“Sometimes memory can be real bitch.”
Lourd Ernest H. de Veyra, The Best of This Is A Crazy Planets
In der Bahn von Rheinbach höre
ich auf einmal eine spanische Stimme. Zuerst denke ich, das ist eine Spanierin,
aber dann muss ich feststellen, dass das definitiv eine südamerikanische Stimme
ist. Aus Kolumbien oder so. Sie redet ziemlich laut und ich verstehe alles.
Obwohl ich nur mit einem halben Ohr hinhöre und eh nur die eine Hälfte des
Gesprächs mitbekomme. Aber es zieht mich immer mehr in den Bann, je weiter wir
fahren.
Und dann merke ich es: Scheiße! Die Stimme kennst du! Von früher… Das
ist die Stimme von der…ja, eindeutig: Das ist die Glori. Die Gloria. Von
früher. Nadines Freundin. Ganz eindeutig. Wie sie die Wörter dehnt, in einer
Mischung aus Charme, dem fast schon verlorenen Charme früherer Tage, in denen
diese Stimme verführerisch war und Müdigkeit, vielleicht sogar Weltmüdigkeit: ¡Vaaaale, vaaaaale! Vaaaale, vaaaaale… Das
ist die! Hundert Prozent!
Die mochtest du eigentlich
immer ganz gerne, obwohl sie dich auch nicht leben ließ… Scheiße! Und die sitzt
nur ein paar Sitze weiter. Okay, die kann dich nicht sehen, klar, weil da noch
mindestens eine Reihe dazwischen ist, wenn, dann sieht sie nur deinen Kopf…und
an dem erkennt sie dich nicht…nie…so gut wart ihr auch nicht befreundet…
Außerdem redet sie ganz normal weiter… Wenn sie dich erkannt hätte, wär das
bestimmt nicht der Fall. Dann würde sie bestimmt leiser oder sich irgendwie
anders verhalten. The truth wants out! Und
plötzlich, wie du ihr so lauschst, als würdest du deiner eigenen Vergangenheit
lauschen, kommt dir noch ein anderer Gedanke: Was wäre denn…nicht dass die
gerade mit…mit Nadine redet… Das ist – zumindest theoretisch – möglich. Das ist
wahrlich ein komischer Gedanke – genau an der Grenze zwischen unangenehm und irgendwie befriedigend. Und dir fällt noch
ein Grund ein, warum das Glori sein muss: Der Mann von der, dieser Italiener,
die Sizilianer, der hat doch jetzt diese Eisdiele in Rheinbach. Oder hat er das
Restaurant daneben? Keine Ahnung. Irgendwie hattest du bei dem immer das
Gefühl, dass der irgendwas mit der Mafia zu tun hatte. Das waren noch Zeiten:
Als du auf dieser Party in Endenich warst, unbedingt „leben“ wolltest, das
Leben unbedingt erzwingen wolltest, die Welt in den Arsch ficken wolltest…und
nicht nur die…
Nein, auch diese Schwester
von der Glori, wie hieß die noch mal…die hatte Titten…das waren dicke Dinger.
Dick, braun und rund. Aber wie! Fragen Sie nicht nach Sonnenschein! Einmal…an
Karneval, da hatte die so ein Kostüm an, so ein enges, wie so ein
Schneewittchen, ein Schneewittchen mit zwei Tittchen. Da waren wir bei denen
zu Hause. Bei der Glori und ihrem Mann. Oben auf dem Brüser Berg. Aber das war irgendwie
düster. Wie ein Mausoleum. Da hingen zwar überall Herzen rum und Bilder und der
ganze Scheiß…das volle Programm, aber es war dunkel…düster…dieses Wohnzimmer.
