurufen. Denn auch er weiß die alte Nummer seiner Eltern noch auswendig, wie soll er die jemals vergessen?! Wo er gedacht hat: Vielleicht ist ja echt was passiert, aber sein Vater am Ende nur Scheiß gelabert hat und sogar aufgelegt hat, als er noch was sagen wollte.

Und das heute! Wo er gerade das letzte Buch von Karl Ove Knausgard liest, Spielen, in dem Knausgard gerade erzählt hat, wie er als Kind vor seinem Vater Angst hatte, von ihm bei jeder Gelegenheit an den Ohren gezogen wurde und sogar geschlagen wurde. Wie passend. Obwohl ihn sein Vater nie geschlagen hat. Eher andersherum. Aber ihn psychisch erniedrigt hat. Auch bei jeder Gelegenheit, wie der Vater von Knausgard, dessen Tod ihn erst dazu veranlasst hat, seine sechsbändige autobiografische Reihe mit dem geschichtsträchtigen Namen Min Kamp herauszubringen. Mit echten Namen! Wobei er fast von seinem Onkel verklagt worden wäre, weil  er angeblich Lügen über seinen Vater verbreitet hätte, der als Alkoholiker im Haus seiner Mutter zu Tode gekommen ist.


Und wenn seinem Vater was passiert ist… Dann würde er wohl kaum von seinem Handy aus anrufen. Und da stand Bert und nicht diese unbekannte Nummer, die er nicht gespeichert hat und die zum Handy seiner Mutter gehört. Auch mit einer oder vielleicht sogar zwei Dreien am Ende. Oder ruft etwa „sie“ vom Handy ihres Mannes an, weil ihm was passiert ist? Ach, ist ja auch egal. Ich habe nicht umsonst den Kontakt abgebrochen. Das muss ich mir nicht mehr antun. Und wenn es wirklich, wirklich wichtig sein sollte, dann melden die sich eh noch mal…

