Zwei
Wesen kämpfen in meiner Brust: Eines, das Veränderung, radikale Veränderung
haben will, haben muss und eines, das unbeirrt, bis zum bitteren Ende an meinem
alten Leben, an dem, was ich habe, festhalten will. Und beide treiben sie mich fast
in den Wahnsinn. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Illusion und Desillusion
lösen sich jeden Tag ab, manchmal im Minutentakt.
***
An der Haltestelle in
Meckenheim steht die alte Oma von letztens. Die so ein bisschen tüttelig ist,
ein bisschen senil, aber die immer noch jede Woche den Bus nach Godesberg
nimmt. Nehmen muss?
Kaum hast du die Sachen auf
die braune Eisenbank gelegt, da spricht sie dich auch schon an. Mit zittriger,
leicht stotternder Stimme:
„Darf ich Sie fragen, was
ist denn ihr Fahrtziel?“, sagt sie.
„Godesberg.“
Sie guckt dich leicht
fragend an.
„Mit der 855“, erklärst du,
etwas lauter.
Nach einer Pause sagt sie:
„Ich fahre auch nach Godesberg. Nach Rüngsdorf. Rüngsdorf…“
Den Rest verstehst du nicht
richtig. Irgendein Platz. Sonnenplatz? Näh, so kann der doch nicht heißen. Oder
doch?
Du sagst nichts.
„Ich hab mich hier
hingestellt, um die paar Sonnenstrahlen zu erwischen“, sagt sie, mit halb
geschlossenen Augen, halb verdeckt an der Seite des Wartestellenhäuschens
stehend.
„Stimmt. Da haben Sie
recht…eigentlich müsste ich auch ein bisschen Sonne tanken…“, er macht einen
Schritt nach vorne, aus der Dunkelheit des Wartehäuschens aus Stein mit dem
dunkelbraunen Holzdach in die Sonne, spürt schon die ersten Sonnenstrahlen in
seinem Gesicht, „…aber ich will Ihnen ja nicht die Sonne wegnehmen…“
Sie sagt nichts, hat die
Augen geschlossen, das Gesicht in die Sonne gehalten.
„Stimmt! Muss man ausnutzen,
die wenigen Sonnenstrahlen…“
Du gehst wieder ein paar
Schritte nach vorne, trittst unter dem Dach des Wartehäuschens hervor, ins
Freie. An die freie Luft. Erst jetzt merkst du, dass die Sonne tatsächlich
scheint. Du hattest schon fast ihre Existenz vergessen, bei den letzten Tagen
voller Regen und verschiedener Schattierungen von Grau. Sogar ziemlich stark
für Mitte November. Die Strahlen wärmen dein Gesicht förmlich auf, aber lange
hältst du es in der Sonne nicht aus, du Kellerkind. Trittst wieder zurück, in
die Dunkelheit im Inneren des Wartehäuschens.
„Ich habe mich hier
hingestellt, wo es nicht so zieht…“, sagt die alte Dame, während ein großer,
dünner Schwarzer mit Mütze an uns vorbeihumpelt.
„Stimmt…“, sagst du. Und
denkst es auch. Früher hättest du das nicht gemacht. Du bist da offener
geworden. Wenn du so weitermachst, bist du in zwei Millionen Jahren komplett
extrovertiert – immer vorraugesetzt, dass du dann noch lebst.
Die arme alte Dame, die nach
Godesberg fährt. Was sie da wohl will? Alte Erinnerungen auffrischen? Ans Grab
ihres gestorbenen Mannes gehen (damals hat noch der Tod die Leute geschieden…)?
Weil sie nach Mackenheim ziehen musste, weil die Mieten in Bonn zu hoch für
alte Leute sind?
Sie ist einsam und deswegen
redet sie mit allen, spricht einfach so wildfremde auch nicht mehr ganz so
junge Männer an. Du bist einsam, deswegen redest du mit dir selbst, sprichst
niemanden an, redest nur mit alten Damen (aber nur wenn angesprochen).
Und was ist schon dabei?!
Wenn sie mit dir redet, wenn du mit ihr redest?! Du bist auch einsam, deswegen
weißt du, wie sie sich fühlt. Wir sind alle einsam, in diesem Land der sozialen
Kälte, in dem jedes Lachen schon seit frühester Jugend verarschend,
schadenfroh, hämisch ist und man immer, wiederhole, IMMER über andere lacht und
nie mit ihnen. Immer über und nie mit anderen redet.
Was ist schon einzuwenden
gegen ein bisschen Wärme…?!
Letztens hast du gelesen,
dass wir laut einer bekannten Astrologin (ja, ich weiß…) kurz vor dem Wassermannzeitalter stehen oder es sogar schon begonnen hat, einem
Zeitalter großer Umwälzungen, aber auch einer Neuorientierung hin zu mehr Gerechtigkeit
und Gleichheit, die (angeblich) das Sternzeichen des Wassermanns ausmacht.
Du kannst nur hoffen, dass das neue Zeitalter bald anbricht, diese Welt und
besonders dieses Land hat es, weiß Gott, bitternötig, denkst du und guckst zu
der alten Frau rüber, die die Augen immer noch geschlossenen und ihr Gesicht in
die Sonne hält. Wir sind Sonnenanbeter, zwei Sonnenanbeter, willst du zu ihr
sagen, lässt es dann aber doch.
Diese Welt, dieses Land, in
dem wir alle ein wenig einsam, ein wenig verwirrt, ein wenig tüttelig, ein
wenig bekloppt sind