Und ich sollte mit meinem Instinkt Recht behalten: Ein paar Monate später waren
die getrennt. Er hatte einen Neue, eine Italienerin, die hatte schon ein Baby
von ihm…nein, die war schon schwanger von ihm…und einmal haben wir die im Lidl
gesehen, in Finkenhof, gegenüber von der Basketshalle. Und haben noch nicht mal
hallo gesagt. Die sah besser aus, die Italiener, aber das hätte ich der Glori
nie so gesagt, zumindest nicht ins Gesicht… aber die Zeit an die ich denke, die
Party in Endenich, wo ich dieses Tattoo bei dem am Hals gesehen habe, dieser
Stern und die halbe Nacht danach gesucht habe, zu welcher Mafia das gehört (boah, war mein Leben damals interessant!),
während Nadine neben mir schlief, noch neben mir schlief, auf dieser Party habe
ich dieser Barbie-Puppe, die die da hatten, unter den Rock geguckt und die
Schwester von Glori hat gelacht, der Typ von der Mafia aber nicht, der fand das
wahrscheinlich nur albern, keine Ahnung…
Auf jeden Fall haben die
sich am Ende getrennt (zwei zuckersüße Kinder haben nicht ausgereicht, um diese
Ehe zwischen einem der doch so katholischen Italienern und einer mindestens
genauso gläubigen Südamerikanerin aufrecht zu erhalten – was ist das bloß für
eine Welt, was ist das bloß für eine verfluchte Welt, in der wir „leben“) ich
habe der Glori sogar geholfen samstags die Sachen aus seiner Wohnung, aus ihrem
gemeinsamen Haus in Witterschlick auszuräumen…sehen Sie, daher kommt mein
Karma. Und der Mafiosi hat nur zugeguckt. Der stand da mit seiner Neuen, dieser
hochgewachsenen, schönen, breithüftigen Italienerin, die so anders als Glori
war, mit leicht angesäuertem Gesicht, aber was sollte er schon groß machen, mich
erschießen, mich erschießen lassen, mich schlagen…
…und ich habe mich seltsam
groß gefühlt, unverletzbar, ich und Nadine, Nadine und ich, wir waren die
letzten, die noch nicht geschieden waren…
…selbst die Glori hatte es
erwischt, selbst die und diesen gut aussehenden Italiener, selbst das hatte
nicht gehalten, aber das mit dir und Nadine schon…
Was dachte ich eigentlich
damals: Dass ich einfach so leben könnte? Hier in Deutschland? Hier in Bonn? Dass
die mich einfach so leben lassen würden…? Dass ich echt leben können würde?
Dass die alle Bock hatten, mich zu ficken, nur mich? War ich echt so naiv…
Was für eine Fickscheiße…
Und jetzt sitzt die hier,
irgendwo hinter mir in der Bahn, und ich habe wirklich eine Scheiß-Angst. Der möchte ich jetzt wirklich nicht
begegnen. Nicht nach all dem Scheiß. Obwohl, oder gerade weil ich die früher
eigentlich mochte…das eine der wenigen, die ich mochte…wirklich mochte…
…ich habe da eigentlich nie
reingepasst, in diesen Freundeskreis, in dieses Leben hier in Deutschland,
dieses schaffe, schaffe, deine eigene Familie, dein eigenes Haus, dein eigenes
Grab…
Das hat mir damals schon
eine Scheiß-Angst gemacht.
Warum hast du es dann so
lange ausgehalten?
Weil es besser war als
nichts, vielleicht…
Aber auf die hast du jetzt überhaupt keinen Bock.
Du überlegst sogar lange hin und her, ob du jetzt schon aufstehst, anderthalb
Haltestellen vor Bonn und extra eine Tür weiter gehst, damit sie dich nicht
sieht. Und dich nachher sogar noch anspricht. Das ,muss echt nicht sein. Das
musst du dir echt nicht geben. Nicht heute. Die Enttäuschung, mit anzusehen,
wie sie so tut, als würde sie dich nicht kennen, obwohl du genau weißt, dass
sie dich gesehen hat. Obwohl sie genau weiß, dass sie dich gesehen hat. Oder
auch ihr – wie bei der ersten „Begegnung der dritten Art“ mit einer von Nadines
Freundinnen alles haarklein erklären zu müssen…
Du weißt nicht, welche von
beiden Möglichkeiten am schlimmsten wäre… Also stehst du lange vor der
Endstation auf und stellst dich in die Tür. Neben diesen Araber. So bist du
wenigstens schnell genug weg, vielleicht sogar noch bevor sie überhaupt
aufgestanden ist… Komischerweise nimmst du nicht eine Tür weiter, sondern dieselbe
Tür, die sie wahrscheinlich auch benutzen wird…
Aber am Ende passiert eh
nichts: Der Zug hält, du drückst die Tür auf, hastest die Rolltreppe runter, bleibst
nicht wie sonst demonstrativ rechts stehen, sprintest fast durch die
Unterführung zum „Bonner Loch“, in die Innenstadt und denkst: Puh!!! Geschafft!!!
Zum Glück…
Und trotzdem macht es dich gleichzeitig
auch ein bisschen traurig, unendlich trauirg, wie das alles gekommen ist…dieses
Scheiß-Leben…
Esa
puta vida…
Esa
puta vida de mierda…
(das hat Nadines Vater
damals auf einen Zettel geschrieben, als er sich umgebracht hat, als er nach langer
Krankheit keine Hoffnung mehr gesehen hat. War es wirklich „puta vida“, was er geschrieben hat? Oder
war es nur: „Das ist keiner Schuld…nur dieses Leben.“ Hat er sich selbst da,
den Tod vor Augen, den Tod in den Adern, noch zurückgenommen…
Was dachtest du eigentlich
damals: Dass du einfach so leben könntest? Dass die dich einfach so leben
lassen würden? Dass du dich einfach so leben lässt…
Und hier geht es zur ersten "Begegnung der dritten Art"