Tun sie aber nicht, und auch auf der Arbeit hat keiner angerufen, wie er eine halbe Stunde später erleichtert, aber auch ein bisschen enttäuscht feststellt. Das ist bestimmt wieder einer dieser Test-Anrufe, um zu sehen, ob und wie schnell er zurückruft, aber für solche Spielchen bin ich nicht mehr zu haben. Weiß Gott nicht mehr. Denn wenn ich eins aus meiner Trennung/Scheidung gemerkt habe, ist es das: Dass diese Spielchen nicht mehr ziehen. Und wenn er gestorben ist? Das hatten wir doch schon… Und wenn sie gestorben ist? Was soll ich dann tun?! Daran kann ich eh nichts ändern. Er stellt sich vor, wie er auf die Beerdigung geht, mit seinen alten schwarzen Sachen, die Haare fettig, angetrunken. Und die denken, dass das so ist, weil er trauert… Was hat er diese Tage noch mal gelesen? Dass die dunkle Seite des Wassermanns sehr kalt und gefährlich ist. El lado oscuro de Acuario es muy frío y peligroso. Das kann der Wassermann! Sich rausziehen. Menschen ignorieren. Kalt und distanziert sein. Das ist seine einzige Waffe. Nicht die Gewalt, obwohl es die auch gibt, sondern die absolute Kälte. Mittlerweile glaube ich sogar, dass ich das besser kann als Nadine. Schweigen, sie einfach nicht mehr beachten, sie total ignorieren. Und die denkt immer noch, die wär so toll darin… Soll sie doch… Vielleicht wär das ja gar nicht so schlecht, wenn… Vielleicht wär das ja Schicksal… Und gegen das Schicksal kann man eh nichts machen… Aber wahrscheinlich ist es eh nur wieder Scheiß. Die Spielchen seines Vaters. Ist er dazu nicht schon ein bisschen zu alt?! Aber wer einmal spielt, der hört nie damit auf. Und wer einmal die Spielchen durchschaut hat, wer einmal die Wahrheit gesehen hat, der fällt nie mehr darauf rein. Das solltet ihr auch wissen. Und das hat deine „Mutter“ auch gemerkt, als sie dich das letzte Mal gesehen hat, an deinem Geburtstag. Dass der Ofen aus ist. Und die Distanz eines Wassermanns ist schier endlos… Wie war das noch mal: You can’t teach an old dog new tricks… Und ihr werdet euch nie ändern. Aber ihr werdet irgendwann auch spüren, dass euch was fehlt. Und nicht nur mir. Und Nadine wird das auch spüren. Alles kommt zurück. Das Schicksal ist ein mieser Wichser, der dreckigste Hurenbock, den es gibt… Ihr habt so entschieden, warum ruft ihr mich dann jetzt noch an. Ihr wusstet, was ihr macht. Also, wie Nadine sich nicht mehr melden, nie wieder, und gut ist’s. Da komm ich besser drüber als über diese Scheiße. Vielleicht ist Nadines absoluter Kontaktabbruch sogar besser... „Sie wird sich auch noch umgucken“, hat dein eigener Vater, der jetzt wieder den Kontakt sucht, damals gesagt. Und Recht hatte er! Wenn es was Schlimmes ist, wirst du eh davon erfahren… Noch früh genug… Du bist doch nicht denen ihr Doof, den sie behandeln können, wie sie wollen. Wenn sie Spielchen wollen, können sie haben… Wie deine Schwester: Die meldet sich auch nicht mehr… Mir doch egal. Man muss auch loslassen können, im Leben! Die, die bleiben sollen, bleiben! Ihr müsst bedenken: Für Spielchen ist in diesem Leben eigentlich gar keine Zeit, dafür ist dieses Leben eigentlich viel zu kurz… Der Zug ist abgefahren: Entweder ihr bringt mir etwas wirklich Wichtiges oder ihr könnt bleiben, wo der Pfeffer, wie ihr das früher immer so prägnant gesagt habt. Jeder trifft in seinem Leben Entscheidungen, die wohlüberlegt sein sollten… Denn wie hat das schon Gorbatschow gesagt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben…“ Und am Ende bestraft es uns alle. Das hat er natürlich nicht gesagt…vielleicht nur gedacht…

Und wisst ihr was?! Heute Abend gehe ich raus und ficke die Welt. In den Arsch. Und zwar ohne Kondom!!!!





Später, ein paar Tage später, bringt er doch den Mut auf, sich die Nachricht anzuhören, aber obwohl er verschiedene Hintergrundgeräusche wahrnimmt, und auch glaubt, die Stimme seiner Mutter im Hintergrund hören zu können (also war es sein Vater am Telefon), hat keiner eine Nachricht hinterlassen. Nicht dass ich wüsste zumindest. Aber warum dann erst das Band laufen lassen? Oder ist das etwa die Nachricht? Spielchen... Aber für Spielchen, liebe Eltern, ist mir meine Zeit auf diesem kalten, herzlosen Planeten viel zu kurz, versteht ihr...? Und sie wieder im Hintergrund, am Orchestrieren, wie immer. Sie würde nie selbst anrufen, er ist ihr ausführendes Organ. Immer, schon immer gewesen. Auch als sie ihn, obwohl er nach der Trennung noch nicht in die neue Wohnung einziehen konnte, zu Hause, in seinem alten Zuhause rausgeworfen haben. Obwohl sie wussten, dass er nirgendswo hinkonnte. Außer ins Hotel oder in die Jugendherberge, wo er am Ende auch gelandet ist... Wenn du ganz unten bist, dann noch nachtreten... Wenn du ganz unten bist, siehst du, wer deine Freunde sind und wer nicht. Wer Familie ist...



Nach einer Weile hört sich die Nachricht noch einmal an, um sicher zu sein. Aber es ist, als würde er einem Wurmloch zuhören, in ein Wurmloch hineinhören. Ein Wurmloch in die Vergangenheit, die dunkle Vergangenheit, das aber auf seiner Seite verschlossen ist, vielleicht sogar für immer...