Morgens
wache ich, ich!, auf. María ist schon
wach. Sie will trainieren gehen. Früh, weil heute Weiberfastnacht ist und das
Fitnessstudio nicht ewig aufhat. Also ist sie schon wach. Ich auch, ich tue
aber so, als wär ich es nicht, während sie durch die Wohnung geistert. Ich
rieche etwas Leckeres, aus der Küche. Riecht wie…etwas Gebratenes. Ei…oder
Wurst…oder so…
Ich
gebe mich als wach zu verstehen. Sie sitzt auf dem Stuhl neben dem Fernseher.
Der aus ist. Ich mache ihn an. Die reden über den Orkan, der heute über
Deutschland zieht.
„Bei
Nicholas Sparks stehen Stürme immer für Veränderungen. Immer, wenn es stürmt,
passiert was. Irgendwas. Ein Unglück, die Erlösung, was weiß ich…“, hast du vor
Tagen zu María gesagt. Weil sie ja Deutsch-Leistungskurs hat. Oder nicht nur
deswegen…?
„Boah,
hoffentlich weht der Sturm Karneval weg. Weiberfastnacht… Hoffentlich weht der
alles weg…“, sind meine ersten Worte an diesem Worte an diesem Tag. Meine ersten
Worte. Am Anfang war das Wort…
Hoffentlich,
echt. Und deine Mutter gleich mit. Wenn sie wieder als Insekt verkleidet ist.
Wie im Trennungsjahr. Wo sie dich belogen hat. Oder noch schlimmer: Wo sie
geschwiegen hat. Nicht gesagt, dass sie fröhlich Karneval feiert, während sie
zu Hause dich anschweigt. Dir das silent
treatment angedeihen lässt. So tut als ob sie böse wär. Und dann auf dem
Foto als fröhliche Scheißhausfliege verkleidet ist. Richtig aufwendig. Während
du auf der Arbeit die „Ham-Sie-mal-10-Euro-Kunden“ bedienst. Unahnend. Nichts
ahnend.
Etwa 40% aller Bürger und Bürgerinnen
hätten einen Anspruch auf eine Sozialwohnung…
Geil,
ich bin grade erst fünf Minuten wach. Habe grade den Scheiß-Fernseher angemacht.
Und dann sagt diese Tante so was. Unglaublich! Was für ein Land! Ein Land in
dem 40%.der.Bürger.und.Bürgerinnen.einen.Anspruch.auf.eine.Sozial-Wohnung.hätten…
Gut, dass es uns doch (noch) ach so gut geht…
Überraschende Zahl…,
kommentiert die Moderatorin, …40% der
Bevölkerung haben einen Anspruch auf eine Sozialwohnung, die es nicht gibt…
„Was
hast du gemacht? In der Küche?“
„Porridge“,
sagt sie fröhlich, fast sogar ein bisschen belustigt.
„Scheiße.
Das riecht viel besser als Porridge.“
Später,
als sie weg ist, trainieren, und ich aus dem Bad komme, sehe ich die
zusammengelegten Geschirrhandtücher neben dem Wäscheberg. Ich habe die Wäsche
kaum reingeholt und schon hat sie begonnen, sie zusammenzulegen. Unglaublich!
Sie ist so ein gutes Kind. Und ich… Noch bevor sie zum Fitnessstudio gegangen
ist. Und ich…und ich denke: Du hast sie nicht verdient. Du hast nichts von
alledem verdient. Und das, obwohl du fast alles verloren hast. Selbst das hast
du nicht verdient. Sie ist so ein gutes Kind. Sie hat das nicht verdient. Einen
Vater wie dich. Eine Mutter wie deine Ex-Frau. Deine Frau. Sie hat keine Eltern
verdient, die ihr nichts geben können. Keine Eltern, die getrennt sind.
Manchmal denkst du das.
