Nachts im Bett, kurz vor dem
Schlafengehen, denkt er an den Wellensittich, den er damals als Kind hatte. Der hieß Otto (ich weiß, ich weiß…) und war blau. Königsblau, mit
einem weißen Köpfchen. Ein eleganter, stolzer, schöner Vogel.
Und irgendwann war er weg.
Keine Ahnung, wie alt er damals war. Vierzehn? Dreizehn? Ich weiß es nicht
mehr. Auf jeden Fall hatte seine Mutter vergessen, ein Fenster zuzumachen, als
sie ihn für seinem täglichen Ausflug durch den Wintergarten aus seinem Käfig ließ.
Und Otto nutzte seine Chance auf ein Leben in Freiheit.
Tiere denken da ja nicht groß drüber nach. Nicht wie Menschen. Nicht wie du.
Otto war weg und er hatte
nachts geheult. Jede Nacht. War untröstlich. Wie schön es wäre, ich könnte
sagen, das war, als er erst zwölf oder dreizehn war, aber ich bin mir da nicht
sicher. Nachts im Bett heulte er sich die Augen aus und betete. Das ist wohl das, was
die in den Büchern als "Vulnerabilität" beschreiben. Vulnerabilität in einem
frühen Stadion. In diesen ganzen Büchern über Depressionen.
Jede Nacht betete er. Immer
wieder. Immer wieder das Vaterunser, das einzige Gebet, das er kannte. Kennt.
Bis heute. Betete dafür, dass Otto zurückkam. Durch irgendeinen Zufall. Betete, dass er
einfach wieder von draußen hineinfliegen würde, zurück in seinen Käfig. Aber
schon damals wusste er, obwohl er noch jung war, dass das nicht sehr
wahrscheinlich war. Also heulte er noch mehr. Heulte und betete. Er war schon
damals nicht sehr gut auf das Leben auf diesem Planeten vorbereitet. Wie soll
man sich denn auch darauf vorbereiten?! Er wusste nur, dass sein Vogel, sein
geliebtes Vögelchen, sein pájarito weg
war. Für immer weg war. Er schluchzte und betete, während seine Mutter beim
Schuster unten in der Straße einen Zettel ins Schaufenster hängte. Tat ihr der
Abschied von Otto etwa auch weh?! Tat er ihr leid?! Ein Zettel, dass uns ein
Wellensittich entflogen war. Mit Telefonnummer. Ein blauer Wellensittich. Namens
Otto. Oder schrieb sie das da nicht rein...?
Und dann passierte das
Wunder! Das Wunder von Bonn. Ein kleines, alltägliches Wunder. Kein großes.
Denn es ging ja damals noch nicht um Leben und Tod. Dann passierte das
Unerwartete. Denn da rief tatsächlich jemand an. Ein Nachbar. Der ein paar
Häuser weiter unten wohnte. Ein alter Mann, glaub ich. Der auch einen Wellensittich
hatte. Ein Weibchen. Ein Weibchen? Keine Ahnung. Oder er hatte sogar mehrere.
Ich weiß es nicht mehr. Und Otto, der Schlawiner, war gar nicht so weit
gekommen, auf seiner Flucht vor Käfig und Gefangenschaft. Auf seiner Flucht vor
der Einsamkeit eines Junggesellen (heute weiß ich natürlich, dass man die nicht
allein halten sollte, Wellensittiche, weil die sonst einsam werden...und verhaltensgestört...). Nein, Otto war geradewegs ein paar Fenster weiter schon wieder reingeflogen.
Da, wo die anderen Wellensittiche waren. Vielleicht hatte er ja sogar die fremde Sittichdame schon mal gehört. So weit
war das gar nicht. Keine zwanzig Meter Luftlinie. Hatte sich vielleicht mit ihr schon
„unterhalten“, seine Flucht geplant. Auf jeden Fall war er da gelandet und der
Mann hatte ihn zu sich genommen. Vielleicht hatte er ja sogar Spaß auf seiner
Flucht. Mehr Spaß als alleine in dem immer leicht düsteren Wintergarten im Haus meiner
Eltern. Vergnügte sich mit der Sittichin. Und als der Mann das dann las, beim
Schuster im Schaufenster, musste er nur noch eins und eins zusammenzählen und ich hatte meinen
Wellensittich wieder. Meinen Otto. Musste nicht mehr nachts heulen und nur noch
einmal abends vor dem Schlafengehen beten. Wie vorher. Und war wieder glücklich
Otto war doch auch
zurückgekommen. Und Conchita auch, am Ende.
Als sie an meine Tür im Wohnheim klopfte und plötzlich da stand, ganz allein. Warum
konnte dann nicht
Warum kann dann nicht
Wenn du schon mal Glück
gehabt hast
Schon zweimal Glück gehabt
hast
Warum kann dann nicht
wieder ein Wunder geschehen.
Ein kleines, alltägliches Wunder. Mehr will ich in meinem kleinen, alltäglichen
Leben ja gar nicht
Aber es braucht schon ein
Wunder, denkt er. An dem Tag, an dem Hamburg von den Bayern brutalst vermöbelt
wurde, woran man sieht, dass Wunder eher selten passieren
„Bitte Gott, bitte, gib mir
Nadine zurück!“, sagt er halblaut, bevor er sich hinlegt. „Bitte.“
„Bitte Gott, bitte!“
„Otto ist doch auch
zurückgekommen. Und Conchita.“
„Bitte…“
Dann hat er plötzlich eine neue
Idee: Vielleicht kommt sie ja zurück, wenn er genug gelitten hat. Lange genug
gelitten hat, um die Fehler in seiner Ehe ausgeglichen zu haben. Den Kosmos
wieder ins Gleichgewicht gebracht hat. Vielleicht