Aber
manchmal denkst du auch: Du gibst ihr auch etwas. Trotz allem. Trotz allem hast
du ihr auch etwas zu geben. Du hilfst ihr ja mit der Schule. Und obwohl sie
schon fast 18 ist, nimmt sie deine Hilfe noch an. Vielleicht kannst du ihr auch
etwas geben. Etwas, dass ihr ein reicher Vater, der den ganzen Tag nicht da
ist, nicht geben kann. Also kriegt sie etwas nicht, kriegt aber dafür was
anderes. Was auch wichtig ist. Genauso wichtig? Du willst es nicht glauben…
Kannst es nicht glauben…
Aber
du liebst sie. Es war richtig, in Deutschland zu bleiben. Trotz allem. Wenn
auch nur für sie. Nicht mehr für deine Frau. Deine Ex-Frau
Familie
ist wichtig
Besonders
in unserer Gesellschaft
Was
haben wir ohne Familie
Außerdem
hast du ja da diese wilde Theorie. Nach der, wenn eine Generation verkorkst
ist, so richtig verkorkst ist, so wie du verkorkst ist, dass dann die nächste
Generation besser wird. Dass sich also die vorherige Generation, deine also,
sozusagen unbewusst aufopfert, damit es der nächsten besser geht. Aber das ist
nur eine Theorie. Nur so eine Theorie
Vielleicht
wird ja etwas Besseres aus diesem Scheiß. Diesem ganzen Scheiß. Du verlierst
eine Frau, aber gewinnst eine Tochter.
Wie
sie letztens das mit Freud gesagt hat. Das hat dich umgehauen. Weil du Freud
liebst. Und hasst. Weil er ein visionärer Langweiler ist. Das mit dem Sohn, der
sich in die Mutter verliebt. Und der Tochter, die sich in den Vater verliebt. Sie
meinte, ab einem bestimmten Alter, du meintest immer. Prinzipiell. Generell.
Immer.
„Nein.
Das ist nur eine Phase. So eine bestimmte Phase…“
„Ja?“
Du
hast mich in einer komischen Phase meines Lebens kennengelernt…
Sie
wird erwachsen langsam. Auf die harte Tour. Härter als du. Und trotzdem ist sie
so gut. S ein guter Mensch. Ich hoffe, dass sie das irgendwann liest. Und
heult. Sich einen ganzen Abend die Augen ausheult, so wie ich, wenn ich Exogenesis III von Muse gucke. Immer wieder. Aber
ich hoffe auch, dass sie das nicht zu schnell liest. Hoffentlich. Erst in 10,
20 Jahren. Nicht jetzt. Auf keinen Fall jetzt. Weil ich nicht weiß, ob sie das
verarbeiten kann, das schon verarbeiten kann. Ich hätte das auch nicht gekonnt.
Aber diese Woche war was Besonderes. Du hast zu ihr gefunden. Irgendwie. Hast
sie entdeckt. Und was du sahst war gut. Richtig gut. Aber du würdest ihr das
nie direkt sagen. Du könntest ihr das nie direkt sagen. Du liebst ihre Mutter
immer noch. Sie ist ein richtig guter Mensch. Ein gutes Kind.
„Du
bist fast schon zu gut. Du musst mehr von deiner Mutter in deinen Charakter
aufnehmen. Du musst mehr wie deine Mutter.“
Obwohl
die ja auch gut ist.
Aber
jetzt musst du die Curry-Paste und die Zahnbürste für sie holen. Sonst ist es
zu spät. Heute ist ja Karneval. Weiberfastnacht.
Und
das erste Mal seit Jahren kann ich sagen: Ich will noch nicht sterben.
Wahrscheinlich sterbe ich genau deshalb genau jetzt...
Ich
will noch nicht gehen. Das erste Mal seit Jahren. Vielleicht schon seit vor der
Trennung.
Als
ich rausgehe, um die Curry-Paste zu kaufen, die sie will – sie will heute etwas
ganz Besonderes kochen! –, denke ich: Heute gehe ich auch raus. Trotz Sturm.
Heute ist Weiberfastnacht. Scheiß doch drauf. Ich frage sie, ob sie irgendwas
hat, Schminke oder so, und dann gehe ich raus. Trinke mir Mut an. Trinke all
die Flasche Alkohol, die sich seit eineinhalb Jahren auf dem Tisch angesammelt
haben (zweimal Wein, einmal Sekt) und gehe raus. Scheiß drauf. Heut hab ich
Bock! Nur weil ich geschieden bin, muss ich ja nicht wie ein Mönch leben. Sie
hat mir das zurückgegeben. Diese Woche.
Die Lust aufs Leben. Danke, María! Dankeschön!
Danke,
dass du mir das zurückgegeben hast.
Ohne
es zu wissen
Ganz
ohne es zu wissen
Danke,
obwohl ich dir nicht Danke sagen kann. Nicht im Moment. Es nicht in Worte
fassen kann, was du mir zurückgegeben hast